Nach langem Warten ist er da: der Entwurf der Europäischen Kommission zur nachhaltigen unternehmerischen Sorgfaltspflicht – kurz: das europäische Lieferkettengesetz. Nun heißt es, den Entwurf gegen Wirtschaftsverbände zu verteidigen, Schlupflöcher zu schließen und durch die Umsetzung des deutschen Lieferkettengesetzes ein starkes Zeichen nach Brüssel zu senden.
Nationale Gesetze und Richtlinien für nachhaltige Lieferketten, die Unternehmen zur Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutz verpflichten, gibt es bereits viele. 2017 verabschiedete Frankreich das sogenannte Loi de vigilance. Vergangenes Jahr folgte das schwer erkämpfte deutsche Lieferkettengesetz. In der europäischen Debatte gab es für die Gesetze Zuspruch und Lob – aber auch Kritik, dass es sich um nationale Alleingänge handele, die zu Rechtsunsicherheit, Wettbewerbsnachteilen und unüberschaubarer Bürokratie für Unternehmen führten. Dabei steht nicht zuletzt seit der Verabschiedung der Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte der Vereinten Nationen 2011 fest, dass Unternehmen weltweit Menschenrechte achten müssen. Der EU-Entwurf ist somit nicht nur überfällig, er ist auch der einzig richtige Schritt, um Unternehmen zur Achtung von Menschenrechten in ihren Lieferketten zu verpflichten.
Der EU-Entwurf ist nicht nur überfällig, er ist auch der einzig richtige Schritt, um Unternehmen zur Achtung von Menschenrechten in ihren Lieferketten zu verpflichten.
Die Begeisterung war groß, als EU-Kommissar Didier Reynders 2020 einen Aufschlag für ein europäisches Gesetz ankündigte. Das Europäische Parlament zog mit breiter Zustimmung nach. Im Jahr darauf nahmen die EU-Abgeordneten einen Legislativvorschlag zur Rechenschafts- und Sorgfaltspflicht von Unternehmen mit großer Mehrheit an und forderten die EU-Kommission auf, einen entsprechenden Vorschlag vorzulegen. Dann kam es jedoch zum Stillstand. Mehrmals wurde der Gesetzentwurf auf Druck der Wirtschaftslobby verhindert. Ihr Einfluss war bis zuletzt spürbar – sogar dann noch, als eine Allianz aus progressiven Unternehmen sich in einem öffentlichen Statement für ein robustes europäisches Gesetz aussprach.
Nun ist der langersehnte Entwurf aus Brüssel da. Die einen jubeln auf, die anderen bemängeln Schwächen. Feststeht, dass Unternehmen mit diesem Gesetz Nachhaltigkeit und Menschenrechtsschutz nicht mehr als freiwillige Regeln abtun können werden. Wer global wirtschaften will, muss seine globalen Lieferketten nicht nur kennen, sondern auch Verantwortung für sie tragen.
Der Gesetzentwurf schließt sowohl Unternehmen in der EU als auch solche außerhalb der EU, die auf dem EU-Binnenmarkt tätig sind, ein. Unterschieden wird zwischen Unternehmen mit mindestens 500 Mitarbeitenden und einem jährlichen Umsatz von mehr als 150 Millionen Euro sowie Unternehmen mit mindestens 250 Mitarbeitenden und einem jährlichen Umsatz von mehr als 40 Millionen Euro. Letztere müssen ihrer Sorgfaltspflicht nur dann nachkommen, wenn sie die Hälfte ihres Umsatzes in einer Risikobranche erwirtschaften. Dazu zählen beispielsweise der Textilsektor, die Landwirtschaft, der Mineralienabbau sowie die Metallerzeugung. Laut der Europäischen Kommission würde das Gesetz rund 13 000 europäische Unternehmen und 4 000 Unternehmen aus Drittländern betreffen. Kleine und mittlere Unternehmen sind nicht erfasst, obwohl sie einen großen Teil der Wirtschaft in der EU ausmachen. Es wird jedoch erwartet, dass sich der Trend zur Sorgfalt langfristig auch auf sie auswirkt.
Laut der Europäischen Kommission würde das Gesetz rund 13 000 europäische Unternehmen und 4 000 Unternehmen aus Drittländern betreffen.
Im Entwurf für das Lieferkettengesetz ist ein breiter Katalog an Schutzgütern enthalten. Zahlreiche Menschenrechte und Umweltstandards sind abgedeckt. Kinderarbeit, Menschenhandel und Landraub müssen verhindert werden, genauso wie der Handel mit gefährdeten Arten. Der Vorschlag sieht keine Einschränkung durch nationale Gesetze vor Ort vor. Er unterstreicht damit die Bedeutung internationaler Standards, etwa die Festsetzung existenzsichernder Löhne oder das Recht auf Streik. Dies wäre tatsächlich ein lang überfälliger großer Wurf: Unternehmen könnten sich dann nicht mehr auf nationalen Mindestlöhnen ausruhen, die unter dem Existenzminimum liegen, oder auf gewerkschaftsfeindliche Gesetze in den jeweiligen Ländern verweisen.
Viele Unternehmen überwachen ihre Lieferketten bislang vor allem mit Blick auf die Produktqualität. Der Entwurf will nun eine Nachweispflicht für europäische Unternehmen einführen, nach der Lieferketten auch mit Blick auf die Einhaltung des Menschenrechts- und Umweltschutzes geprüft werden müssen. Dazu zählen eine Risikoanalyse sowie das Schaffen von Präventions- und Abhilfemaßnahmen. Die Sorgfaltspflicht gilt für die gesamte Wertschöpfungskette. Das heißt, Unternehmen müssen sowohl die Produktion als auch den Absatz und Vertrieb auf Verstöße überprüfen.
Die Sorgfaltspflicht gilt für die gesamte Wertschöpfungskette. Das heißt, Unternehmen müssen sowohl die Produktion als auch den Absatz und Vertrieb auf Verstöße überprüfen.
Die Durchsetzung soll durch einen Mix aus behördlicher Kontrolle und zivilrechtlicher Haftung garantiert werden. Dazu soll in jedem Mitgliedstaat eine nationale Behörde eingerichtet werden, die die Einhaltung der Standards überwacht und mit einer zentralen europäischen Behörde im Austausch steht. Betroffene sollen auf zivilrechtlichem Weg die Möglichkeit haben, Schadensersatz einzuklagen, wenn der entstandene Schaden durch eine Einhaltung der Präventions- oder Abhilfepflicht vermieden worden wäre.
Besonders am europäischen Entwurf ist, dass die Pflichten der Geschäftsführung explizit aufgeführt werden. Sie muss zukünftig Folgen für die Menschenrechte, das Klima und die Umwelt berücksichtigen. Damit soll verhindert werden, dass Vorstände wirtschaftliche Rentabilität gegen vermeintlich zu hohe Kosten für Menschenrechts- und Klimaschutz ausspielen. Ob das gelingt, bleibt abzuwarten. Denn Wirtschaftsverbände haben bis zuletzt Einfluss genommen. Eine direkte Verknüpfung der Bezahlung von Vorständen mit der Einhaltung von Menschenrechten hat es nicht in den Entwurf geschafft.
Wie so oft ist auch dieses Gesetz stark von der Wirtschaftslobby, aber zu wenig von den Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft geprägt. Während Deutschland und Frankreich den Gewerkschaften in ihren Lieferkettengesetzen eine Mitgestaltung sichern, ist die Einbeziehung der Gewerkschaften bei der Ausgestaltung und Überprüfung der Sorgfaltspflicht im Gesetzentwurf der EU nicht verankert. Das ist problematisch. Denn Ziel muss sein, potenzielle Menschenrechts- und Umweltrechtsverletzungen zu erkennen, bevor sie passieren. Das kann nur mit Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sprich unter Einbeziehung der Betriebsräte und Gewerkschaften sowie der zivilgesellschaftlichen Kräfte passieren.
Wie so oft ist auch dieses Gesetz stark von der Wirtschaftslobby, aber zu wenig von den Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft geprägt.
Die Handschrift der Wirtschaftsverbände zeigt sich auch bei der Ausgestaltung der Sanktionen. Die Möglichkeit, bei Verstößen von der öffentlichen Auftragsvergabe ausgeschlossen zu werden, ist aus dem Gesetzentwurf ebenso verschwunden wie die Option der Aussetzung der Außenwirtschaftsförderung.
Ob der europäische Entwurf zu einer nachhaltigen und gerechteren Globalisierung beitragen kann, wird sich auch daran messen lassen müssen, ob Opfer unternehmerischer Menschenrechtsverletzungen tatsächlich die Chance auf Wiedergutmachung haben. Dazu braucht es neben der Möglichkeit der Klage auch eine sogenannte Beweislastumkehr. Das hieße, dass Unternehmen nachweisen müssten, dass sie nicht unrecht gehandelt haben. Aktuell liegt die Last bei den Geschädigten. Die äthiopische Textilarbeiterin oder der indische Teearbeiter müssen also nachweisen, dass ein Unternehmen seine Pflichten verletzt hat. Globale Gerechtigkeit wird so nicht erreicht. Stattdessen wird das Machtgefälle zwischen dem globalen Süden und Norden verstärkt.
Die EU hat die Chance, ein weltweites Zeichen für Solidarität, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit zu setzen.
Die Debatten und Kämpfe auf dem europäischen Parkett erinnern so manche Beobachterin an das deutsche Lieferkettengesetz. Auch hier wurde groß und breit gestartet. Dann kam nicht nur die Wirtschaftslobby, sondern auch manch konservativer Politiker im Ausarbeitungsprozess hinzu. Trotzdem gelang es – nicht zuletzt dank der Hartnäckigkeit sozialdemokratischer Kräfte sowie großem Rückenwind aus Gewerkschaften und Zivilgesellschaft –, ein ambitioniertes Gesetz zu verabschieden.
In wenigen Monaten tritt das deutsche Gesetz nun in Kraft. Die zuständige Behörde, das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, ist noch im Aufbau – dabei soll sie Anfang 2023 bereits Sorgfaltspflichten prüfen. Während sich Unternehmensverbände auch nach Jahren der Debatte immer noch vorbereiten und der Politik fehlende Informationen vorwerfen, ist den Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft längst bewusst, wo gehandelt werden muss.
Der europäische Entwurf muss Ansporn für Deutschland und die EU-Mitgliedstaaten sein. Die EU hat die Chance, ein weltweites Zeichen für Solidarität, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit zu setzen. Die nächsten Monate heißt es, den Entwurf zu verteidigen und ihn im Sinne der VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte nachzuschärfen. Deutschland kann mit seinem eigenen Lieferkettengesetz als Pionier vorangehen und zeigen, wie die Umsetzung gelingen kann.