Die Fragen stellte Thomas Greven

Die Arbeiten zur Mindestlohnforschung von David Card, die im Oktober 2021 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet wurden, sind schon 30 Jahre alt. Wieso sind sie noch heute von Bedeutung?

Trotz der wichtigen Erkenntnisse von Card und seinem verstorbenen Kollegen Alan Krueger – und obwohl spätere empirische Studien bestätigt haben, dass Lohnerhöhungen keine Arbeitsplätze kosten – hat sich in den vergangenen Jahrzehnten hartnäckig die irrige Theorie behauptet, nach der Lohnkosten auf direktem Wege zu Arbeitsplatzverlusten führen. Diese Theorie wurde vor allem von klassischen Ökonomen, großen Wirtschaftsverbänden wie der American Chamber of Commerce und einigen internationalen Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) propagiert.

Der Nobelpreis ist deshalb bedeutsam, weil er die Forschungsergebnisse von Card und anderen stärker ins Rampenlicht rückt. Mit dem Preis werden sie auf höchster internationaler Ebene gewürdigt und damit wird dem längst widerlegten ökonomischen Narrativ, Lohnsteigerungen seien schlecht für die Arbeitnehmer und für die Wirtschaft, eine klare Absage erteilt.

Zudem fällt der Nobelpreis in eine Zeit entscheidender Weichenstellungen, denn die Regierungen entwickeln gerade Pläne für die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie. Gewerkschaften pochen darauf, dass die weltweite Konjunkturerholung alle Arbeitnehmer einbeziehen muss. Wir wissen, dass Niedriglohnempfänger am schwersten unter dieser Pandemie zu leiden hatten, weil sie über weniger Rücklagen verfügen und ihre Arbeitsplätze weniger sicher sind. Deswegen ist es hilfreich, dass die Mindestlohnforschung gerade jetzt eine so große Aufmerksamkeit bekommt. Das macht es leichter, den Regierungen klarzumachen, dass sie die wirtschaftliche Erholung sehr wohl so gestalten können, dass viele Arbeitsplätze entstehen, mit angemessenen Löhnen und menschenwürdiger Arbeit.

Mit dem Wirtschaftsnobelpreis wird dem längst widerlegten ökonomischen Narrativ, Lohnsteigerungen seien schlecht für die Arbeitnehmer und für die Wirtschaft, eine klare Absage erteilt.

Um sich Mindestlöhnen und Erhöhungen des Mindestlohns zu widersetzen, bemühen manche Ökonomen und Politiker eine einfache Angebot-und-Nachfrage-Logik, die beinahe schon als gesunder Menschenverstand gilt. Beobachten Sie, dass dieser Widerstand unter dem Eindruck der empirischen Forschungen bröckelt?

Es gibt einige Interessengruppen, konservative Ökonomen und internationale Organisationen, die weiterhin die inzwischen strittige Theorie vertreten, Lohnerhöhungen würden Arbeitnehmer ihre Jobs kosten. Da sich die Belege häufen, dass dies nicht der Fall ist, scheint der Diskurs sich allerdings langsam zu verschieben. Cards Forschung beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit den Auswirkungen von Mindestlohnerhöhungen in New Jersey, aber später hat sich durch weitere empirische Untersuchungen zu den Auswirkungen der Einführung von Mindestlöhnen oder von Mindestlohnerhöhungen in anderen US-Bundesstaaten sowie in Indonesien, Brasilien, Südafrika und auch in Deutschland bestätigt, dass Mindestlöhne keine Arbeitsplätze kosten.

Daher erleben wir einen Sinneswandel bei einigen internationalen Organisationen. 2012 zum Beispiel hat die Weltbank ihre Haltung zu Mindestlöhnen offenbar verändert. In ihrem Bericht „Balancing Regulation to Create Jobs“ wurden einige Belege dafür präsentiert, dass höhere Mindestlöhne sich wirtschaftlich positiv auswirken können.

Zudem nehmen die Regierungen der G20-Staaten stärker zur Kenntnis, welche nachteiligen sozialen und ökonomischen Auswirkungen stagnierende Löhne haben und dass sie mit einer Zunahme der Ungleichheit zusammenhängen. Die Gewerkschaften der L20 haben konzertiert massiven Druck auf die Regierungen ausgeübt und deshalb haben sich die G20-Staaten mit Löhnen und den Argumenten für ein lohngetriebenes Wachstum auseinandergesetzt. 2018 haben die Arbeitsminister der G20-Staaten erkannt, dass etwas gegen den sinkenden Anteil der Arbeitseinkommen am Bruttoinlandsprodukt unternommen werden muss.

Ein weitere sehr bedeutsamer Schritt zur Veränderung war 2019 die „Jahrhunderterklärung für die Zukunft der Arbeit“ der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Sie bekräftigt, dass alle Arbeitnehmer einen angemessenen Mindestlohn erhalten müssen. Damit kam die dreigliedrige ILO – mit Vertretern von Regierungen, Arbeitnehmern und Arbeitgebern – überein, dass dieses Ziel fundamental wichtig ist. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Regierungen beim Wort genommen werden.

Aus den Forschungsergebnissen geht nicht hervor, dass eine Erhöhung des Mindestlohns per se beschäftigungsunschädlich ist. Wie kann die Gewerkschaftsbewegung sie trotzdem politisch nutzen?

Die Gewerkschaftsbewegung beruft sich seit langem auf die wissenschaftlichen Befunde von David Card und Kollegen – unter anderem auf empirische Untersuchungen zu den Vorteilen, die Lohnsteigerungen mit sich bringen – und untermauern damit im Rahmen von Kampagnen und Tarifverhandlungen ihre Forderung nach höheren Löhnen. Dass diese Forschungen jetzt durch den Nobelpreis aufgewertet werden, bestätigt und stärkt die Faktenbasis, auf die die Gewerkschaften sich stützen. Zudem ist diese Aufwertung immer hilfreich dabei, den Angriffen von Arbeitgebervertretern zu begegnen, die behaupten, höhere Mindestlöhne würden Arbeitsplätze kosten.

Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Regierungen beim Wort genommen werden.

Welche Bedeutung hat die nobelpreisgekrönte Forschung für die Debatte über existenzsichernde Löhne?

Sie gibt mit Sicherheit Rückenwind für die Forderung der weltweiten Gewerkschaftsbewegung nach existenzsichernden Mindestlöhnen – sei es durch gesetzliche Maßnahmen oder durch Tarifverhandlungen. Das ist vor allem wichtig, um menschenwürdige Lebensverhältnisse für Arbeitnehmer und ihre Familien sicherzustellen, aber man sollte es auch in einem umfassenderen Sinne als Vorteil für das Gemeinwesen und für die Wirtschaft als Ganzes betrachten. Höhere Löhne mindern die Armut, stimulieren den Konsum und damit die Gesamtnachfrage, tragen zur Produktivitätssteigerung bei, sorgen für höhere Steuereinnahmen und fördern das gesamtwirtschaftliche Wachstum. Die Erkenntnisse von David Card und anderen helfen, deutlich zu machen, dass Wohl der Arbeitnehmer und wirtschaftlicher Fortschritt einander nicht ausschließen.

Wie unterstützt der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) darüber hinaus noch den Kampf für Mindestlöhne und existenzsichernde Löhne?

Der IGB macht sich zusammen mit regionalen Gewerkschaftsverbänden – darunter ITUC Asia-Pacific, ITUC Africa, der Europäische Gewerkschaftsbund und die Trade Union Confederation of the Americas – seit Jahren mit einer weltweiten Kampagne für existenzsichernde Mindestlöhne stark. Diese Kampagne soll die uns angeschlossenen Gewerkschaften stärken und unterstützen, wenn sie für die Einführung und Erhöhung gesetzlicher Mindestlöhne und für den Ausbau der Tarifbindung kämpfen.

Die Kampagne gibt Gewerkschaften Hilfestellung in den Bereichen Forschung, Interessenvertretung und Kapazitätsaufbau. Wir wollen den Austausch zwischen den Gewerkschaften fördern, damit sie voneinander lernen können, zum Beispiel von ihren unterschiedlichen Verhandlungsstrategien in Sachen Mindestlohn. Manchen Gewerkschaften helfen wir durch gezielte fachliche Unterstützung beim Aufbau einer gesicherten Faktenbasis für ihre Lohnforderungen (zum Beispiel durch Daten zu den Lebenshaltungskosten). Wir publizieren Forschungsberichte und Kampagnenmaterialien, um die Gewerkschaftsarbeit zu unterstützen. Und natürlich gehört zu dieser Kampagne auch zielgerichtete Lobbyarbeit auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene.

Etliche der beteiligten Gewerkschaften haben deutliche Mindestlohnerhöhungen durchgesetzt, und bei wichtigen regionalen und internationalen Organisationen ist das Thema Lohnsteigerung auf der Agenda nach oben geklettert, z.B. bei der Afrikanischen Union, der EU und der G20.

Können „natürliche Experimente“, wie Card und Krueger sie auf der Basis empirisch vorliegender Unterschiede zwischen verschiedenen Orten durchgeführt haben, auch in anderen Bereichen hilfreich sein?

Die „Experimente“, die Card und Krueger durchgeführt haben, haben dabei geholfen, die klassische Theorie zu widerlegen, dass Lohnsteigerungen immer Jobs kosten. Eine andere Theorie wird jedoch von etlichen konservativen Ökonomen weiterhin propagiert: die Theorie, dass der Arbeitgeberanteil an den Sozialabgaben die Einstellung von Arbeitskräften behindert, weil sie Arbeit teurer mache.

Aus irgendeinem Grund hat diese Theorie in den vergangenen Jahren an Popularität gewonnen, auch weil die Weltbank neulich in einer Publikation für diese Theorie geworben hat. Außerdem macht sich in letzter Zeit eine Reihe von Regierungen daran, den Arbeitgeberanteil auf die Arbeitnehmer abzuwälzen, während der eine oder andere Arbeitgeberverband sogar fordert, beitragsbasierte Sozialversicherungen gleich ganz abzuschaffen.

Der Trend, den Arbeitgeberanteil an den Sozialabgaben zurückzufahren, droht die Finanzierungsgrundlage für eine angemessene soziale Absicherung der Arbeitnehmer ernsthaft zu gefährden.

Der Trend, den Arbeitgeberanteil an den Sozialabgaben zurückzufahren, droht die Finanzierungsgrundlage für eine angemessene soziale Absicherung der Arbeitnehmer ernsthaft zu gefährden – obwohl es für diese Theorie keinerlei empirischen Beleg gibt. Wenn jemand erforschen würde, wie sich die Sozialversicherungsabgaben der Arbeitgeber in der Praxis auswirken, würde das sicher zu interessanten Ergebnissen und vermutlich zu ähnlichen Befunden führen wie die Untersuchungen von Card und Krueger. Ich würde es sehr begrüßen, wenn auf diesem Gebiet weitergeforscht wird.

 

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld