Am 25. Januar 2019 brach der Staudamm im brasilianischen Brumadinho. Eine Schlammlawine begrub binnen weniger Minuten mindestens 270 Menschen unter sich. Die überwiegende Zahl der Getöteten waren Beschäftigte des brasilianischen Multis Vale, der an dieser Stelle eine Eisenerzmine betrieb. Vale ist der größte Bergbaukonzern in Brasilien und betreibt dort zahlreiche Minen mit ähnlichen Dämmen für den Abraum.
Der Schlamm in Brumadinho bestand aus Rückständen der Erzaufbereitung, darunter auch viele giftige Substanzen. Damit wurde nicht nur der naheliegende Fluss Paraopeba vergiftet, sondern auch viele Felder der umliegenden Bauern. Neben der menschlichen Katastrophe war der Staudammbruch also auch eine ökologische.
Diese größte Bergbaukatastrophe in der brasilianischen Geschichte geschah mit Ansage. Denn wenige Monate vorher hatte eine Tochterfirma des deutschen Zertifizierungsunternehmens TÜV Süd den Damm als nicht sicher beanstandet. Es war also bekannt, dass der Damm eine potenzielle Gefahr darstellte. Aber den Managern von Vale war der weiterlaufende Betrieb ihres Unternehmens wichtiger als ein etwaiger Produktionsstopp. Deshalb – so ist zu vermuten – gab es Gespräche über diese Beurteilung mit den Prüfern vor Ort. Die örtlichen Entscheidungsträger des TÜV-Süd-Ablegers attestierten dem Damm in Brumadinho schließlich, dass er sicher sei. So geht es zumindest aus Dokumenten hervor, die nunmehr Gegenstand von gerichtlichen Bewertungen werden.
Die größte Bergbaukatastrophe in der brasilianischen Geschichte geschah mit Ansage.
Hätte es ein negatives Testat gegeben, hätte Vale zwingend Sicherheitsmaßnahmen treffen müssen. Möglicherweise wäre neben der Verstärkung des Dammes auch das Verwaltungsgebäude verlegt worden. Dieses Gebäude lag genau unterhalb des Dammes und wurde als Erstes weggespült. In ihm kamen die meisten der Opfer tragisch zu Tode.
Ein brasilianisches Gericht hat den Konzern Vale mittlerweile für schuldig befunden und ihn zu einer Strafzahlung von umgerechnet sechs Milliarden Euro verurteilt. Nur ein Teil dieser Summe fließt den Hinterbliebenen zu. Auch der Bundesstaat Minas Gerais enthält Mittel für den Wiederaufbau.
Eine Frage ist bis heute nicht geklärt: Welche Verantwortung trägt der TÜV Süd für diese Katastrophe? Letztendlich konnte der Abbau in der Mine nur wegen des positiven Testbescheids fortgesetzt werden. Handelt es sich hier lediglich um ein individuelles Versagen Einzelner? Kurz nach dem Unglück wurden zwei Ingenieure des TÜV Süd verhaftet und angeklagt. Sollte nicht auch das Unternehmen selbst zur Verantwortung gezogen werden?
Welche Verantwortung trägt der TÜV Süd für diese Katastrophe? Handelt es sich hier lediglich um ein individuelles Versagen Einzelner?
Mit der Frage der Verantwortung von Unternehmen für ihr weltweites Handeln beschäftigen sich internationale Organisationen bereits seit vielen Jahren. Neben den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen ist auch der Global Compact der VN eine wichtige Initiative auf diesem Weg. VN-Generalsekretär Kofi Annan lancierte 1999 diese freiwillige Selbstverpflichtung von multinationalen Unternehmen, die auch die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) umfasst. Doch im Laufe der Jahre mussten wir feststellen, dass die besten Verabredungen nicht verhinderten, dass es weiter zu Ausbeutung und Umweltverschmutzung kommt und Menschenrechte missachtet werden. Häufig geschieht dies nicht bei den direkten Tochterunternehmen multinationaler Konzerne, sondern bei den Zulieferern weltweit.
Dieses Problem erkannten auch die VN und beauftragten Professor John Ruggie als VN-Sonderbeauftragten für Unternehmen und Menschenrechte mit der Entwicklung eines Konzeptes für die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht von multinationalen Unternehmen. Seine Überlegungen führten 2011 zur Verabschiedung der VN-Leitprinzipien zu Wirtschaft und Menschenrechten. Sie verfolgen einen dreifachen Ansatz: Schutz, Achtung, Abhilfe. Staaten haben die Pflicht, ihre Bürgerinnen und Bürger davor zu schützen, dass Unternehmen ihre Menschenrechte verletzen. Unternehmen wiederum haben die Menschenrechte überall auf der Welt zu achten. Und schließlich müssen Betroffene Zugang zu Beschwerdeverfahren und effektivem Rechtsschutz haben. Regierungen können sich somit nicht mehr mit der vermeintlichen Übermacht multinationaler Unternehmen herausreden. Und Konzerne können nicht mehr mit der schwachen Gesetzgebung vor Ort argumentieren: „Wir halten uns an alle vor Ort geltenden Gesetze.“
Die EU hat darüber hinaus alle Mitgliedsstaaten auf einen nationalen Aktionsplan verpflichtet, der aufzeigt, wie die Sicherstellung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht umgesetzt werden kann. Deutschland hat nach intensiven Diskussionen mit Vertretern von Industrie, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft 2016 den Nationalen Aktionsplan verabschiedet. Bis 2020 wurde in zwei Monitoring-Prozessen geprüft, ob mindestens 50 Prozent aller Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten ein Verfahren zur Kontrolle der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht in ihre Unternehmensabläufe integriert haben. Die Ergebnisse waren ernüchternd: Deutlich weniger als 50 Prozent achten in ihren Geschäftsprozessen bzw. Lieferketten auf die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht.
Im Laufe der Jahre mussten wir feststellen, dass die besten Verabredungen nicht verhinderten, dass es weiter zu Ausbeutung und Umweltverschmutzung kommt und Menschenrechte missachtet werden.
Insofern war es nur konsequent, dass der Gesetzgeber ein Lieferkettensorgfaltsgesetz verabschiedete, das die Unternehmen ab 2023 nunmehr in die Pflicht nimmt und die Möglichkeit bietet, Unternehmen zur Rechenschaft zu ziehen. Eine Stärke des deutschen Gesetzes ist die Verpflichtung der Unternehmen, die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht auch in ihren Lieferketten und Tochterunternehmen einzuhalten. Hierzu müssen sie Risikoanalysen und feste Berichts- und Kontrollmechanismen einführen. Bei einem Verstoß kann eine Strafzahlung verhängt werden. Eine Schwäche ist, dass im ersten Umsetzungsschritt nur Unternehmen einer bestimmten Größenordnung hierzu verpflichtet sind.
Wenn man das Thema wirklich umfassend verankern will, müssen noch viel mehr Länder verbindliche Regeln für die Einhaltung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten einführen. Denn nur so werden Menschenrechte Investitionskriterien – in gleichem Maße, wie es Infrastruktur, Lohnhöhe oder Steuern sind. Dies würde dann auch diejenigen Länder unter Druck setzen, die versuchen durch eine möglichst lasche Arbeits- und Umweltgesetzgebung ausländisches Kapital anzulocken.
Deshalb muss ein europäisches Lieferkettengesetz beschlossen werden. Die Signalwirkung für andere Industrieländer in der Welt kann nicht hoch genug bewertet werden. So entsteht ein level playing field für alle international tätigen Unternehmen. Ein europäisches Gesetz muss natürlich auch eine Weiterentwicklung bereits bestehender nationaler Gesetze sein, wie derer in Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland.
Um auf den Dammbruch in Brasilien zurückzukommen: Die IGBCE organisiert den Bergbau in Deutschland und hat eine lange Tradition der solidarischen Unterstützung anderer Gewerkschaften weltweit, wenn es darum geht, die Folgen eines Bergwerksunglücks aufzuarbeiten und konkrete Hilfe zu leisten. Vom ersten Tag des Unglücks wurde in Deutschland diskutiert, welche Verantwortung der TÜV Süd trägt. Auch in der öffentlichen Auseinandersetzung in der deutschen Zivilgesellschaft um die Verabschiedung eines Lieferkettengesetzes war der Fall Brumadinho immer eines der markantesten Beispiele.
Es wird Zeit, dass die Europäische Kommission ihren Entwurf für ein Lieferkettengesetz vorlegt.
Die Familien der Hinterbliebenen der Katastrophe verklagen den TÜV Süd in Deutschland. Die Verteidigungsstrategie der beauftragten Kanzlei war, diese Klage dadurch verhindern zu wollen, dass man auf einer hohen Summe als Prozesskostensicherheit bestand. Diese Mittel hätten die Betroffenen nie selbst aufbringen können. Wir als IGBCE haben uns gefragt, wie konkrete Solidarität in diesem Fall aussehen könnte, und haben das Wagnis auf uns genommen, durch eine Bürgschaft den Prozess zu ermöglichen. Dies ist sicher ein ungewöhnlicher Vorgang für eine Gewerkschaft. Aber hier handelt es sich um einen Fall, der eine konkrete Antwort zur menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht liefern muss. Ob der TÜV Süd eine Teilverantwortung für die Katastrophe von Brumadinho trägt, müssen nunmehr deutsche Gerichte entscheiden.
Wir sind überzeugt, dass es erst solche Prozesse braucht, um Unternehmen die ganze Bedeutung und die Konsequenzen der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht zu verdeutlichen. Mehr noch: Im Falle von hohen Schadensersatzzahlungen hat dies auch unmittelbare Konsequenzen für die Beschäftigten in Deutschland. Auch deshalb haben wir innerhalb der IGBCE die Informationsangebote und Schulungen zu diesem Thema ausgebaut. Wir wollen unsere Betriebsräte befähigen, die Lieferkettenproblematik stärker in den Fokus zu nehmen. Auch die Compliance-Abteilungen in den Unternehmen müssen ihren Blick für das komplexe Themenfeld schärfen.
Es wird Zeit, dass die Europäische Kommission ihren Entwurf für ein Lieferkettengesetz vorlegt. Es hat schon zu viele Verzögerungen gegeben. Jetzt gilt es, in diesen dringlichen Fragen endlich einen entscheidenden Schritt voranzukommen.