Selten hat eine brasilianische Gesetzesnovelle im In- und Ausland so viel Aufmerksamkeit erregt. Just vor der UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung in Rio de Janeiro im Juni 2012 verabschiedete das Abgeordnetenhaus das Projekt für ein neues, deutlich deregulierendes Waldgesetz. Die Präsidentin Dilma Rousseff legte ihr Veto ein, und durch ein Dekret wurden substanzielle Änderungen vorgenommen. Das Gesetz trat schließlich im Oktober 2012 in Kraft.
Worum ging es bei der Debatte? Im Kern um den Streit zwischen zwei diametral gegensätzlichen Positionen: Besonders die großen Agrounternehmen, die für einen boomenden Weltmarkt produzieren, wollten vermeiden, dass der Schutz des Waldes im Zweifelsfall der Agrarproduktion übergeordnet und damit das Verfügungsrecht über Privatbesitz eingeschränkt wird. Nur eine deutliche Liberalisierung könne das Wachstum der brasilianischen Land- und Viehwirtschaft sowie deren Wettbewerbsfähigkeit erhalten und ein Entwicklungshemmnis beseitigen, so ihre Argumentation. Dies sollte in einer Änderung des Waldgesetzes festgeschrieben werden.
Umweltschutzorganisationen wehrten sich seit Jahren gegen eine Novellierung des Waldgesetzes, die in erster Linie zu einer beschleunigten Inwertsetzung der Naturräume führe.
Umweltschutzorganisationen dagegen wehrten sich seit Jahren gegen eine Novellierung des Waldgesetzes, die in erster Linie zu einer beschleunigten Inwertsetzung der Naturräume führe. Brasilien würde damit seine immensen Potenziale für eine nachhaltige Entwicklung zerstören und zudem seine Erfolge beim Klimaschutz zunichtemachen. Eine Liberalisierung sei nicht notwendig, da für eine weitere Expansion der brasilianischen Landwirtschaft ausreichend Flächen existierten. Vielmehr sei die Steigerung der Produktivität erforderlich.
Die Auseinandersetzung verweist auf das enorme Spannungspotenzial zwischen Wachstumspfad einerseits und Umwelt- sowie Klimaschutz andererseits. Hinter der Debatte standen handfeste wirtschaftliche Interessen und unterschiedliche Entwicklungsvorstellungen, soziale Sachverhalte sowie die Reichweite von Regierungsentscheidungen und des Rechtsstaats in dem fünftgrößten Land der Erde.
Die Bedeutung des Waldes für eine klimatisch nachhaltige Entwicklung Brasiliens ist schwer zu überschätzen: Noch 2005 gehörte das Land zu den größten Treibhausgasemittenten der Welt, wobei drei Fünftel der Treibhausgasemissionen auf die Entwaldung zurückzuführen waren. Seitdem hat die Entwaldung stetig abgenommen. Im vergangenen Jahr wurde der niedrigste Stand seit 1988 erreicht. Damit sind die durch die Regierungen ergriffenen Maßnahmen zum Schutz des Waldes als einem der wichtigsten Punkt der globalen Klimaagenda erfolgreich gewesen. Nach offiziellen Berechnungen hat die Reduzierung der Entwaldung in Amazonien zu einer Verringerung der CO2-Emissionen um 81 Prozent geführt.
Die Auseinandersetzung verweist auf das enorme Spannungspotenzial zwischen Wachstumspfad und Umwelt- sowie Klimaschutz.
Das bis vor kurzem gültige Waldgesetz stammte aus dem Jahr 1965 und wurde später mehrmals erweitert. Obwohl im ersten Jahr der Diktatur erlassen, galt es als fortschrittlich. Das Gesetz hatte allerdings mit anderen gemein, dass konkrete Ausführungsbestimmungen fehlten, Rechtsunsicherheiten existierten und es zudem erhebliche Probleme bei der Rechtsdurchsetzung gab. Die hohen Entwaldungsraten waren hierfür ein klares Zeichen.
Was steht im neuen Gesetz?
Im Zentrum der Debatte um das neue Waldgesetz standen die „permanenten Schutzgebiete“ sowie der „gesetzlich festgelegte Waldanteil“ eines Landbesitzes. Bisher konnten in der bewaldeten Amazonasregion legal bis zu 20 Prozent eines Grundbesitzes gerodet werden. In den Savannen mussten 35 Prozent, in den anderen Naturgebieten 20 Prozent der Flächen erhalten werden. Die permanenten Schutzgebiete umfassten hiervon unabhängig die Vegetation von Gewässern sowie Hänge, Hochlagen und andere ökologisch wichtige Naturformationen.
Die Größe der Bewaldungsanteile nach Regionen wurde in der Novelle beibehalten, aber die Kategorie der „konsolidierten Flächen“ eingeführt. Unter Auflagen wird damit die Möglichkeit der Legalisierung bisher illegaler Entwaldung eröffnet. Kleinbesitz wurde von der Wiederaufforstung der gesetzlichen Waldanteile befreit. Dies reduziert die Flächen, deren Vegetation wiederhergestellt werden müsste. Das staatliche Forschungsinstitut IPEA hat berechnet, dass fast 160 Mio. Hektar wieder aufgeforstet werden müssten. Die Entscheidung, hiervon 90 Prozent der Kleinbetriebe zu befreien, reduziert dieses Potential um 29,6 Mio. Hektar.
Für die Aufforstung von permanenten Schutzgebieten wurde von der Regierung eine Staffelung nach Betriebsgröße durchgesetzt, die unter der gesetzlichen Mindestnorm liegt. Auch hier wurde der potenzielle Umfang reduziert, indem die sozioökonomische Situation der Kleinproduzenten berücksichtigt wurde. Gleichzeitig wurden aber diese zu einer (reduzierten) Wiederaufforstung verpflichtet. Aber auch Besitzer größerer Flächen profitieren von der Regelung. Geändert wurde außerdem die Berechnung der Flussbreite: Wurde bislang die Tiefe der Schutzgebiete an Flussrändern zu Überflutungszeiten festgelegt, wird nun ein „regulärer“ Wasserpegel herangezogen, was zu einer Verringerung der ökologisch besonders wichtigen Schutzflächen führen kann, da die jahreszeitlich bedingten Überflutungen die Flüsse beträchtlich verbreitern. Die neue Regelung berücksichtigt aber wiederum die Realitäten von Produzenten, die in den Überschwemmungszonen zum Beispiel Reis anbauen – eine Produktionsweise, die sonst hätte eingestellt werden müssen.
Umweltpolitisch positiv zu bewerten ist der Aufbau eines obligatorischen Katasters des ländlichen Grundeigentums sowie die satellitengestützte Überwachung der Veränderung der Vegetation.
Der Regierung und der Regierungspartei PT ging es mit den Ausnahmeregelungen für Kleinbetriebe darum, sozioökonomischen Sachverhalten gerecht zu werden. Die Agrarlobby nutzte das Argument, eine politische Lösung für die prekäre Lage der großen Masse der Kleinproduzenten zu suchen, um deren ökonomisches Interesse einer generellen Liberalisierung der Schutzauflagen mit sozialpolitischen Gerechtigkeitselementen zu befördern. Der eigentliche politische Disput bleibt bestehen. Eine Lösung der Probleme der Minifundien und der Landlosen hängt weiterhin von einer Landreform ab. Die Stärke der „Landfraktion“ im Parlament erklärt sich nicht nur aus der wirtschaftlichen Macht der Großgrundbesitzer, sondern ebenso aus der sozialen Unsicherheit auf dem Land, die weiterhin für partikulare Interessen instrumentalisiert werden kann.
Umweltpolitisch positiv zu bewerten ist der Aufbau eines obligatorischen Katasters des ländlichen Grundeigentums sowie die satellitengestützte Überwachung der Veränderung der Vegetation, verbunden mit der Möglichkeit, durch Wiederaufforstung Strafen zu vermeiden und dabei staatliche Unterstützung zu erhalten. Das Gesetz bietet einen neuen Rahmen, Regulierung in bisher „regulierungsfreien“ Räumen herzustellen und mittelfristig die Vegetation zu vergrößern. Denselben Effekt kann die Staffelung nach Betriebsgröße haben, auch wenn der Umfang der bisherigen (bereits entwaldeten) Schutzflächen reduziert wurde. Das ambitionierte Ziel der Regierung ist, dass sich Brasilien mittelfristig von einem CO2-Emittenten in eine Kohlenstoffsenke verwandelt, ohne wirtschaftliche Aktivitäten grundsätzlich zu verdrängen.
Was heißt das neue Gesetz für Brasiliens Klimaziele?
Das neue Gesetz hat vor dem Hintergrund der Klimadebatte grundsätzliche Bedeutung. Weltweit wurden in der letzten Dekade jährlich bis zu 13 Millionen Hektar Wald vernichtet. Dies trug massiv zur globalen Erwärmung bei. Brasilien hat sich gesetzlich verpflichtet, durch eine Reduzierung der Entwaldung um 40 bis 80 Prozent je nach Naturraum den CO2-Ausstoß bis 2020 um rund zwei Fünftel zu reduzieren. Klimapolitisch sind hierfür zwar auch die kleineren Flächen relevant, doch könnte der „Verzicht“ auf ihre Wiederaufforstung mehr als ausgeglichen werden, wenn es gelingt, die größeren Betriebe zur Aufforstung zu verpflichten.
Klar ist, dass durch die Interventionen von Präsidentin Rouseff Schlimmeres verhindert wurde.
Noch sind die Konsequenzen für die Schutzgebiete, Wälder und Biodiversität Brasiliens oder die Auswirkungen auf das Klima nicht eindeutig zu beurteilen. Klar ist aber, dass durch die Interventionen von Präsidentin Rouseff Schlimmeres verhindert wurde. Die in der ursprünglichen Novelle vorgesehene Liberalisierung hätte im Extremfall zu einer Freisetzung von 14 Milliarden Tonnen CO2 und zu einem Verzicht auf eine potentielle Bindung in derselben Größenordnung geführt. Die in Kopenhagen angekündigten Klimaschutzziele, die weiterhin in erster Linie von der Reduktion der Abholzung abhängen, wären nach Meinung brasilianischer Wissenschaftler nicht nur nicht erreicht worden, sondern die Klimaerwärmung wäre sogar noch befördert worden.
Was folgt aus dem Gesetz?
Durch Korrekturen im legislativen Prozess und vor allem durch die Vetos der Präsidentin wurde versucht, einen Mittelweg zwischen politischer Durchsetzbarkeit, Schutz der Umwelt sowie ökonomischen Interessen unter der Berücksichtigung sozialer Realitäten zu gehen. Hiermit dürfte keiner der Akteure vollständig zufrieden sein. Letzten Endes ist damit erneut die Rigorosität, mit der es nicht nur der Regierung sondern auch der Justiz gelingt, das neue Gesetz durchzusetzen, für dessen Effekte auf Nutzung, Erhalt und Wiederherstellung der Wälder entscheidend.
Der Agrarminister ist jedenfalls optimistisch und kündigte bereits Monate vor der letzten Fassung des Gesetzes eine Aufforstung von 30 Millionen Hektar an. Immerhin: Dies entspräche der Größe Italiens.