Die Inflation in Europa explodiert. Politikerinnen und Politiker stehen nun vor der Wahl: Sie können die Last dieser Lebenshaltungskostenkrise auf die gesamte Gesellschaft verteilen, oder es allein den arbeitenden Menschen überlassen, die Kosten zu tragen. Vor diesem Hintergrund warnen Neoliberale mit großem Getöse vor einer „Lohn-Preis-Spirale“. Demnach müsse die Arbeiterschaft Reallohn-Einschnitte hinnehmen, um zu verhindern, dass die Preise im Allgemeinen weiter steigen.

Tatsächlich sehen wir uns jedoch mit einer „Profit-Preis-Spirale“ konfrontiert. Die marktbeherrschenden Unternehmen erhöhen ihre Preise über die Inflationsraten hinaus und verteilen ihre Rekordgewinne an die bereits besser Verdienenden. Eine aktuelle Studie der britischen Gewerkschaft Unite zeigt, dass die Profite der größten britischen Unternehmen im Jahr 2021 um satte 73 Prozent gestiegen sind. Barbara Teiber, Vorsitzende der österreichischen Gewerkschaft GPA, sagte kürzlich: „Ungeachtet der Krise sind die Superreichen noch reicher geworden. Das zeigen die jüngsten Daten und Studien unisono.“

Natürlich gibt es Faktoren außerhalb unserer direkten Kontrolle, die die Inflation in die Höhe geschraubt haben: Der Zusammenbruch der globalen Lieferketten aufgrund der Pandemie und der russischen Invasion in der Ukraine sind unbestreitbar wichtige Inflationstreiber. Aber es sind die Profite – nicht die Löhne – die die Lebenshaltungskostenkrise verschärfen.

Neoliberale warnen vor einer „Lohn-Preis-Spirale“, tatsächlich sind wir mit einer „Profit-Preis-Spirale“ konfrontiert.

Ein konkretes Beispiel: UNI Europa hat sich kürzlich die Situation bei einem Unternehmen namens Metsä Board angesehen, das Kartonverpackungen herstellt. Im ersten Quartal 2022 verzeichnete diese Firma den höchsten Gewinn der Unternehmensgeschichte; die Gewinnmarge hat sich in den vergangenen zwei Jahren fast verdoppelt. Gleichzeitig ist der Personalkostenanteil an den Gesamtkosten um 7,7 Prozent gesunken, von 13 Prozent im Jahr 2020 auf 12 Prozent im Jahr 2021.

Eine Umverteilung des Einkommens weg von der Arbeiterschaft und hin zu Profit und Vermögensakkumulation von wenigen ist sozial ungerecht und wirtschaftlich nicht nachhaltig. Im Fall Metsä Board würde ein Anstieg der Personalkosten um 15 Prozent lediglich zu einem Anstieg der Gesamtkosten um 1,8 Prozent führen – während die betroffenen Arbeitnehmenden ihr Geld weiterhin in ihren lokalen Gemeinden ausgeben würden. Wenn man den Konzernen hingegen erlaubt, die Reallöhne zu kürzen, wird das die Nachfrage senken und unsere Wirtschaft weiter destabilisieren.

Die Möglichkeit der Beschäftigten, Tarifverträge auszuhandeln, wurde in ganz Europa angegriffen und untergraben.

In der gegenwärtigen Krise ist Europa in der schlechtesten Ausgangsposition, sozial gerechte Ergebnisse zu erzielen, als jemals zuvor in der Nachkriegszeit. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde die Möglichkeit der Beschäftigten, Tarifverträge auszuhandeln, in ganz Europa angegriffen und untergraben. Von Irland bis Rumänien wurden entsprechende Gesetze ausgehebelt. Selbst in den gewerkschaftlichen Hochburgen in Nordeuropa zielen Unternehmen und Konzerne direkt auf die Tarifverhandlungen ab, die bisher stets für besser verteilten und gemeinschaftlichen Wohlstand gesorgt haben. So beschuldigten beispielsweise finnische Arbeiterinnen den multinationalen Forstindustriekonzern UPM des Verrats, als die Unternehmensleitung einseitig die Tarifverhandlungen mit den Angestellten aufkündigte.

Natürlich kann man auf die wenigen positiven Ausnahmen verweisen: In Deutschland haben Beschäftigte in der Gebäudereinigung und ihre Gewerkschaft IG BAU vor kurzem für 700 000 Menschen in diesem Sektor Lohnerhöhungen erkämpft, welche die Inflation ausgleichen. Die am schlechtesten bezahlten Arbeiterinnen und Arbeiter erhalten mit 12,6 Prozent dabei die größte Lohnerhöhung. Die Preiseskalation trifft die Ärmsten am stärksten – und dieses Beispiel zeigt, wie wichtig Tarifverhandlungen sind, um die Solidarität in den Mittelpunkt der europäischen Reaktion auf die Lebenshaltungskostenkrise zu stellen. Leider ist das Beispiel aus Deutschland eher die Ausnahme als die Regel.

Die EU-Institutionen dürfen es nicht den Beschäftigten und ihren Gewerkschaften allein überlassen, für Gerechtigkeit zu kämpfen.

Es sieht danach aus, dass die Zahl und Häufigkeit von Streiks in ganz Europa zunehmen wird. Dies gilt insbesondere für die Länder, in denen die Verhandlungsmacht der Arbeiterschaft am stärksten beschnitten wurde. Die Menschen weigern sich zu Recht, die komplette Last der Inflationskrise zu tragen, während andere auf ihrem Rücken Rekordprofite einfahren. Niedrige Löhne angesichts der galoppierenden Inflation haben bereits zu Chaos an den europäischen Flughäfen geführt. Wenn es nicht gelingt, ein gerechteres Kräfte- und Machtverhältnis herzustellen, dürfte dies nur der Anfang sein.

Die EU-Institutionen dürfen es nicht den Beschäftigten und ihren Gewerkschaften allein überlassen, für Gerechtigkeit zu kämpfen. Der Entwurf der EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne gibt das richtige Ziel vor: Eine 80-prozentige Abdeckung mit Tarifverhandlungen in allen Mitgliedstaaten ist ein ermutigendes Zeichen. Doch die tiefe Unzufriedenheit, die sich bei den Belegschaften aufgestaut hat, muss direkt angegangen werden – und die Stärkung der Tarifverhandlungen muss dabei die oberste politische Priorität sein. Tarifverhandlungen und -verträge sind die wichtigsten Instrumente, mit denen Arbeiterinnen und Arbeiter höhere Löhne und Gehälter einfordern können. Deswegen können sie entscheidend dazu beitragen, die Lasten der aktuellen Krise fair zu verteilen.

Was jedoch besonders schlimm ist, ist die Tatsache, dass öffentliche Ausgaben das Race to the Bottom für Mitbestimmung und Demokratie am Arbeitsplatz unterstützen und zusätzlich befeuern: Die unzulänglichen EU-Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe schaffen Anreize für Unternehmen, Tarifverhandlungen zu unterdrücken. Da der niedrigste Preis immer das wichtigste Auswahlkriterium ist, belohnen öffentliche Einrichtungen faktisch diejenigen Unternehmen, die bereit sind, Mitsprache zu unterdrücken und die Arbeiterinnen und Arbeiter möglichst umfassend auszubeuten.

Die EU muss jetzt mit gutem Beispiel vorangehen. Der einfachste Weg, Tarifverhandlungen zu stärken, ist die Auftragsvergabe. Öffentliche Ausgaben für Waren und Dienstleistungen von Privatunternehmen machen satte 14 Prozent des BIP der EU aus. Dieses Geld trägt derzeit dazu bei, Tarifverhandlungen zu untergraben. Die EU-Vorschriften für das öffentliche Auftragswesen unterstützen dies, indem bei der Auftragsvergabe der niedrigste Preis über alles andere gestellt wird.

Öffentliche Gelder sollten nicht zur Finanzierung und Förderung von Konzernen verwendet werden, die unsere Arbeitsplätze und das Gemeinwohl untergraben.

Stattdessen sollten die EU-Vergabevorschriften allen Beschäftigten eines Privatunternehmens, das einen öffentlichen Auftrag erhält, einen gewissen Mindeststandard an Würde verleihen. Dies würde sich durch eine einfache, aber dennoch tiefgreifende Regeländerung erreichen lassen: Indem eben nur diejenigen Unternehmen Zugang zu öffentlichen Mitteln erhalten, in denen die Belegschaft Tarifverträge abgeschlossen hat. Auf diese Weise würde die Arbeiterschaft die Mittel und Instrumente zurückerhalten, die sie braucht, um die aktuelle Lebenshaltungskostenkrise zu bewältigen. Sowohl Gewerkschaften als auch die Abgeordneten des Europäischen Parlaments drängen zunehmend auf eine solche Lösung. Öffentliche Gelder – also das Geld, das Arbeiterinnen und Arbeiter in Form von Steuern bereitstellen – sollten nicht zur Finanzierung und Förderung von Konzernen verwendet werden, die unsere Arbeitsplätze und das Gemeinwohl untergraben.

Die Lasten der Inflation lassen sich nur verteilen, wenn die Machtverhältnisse neu austariert werden. Der Slogan der Europäischen Union lautet Stronger together. Es ist an der Zeit, diesen Worten Taten folgen zu lassen, indem Tarifverhandlungen und Tarifverträge EU-weit gestärkt werden.