Seit Beginn des russischen Einmarsches in der Ukraine wird in Deutschland regelmäßig der Zusammenbruch der Wirtschaft vorausgesagt. Die Sanktionen, prophezeite Außenministerin Annalena Baerbock, würden Russland ruinieren. Und tatsächlich gab es in den ersten Kriegsmonaten viele Anzeichen, die diese Annahme stützten: Eine große Zahl westlicher Unternehmen verließ den russischen Markt und der Autoindustrie gingen aufgrund unterbrochener Lieferketten die Teile aus, sodass Fabriken geschlossen oder stillgelegt werden mussten. Die Wirtschaft befand sich im steilen Sinkflug und im Westen wähnte man sich im Aufwind.

Doch die russische Wirtschaft hat nicht nur überlebt, sie befindet sich sogar auf einem Wachstumspfad. Als Reaktion auf die sanktionsbedingte Wirtschaftskrise und die militärischen Niederlagen in der Ukraine im Sommer 2022 vollzog die russische Regierung einen Strategiewechsel, der als Militär- oder Kriegskeynesianismus bezeichnet wird. Im Kern beschreibt der Kriegskeynesianismus eine staatlich gelenkte makroökonomische Politik, die darauf abzielt, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durch höhere Militärausgaben zu steigern. Seit der Invasion in der Ukraine hat Russland seine Militärausgaben verdreifacht. Allein auf den Verteidigungshaushalt entfallen 40 Prozent der Staatsausgaben, verglichen mit 14 bis 16 Prozent vor 2022. Die steigende Industrieproduktion treibt die russische Volkswirtschaft aus der jahrelangen Stagnation. Im Jahr 2023 wuchs das Bruttoinlandsprodukt um 3,6 Prozent, während für dieses Jahr ein Wachstum zwischen 2,5 und 3 Prozent erwartet wird.

Von der nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik profitieren in erster Linie Unternehmen des Rüstungssektors, aber auch Zulieferer wie der Maschinenbau oder die Stahlindustrie.

Von der nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik profitieren in erster Linie Unternehmen des Rüstungssektors, aber auch Zulieferer wie der Maschinenbau oder die Stahlindustrie. Diese fordern seit Langem eine stärker protektionistische Wirtschaftspolitik, da ihre westliche (und zunehmend chinesische) Konkurrenz die globalen Absatzmärkte dominiert. Darüber hinaus profitieren die Angestellten der produzierenden Sektoren, die zu den großen Verlierern der kapitalistischen Transformation in Russland gehören. Während in den vergangenen 30 Jahren überwiegend soziale Nöte und prekäre Beschäftigungsverhältnisse den Alltag dieser Menschen prägten, hat sich die materielle Lage vieler Menschen seit Kriegsbeginn deutlich verbessert. Im Jahr 2023 stiegen die Realeinkommen nach Angaben des staatlichen russischen Statistikdienstes Rosstat um 5,8 Prozent. Trotz zum Teil erheblicher regionaler Unterschiede haben sich die Löhne im verarbeitenden Gewerbe mehr als verdreifacht, in einigen Fällen sogar verfünffacht. Während Weber im Dezember 2021 etwa 250 bis 350 US-Dollar erhielten, sind inzwischen Löhne bis zu 1 300 Dollar möglich.

Der Kriegskeynesianismus sollte nicht auf wirtschaftspolitische Maßnahmen in Kriegszeiten reduziert werden. Er ist vielmehr Teil einer langfristigen politischen Strategie, die insbesondere von nationalkonservativen Fraktionen in der russischen Elite vertreten wird und darauf abzielt, die starke Abhängigkeit des Landes vom Rohstoffexport zu verringern und somit den russischen Einfluss auf die sich herausbildende multipolare Weltordnung zu stärken. Seit der Invasion in der Ukraine hat die russische Regierung partiell ihre traditionell monetaristische Finanzpolitik aufgegeben. Die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen, die höhere Besteuerung von Unternehmensgewinnen oder die Ersetzung des Einheitssteuersatzes (flat tax) zugunsten eines progressiven Systems wurden von den Wortführern des neoliberalen Lagers, wie der Zentralbankchefin Elvira Nabiullina, stark kritisiert, konnten aber nicht verhindert werden. Stattdessen wurde das national-konservative Lager durch die Ernennung des Verteidigungsministers Andrej Beloussow weiter gestärkt.

Die Veränderungen in der russischen Wirtschaft werden auch im Außenhandel immer deutlicher.

Die Veränderungen in der russischen Wirtschaft werden auch im Außenhandel immer deutlicher. Als Folge der westlichen Sanktionen und der Förderung der Industrie konzentrieren sich viele Unternehmen stärker auf die BRICS-Länder und den Globalen Süden als noch vor zehn Jahren. Während die USA und die EU auf eine Abkopplung von China drängen, vertiefen Russland und China ihre technologische Zusammenarbeit über den Verteidigungssektor hinaus. Schon vor der russischen Invasion stellte das Carnegie-Institut fest, dass sich Russland in aller Stille in eine technologische Pax Sinica integriert. Auch der Handel mit den Mitgliedstaaten der Eurasischen Wirtschaftsunion EAWU sowie mit Indien, dem Iran und Afrika gewinnt weiter an Bedeutung. Auffällig ist, dass Russland nicht nur Rohstoffe in diese Länder liefert, sondern dass neben der traditionell internationalisierten Rüstungsindustrie auch der agroindustrielle Komplex, der IT-Sektor und der Maschinenbau zunehmend versuchen, neue Märkte zu erschließen.

Die Wirtschaftsbeziehungen zu China verdeutlichen jedoch die Abhängigkeit Russlands im Bereich der Hochtechnologiegüter, die auch für den Handel mit westeuropäischen Ländern, insbesondere Deutschland, typisch war. Während Russland hauptsächlich Rohstoffe (fossile Energie) exportiert, importiert es im Gegenzug Maschinen, Anlagen und Konsumgüter. Ein wichtiger Unterschied besteht jedoch darin, dass China große Mengen an Rüstungsgütern oder Technologie zum Bau von Atomkraftwerken von Russland kauft. Dennoch ist die Abhängigkeit im Hochtechnologie- und Konsumgüterbereich ein wichtiger Grund, warum es auf russischer Seite starke Vorbehalte gegen ein enges Bündnis mit China gibt.

Eine weitere Kehrseite des Kriegskeynesianismus sind die wachsenden regionalen Unterschiede: Während die industrialisierten Regionen in Westrussland und im Ural von der staatlichen Nachfrage nach Rüstungsgütern profitieren, fallen die wirtschaftlich isolierten Regionen im Nordkaukasus und im arktischen Norden weiter zurück. Neben den regionalen vertiefen sich auch die sozialen Ungleichheiten. Im Dienstleistungssektor sind prekäre Beschäftigung und niedrige Löhne besonders weit verbreitet. Die Streikwelle der Kurierfahrergewerkschaft macht dies deutlich. Zudem steigt die Zahl der Familien, deren Angehörige im Krieg gefallen sind oder die das Land in Folge des Krieges verlassen haben und oft in prekären Verhältnissen im Ausland leben.

Der Kriegskeynesianismus der Regierung hat eine soziale Basis in der Bevölkerung.

Es wird deutlich: Der Kriegskeynesianismus der Regierung hat eine soziale Basis in der Bevölkerung. Die Unternehmensführung und die Angestellten – insbesondere Facharbeiterinnen und Facharbeiter – aus den produzierenden Sektoren unterstützen die Politik, da sie die Interessen dieser Schichten gezielt bedient. Das bedeutet nicht, dass Angestellte den Krieg gegen die Ukraine zwangsläufig befürworten. Aber die deutlichen materiellen Verbesserungen verschaffen der Regierung gerade in den sozialen Schichten Rückhalt, die unter der anhaltenden Wirtschaftskrise und dem Abbau des Sozialstaats – Stichwort Rentenreform – besonders betroffen waren.

Diese Ausgangslage erinnert an die Jahre des Wirtschaftsbooms der ersten beiden Putin-Administrationen von 2000 bis 2008. Doch es gibt wichtige Unterschiede: Getragen von steigenden Rohstoffpreisen basierte das hohe Wirtschaftswachstum damals in erster Linie auf der Ausweitung der Öl- und Gasexporte, eine Konstellation, von der besonders zwei Gruppen profitierten: die Besitzer der Rohstoffkonzerne und die städtischen Mittelschichten, vor allem jene, die im Handel, im Finanz- und Immobiliensektor beschäftigt sind. Als größter Abnehmer von russischen Energierohstoffen hatten diese sozialen Gruppen ein großes Interesse an engen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit dem Westen.

Dagegen funktioniert der Kriegskeynesianismus nur unter den Bedingungen einer wirtschaftlichen Entkopplung mit dem Westen und geht mit einer wirtschaftlichen und politischen Ausrichtung Russlands nach Asien einher. Dies schafft ein gefährliches innenpolitisches Gefüge, in dem relevante gesellschaftliche Schichten ein Interesse am Konflikt mit dem Westen (und der Ukraine) oder zumindest an der Fortsetzung des Kriegskeynesianismus haben, da sie materiell oder politisch davon profitieren. Dies erschwert nicht nur eine Friedenslösung für die Ukraine, sondern auch vertrauensbildende Maßnahmen und eine Annäherung zwischen Russland und dem Westen nach einem Ende der Kampfhandlungen.