Im Morgengrauen des 21. Juli musste sich die regierende Konservative Partei Großbritanniens bei den Nachwahlen in zwei ihrer ländlichen Hochburgen geschlagen geben. Im Wahlkreis Somerton and Frome im Südwesten, wo sich zwischen malerischen Dörfern ein Militärhubschrauber-Stützpunkt befindet, ließen die Liberaldemokraten die Konservativen hinter sich, die 2019 mit rund 19 000 Stimmen noch die Mehrheit geholt hatten. Damals gewannen die Konservativen in dem zwischen Leeds und York im Norden gelegenen ländlichen Wahlkreis Selby and Ainsty mit 20 000 Stimmen, während in dieser Wahl die Labour-Partei 4 000 Stimmen mehr holten.
An jedem anderen Wahlabend wäre dies als politisches Erdbeben verbucht worden. Doch die Schlagzeilen wurden durch eine dritte Nachwahl im Londoner Vorort Uxbridge beherrscht, dem ehemaligen Wahlkreis des in Ungnade gefallenen Premierministers Boris Johnson. Hier, gewannen, gegen alle Erwartungen, knapp die Tories. Der Wahlkreis Uxbridge blieb deswegen in Tory-Hand, weil die Wählerinnen und Wähler den Urnengang zur Protestwahl gegen das Luftreinhaltungsprogramm ULEZ (Ultra-Low Emission Zone) machten, das für ganz London gelten soll und vom Labour-Bürgermeister Sadiq Khan, Londons erstem muslimischen Stadtoberhaupt, durchgesetzt wurde. Laut ULEZ müssen Autos strenge Obergrenzen für den Ausstoß von Stickoxiden einhalten, die wissenschaftlichen Erkenntnissen nach jedes Jahr für den frühzeitigen Tod von 4 000 Menschen verantwortlich sind. Wer gegen die Vorgaben verstößt, muss pro Tag 12,50 Pfund Bußgeld zahlen, um sich mit dem Auto in Londons Umweltzone zu begeben.
Im Londoner Stadtzentrum ist die Schadstoffbelastung mit einem unfreiwilligen Rauchen von 150 Zigaretten im Jahr vergleichbar. Hier ist die ULEZ bereits in Kraft. Khan will die Regelung jedoch auf Londons Außenbezirke ausweiten, deren Bevölkerung stark auf das Auto angewiesen ist. Gerade in den Vorstädten gibt es viele qualifizierte Arbeitskräfte und Lieferfahrer, sogenannte „White-Van-Men“, deren Jobs betroffen wären.
Nach Angaben des Bürgermeisters müssen durch die Regelung zwar nur zehn Prozent der Autos ausgemustert werden, aber die Tories haben die Zonenregelung erfolgreich zur cause célèbre hochstilisiert. Sie haben die rauen Vorstädte gegen die Hochhausbewohner im Stadtzentrum, die Tory-Gemeinderäte gegen den überheblichen Londoner Staatsapparat und „Otto Normalverbraucher“ gegen die „woken“ Öko-Kämpfer ausgespielt. Die Tories entfernten ihr Parteilogo von den Plakaten, funktionierten die Nachwahlen zu einem Referendum über die ULEZ um – und gewannen knapp.
Die Labour Party hat sich zu einer CO2-freien Stromversorgung bis 2030 und jährlichen Ausgaben von 28 Milliarden Pfund für die Dekarbonisierung der Wirtschaft bekannt.
Obwohl die ULEZ eigentlich keine Klimaschutzmaßnahme ist, wurden in beiden politischen Lagern sofort grundsätzliche Lehren gezogen und zum Desaster aufgebauscht. Wenn die angeschlagene Regierung von Rishi Sunak sich nur den ganzen „grünen Quatsch“ – wie der vorvorvorletzte konservative Premierminister David Cameron einst formulierte – vom Hals schaffen könnte, entginge sie vielleicht dem drohendenWahldebakel bei den Parlamentswahlen im nächsten Jahr. Lord Frost, der Architekt von Johnsons „Hard Brexit“-Strategie, drängte Sunak, sich von der Verpflichtung zur schrittweisen Abschaffung von Benzin- und Dieselfahrzeugen bis 2030 zu verabschieden. Die meisten Briten, so Frosts Argument, würden vom Klimawandel profitieren, denn schließlich kämen mehr Menschen durch Kälte ums Leben als durch extreme Hitze.
Die Labour-Partei schaltete derweil in den Selbstgeißelungsmodus. Sie hatte aufgrund des noch immer nicht reformierten britischen Mehrheitswahlsystems, in dem die Ergebnisse in einigen wenigen unbedeutenden Wahlkreisen den Ausschlag geben, ihren gesamten Wahlkampf darauf ausgerichtet, die konservative, kleinstädtische oder vorstädtische Arbeiterschaft wie die in Uxbridge für sich zu gewinnen. Sie ließ zu, dass ihr lokaler Kandidat sich gegen die ULEZ-Verlängerung aussprach, während der Parteivorsitzende Keir Starmer neutral blieb. Nach der Niederlage empfahlen viele Akteure – von den Gewerkschaften der Beschäftigten in der Energiewirtschaft bis zum ehemaligen Labour-Premierminister Tony Blair – der Partei, dass sie von der Wählerschaft nicht verlange solle, die „gewaltige Last“ der Klimaschutzmaßnahmen zu schultern.
Klimaschützer befürchten, dass,wie beim sprichwörtlichen Schmetterling in der Chaostheorie, die Wählerstimmen von 490 Menschen in Uxbridge die beiden großen britischen Parteien dazu bringen könnten, das rechtsverbindliche britische Netto-Null-Ziel für 2050 de facto aufzugeben. Labour hat sich zu dem Ziel bekannt, die Stromversorgung bis 2030 CO2-frei zu machen und jedes Jahr 28 Milliarden Pfund in die Dekarbonisierung der Wirtschaft zu stecken. Diese Summe hat sie aufgrund fiskalischer Risiken jedoch bereits heruntergefahren und wenn Sunak die Klimaschutzzusagen auf den Scheiterhaufen wirft, wird Labour unter Druck geraten, es ihm gleichzutun.
Paradoxerweise liegen den britischen Wählerinnen und Wählern Maßnahmen für den ökologischen Umbau außerordentlich am Herzen. Recherchen für die Financial Times zeigen, dass die britische Wählerschaft gegenüber solchen Maßnahmen – vom Verbrenner-Verbot bis 2030 über eine Steuer für Vielflieger bis zur Verdreifachung der öffentlichen Investitionen in erneuerbare Energien – weitaus positiver eingestellt ist als die Menschen in Amerika, Deutschland und Frankreich. Außerdem, und das ist genauso wichtig, ist die Kluft zwischen Tory- und Labour-Wählerschaft viel kleiner als zum Beispiel die zwischen Republikanern und Demokraten in den USA.
Radikale Klimaschutzmaßnahmen sind in diesen Zeiten der „Kulturkriege“ noch am ehesten ein Thema, bei dem in Großbritannien politischer Konsens besteht. Doch die Politikerinnen und Politiker sind zu Recht nervös: Hinter diesem Konsens verbirgt sich ein fundamentaler Mangel an Realitätsbewusstsein für die steuerlichen und sozialen Kosten des Umstiegs. Da Großbritannien das erste Land der G7 war, das so gut wie unwiderrufliche Dekarbonisierungsziele gesetzlich verankert hat (die nur im Falle neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse verändert werden dürfen), gibt es sich der Illusion hin, dass diese Ziele parteiübergreifend Unterstützung finden.
Dass der Übergang zu einer CO2-freien Wirtschaft zur herausfordernden Verteilungsfrage wird, war immer klar.
Fakt ist: Die konservative Regierung hat den „Climate Change Act“ noch lange nicht erfüllt. Nachdem Umwelt-NGOs geklagt hatten, entschied der High Court in London im Juli 2022, die Regierung müsse detaillierter Rechenschaft ablegen. Der von der Regierung als Aufsichtsorgan eingerichtete Ausschuss für Klimawandel (Climate Change Committee) warnte im Juni, die Chancen auf ein Erreichen der Emissionsziele für 2030 und 2035 hätten sich „durch zögerliches Handeln und das dadurch bedingte Umsetzungsrisiko verschlechtert“.
Unterdessen steht unsere Erde in Flammen. In Arizona sterben Menschen an Verbrennungen dritten Grades, weil sie mit dem Straßenbelag in Berührung kamen. Von Tunesien über Sizilien bis Rhodos werden Wälder durch Brände vernichtet. Unerträglich hohe Temperaturen in Indien und eine Rekord-Eisschmelze in der Antarktis machen das Szenario eines komplexen Ökosystems, das zunehmend ins Wanken gerät, komplett.
Was wir bei Ereignissen wie der Nachwahl in Uxbridge erleben, ist das Aufeinanderprallen von Wahrheit und Selbsttäuschung. Dass der Übergang zu einer CO2-freien Wirtschaft zur herausfordernden Verteilungsfrage wird, war immer klar: Die entsprechenden Technologien sind im Wesentlichen vorhanden, aber die radikalen Veränderungen der Lebensstile, der Stadtplanung, der Verkehrsträger, des Energie- und Lebensmittelverbrauchs werden unweigerlich Gewinner und Verlierer hervorbringen.
Je stärker der Staat die Investitionen ankurbeln könnte, umso besser würde die Erfolgsbilanz ausfallen. Doch seit 2008 leben wir in einer Welt hoher Staatsverschuldung. Selbst wenn wir uns – was moralisch richtig wäre – dafür entscheiden, durch verstärkte Kreditaufnahme in der Gegenwart die Kosten auf die Steuerzahler von morgen zu verlagern, hätte dies angesichts der niedrigen Sparquoten in den entwickelten westlichen Volkswirtschaften seine Grenzen und seine Nachteile.
Doch die Frage „Wer zahlt die Rechnung?“ lässt sich nur zum Teil in die Zukunft vertagen. Die Abwrackprämie von 110 Millionen Pfund, mit der Khan die Ausweitung der ULEZ verknüpft hat und die auf kleine Unternehmen und einkommensschwache Haushalte abzielt, hat weder ausgereicht noch überzeugt, wobei Letzteres noch wichtiger gewesen wäre als Ersteres.
Berufstätige und Kleinunternehmer, die knapp bei Kasse sind, haben die Maßnahme so verstanden, dass sie gezwungen werden sollen, ihre Lieferwagen und Autos abzuschaffen. Sie wurden empfänglich für die Botschaft, dass dies nicht ihrem Wohl, sondern dem Wohl anderer diene – insbesondere der (ethnisch sehr heterogenen) Bevölkerung von Inner London mit seiner hohen Wohndichte und niedrigen Autofahrerquote.
Die Tories haben die mit diesen Themen verknüpften Ängste und Animositäten geschickt erspürt.
Aus einem für Sadiq Khans Stadtverwaltung erstellten Bericht, der allerdings erst nach der Nachwahl veröffentlicht wurde, geht hervor, dass die ethnischen Ungleichheiten bei der Luftverschmutzung in London zwar groß sind, aber nicht so sehr aus dem Rahmen fallen. Zum einen hätten den Erkenntnissen der Forscher nach „die Gebiete in London mit den niedrigsten Luftverschmutzungskonzentrationen eine überproportional weiße Bevölkerung“, und zum anderen seien die Ungleichheiten am größten in den weiter außerhalb gelegenen Vororten Londons, wo es Enklaven im Grünen gibt, in denen weiße Berufstätige wohnen, und gleich daneben arme Gegenden, die vom öffentlichen Nahverkehr abgeschnitten sind und in denen viele Angehörige ethnischer Minderheiten leben.
Die Tories haben die mit diesen Themen verknüpften Ängste und Animositäten geschickt erspürt und nutzen sie insgeheim für ihre Zwecke, legen sich aber in der Öffentlichkeit nicht fest – jedenfalls nicht konkret. Eines sollte die Labour-Partei aus dem Wahlergebnis von Uxbridge lernen: Sie sollte sich auf den Kerngedanken der Klimagerechtigkeit konzentrieren. Mit einer besseren Abwrackregelung, die schrittweise eingeführt und besser kommuniziert worden wäre, wäre die ULEZ-Ausweitung nicht so ein harter Schlag gewesen. Doch um die Auswirkungen abzufedern, die zu erwarten sind, wenn die Milchviehhaltung und der Fleischkonsum stärker heruntergefahren, die Wohnungsbauvorschriften einschneidend geändert oder die Menschen zum Ersetzen ihrer Gasheizungen gezwungen werden, wird man keine Millionen-, sondern Milliardensummen brauchen.
Die Konservativen vertreten in der Frage, wer die Kosten trägt, einen klaren Standpunkt: Sunak hält es für ein Gebot der Generationengerechtigkeit, dass alle Ausgaben für den Klimaschutz aus der Besteuerung der heutigen Erwerbsbevölkerung finanziert werden. Die Linke braucht ein überzeugendes Gegenmodell: die Ärmsten absichern, die Reichen besteuern, Kredite auf die Zukunft aufnehmen und dafür sorgen, dass der Staat überall dort, wo es möglich ist, der Privatwirtschaft die Richtung vorgibt und dort, wo das nicht möglich ist, an die Stelle der Privatwirtschaft tritt.
Der Übergang in eine CO2-freie Zukunft ist ein Klassenkampf. Das ist paradoxerweise die Lektion aus dem Wahlergebnis von Uxbridge – und je schneller die Labour Party sie lernt, desto besser.
Aus dem Englischen von Christine Hardung
Dies ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.