Vor knapp 20 Jahren haben die Vereinten Nationen erkannt, dass es eine gute Idee wäre, wenn diejenigen Teile der Ozeane, die kein Staat rechtlich für sich beanspruchen kann, von einer internationalen Institution überwacht würden. Vor Kurzem ist endlich eine Einigung diesbezüglich erzielt worden. Das sind gute Nachrichten für dieses wichtige Ökosystem, das unser aller Leben erhält. Noch besser (und anders als das Pariser Klimaabkommen und seine unklaren völkerrechtlichen Auswirkungen): Die sogenannten „Abkommen zum Schutz der Hohen See“ haben einen eindeutigen Rechtsstatus. Da es sich trotz des Namens faktisch um einen Vertrag statt um ein Abkommen handelt, ist dieser nach internationalem Recht für jedes Land, das ihn unterzeichnet, rechtsverbindlich.
Im Jahr 2005 hatten die Vereinten Nationen damit begonnen, sich mit der „Erhaltung und nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt der Meere außerhalb der nationalen Hoheitsgebiete“ zu befassen. Anfang März 2023 wurde nach jahrelangen Debatten, die in „36-Stunden-Non-Stop-Verhandlungen“ gipfelten, eine historische Einigung zum Schutz der biologischen Vielfalt in der Hochsee erzielt. Zweifelsohne ist dieser Vertrag ein Fortschritt. Er ist jedoch nur der Anfang eines Wettlaufs, um dieses Ökosystem zu schützen und seine Ressourcen so zu bewirtschaften, dass wirklich alle Menschen davon profitieren können.
Der Vertrag verspricht außerdem wirtschaftlichen Nutzen, denn die Hochsee birgt Ressourcen, welche die Gesundheit aller Menschen verbessern könnten. Es gibt aber auch Bedenken, denn niemand kennt bisher den genauen Wert all dessen, was unter dem Meeresboden liegt, anders als beispielsweise beim Wert eines Barrels Öl. Noch weniger ist über die Artenvielfalt in der Hohen See bekannt. Was wir aber wissen, ist, dass beispielsweise durch den Tiefsee-Bergbau „Aufwirbelungen entstehen, die die Artenvielfalt buchstäblich ersticken können“. Das bisherige Fehlen eines internationalen Abkommens hatte dazu geführt, dass jeder die Hohe See beliebig ausbeuten konnte – eben, weil sie allen gehört.
Ein internationales Gesetz könnte nun durchaus dazu beitragen, die Auswirkungen der Umweltverschmutzung in den Weltmeeren zu verringern. Die Frage ist, wie dies in der Praxis funktioniert. Wie können zum Beispiel wirtschaftlich ärmere Länder gleichermaßen von dem profitieren, was im Abkommen „genetische Meeresressourcen“ genannt wird? Was ist, wenn Sierra Leone die Erhaltung der Ökosysteme gegenüber der Ausbeutung der Tiefsee durch die USA präferiert? Wie kann dieser Vertrag „das Spielfeld ebnen, damit alle Staaten dieses wichtige globale Gemeingut verantwortungsvoll nutzen und davon profitieren können“, wie UN-Generalsekretär António Guterres hofft?
Die Hohe See ist eine wahre Fundgrube, nicht nur was den Abbau von Edelmetallen angeht.
Was ist, wenn beispielsweise ein Heilmittel gegen menschliche Gier in der Hochsee gefunden wird? Darf das Land, das diese Entdeckung gemacht hat, dann Patentrechte beanspruchen? Zum Glück – und das ist eine große Erleichterung – wird im Vertrag festgehalten, dass „kein Staat Souveränität oder Hoheitsrechte über genetische Meeresressourcen beanspruchen oder ausüben darf“. Darunter verstehe man „jegliches Material pflanzlichen, tierischen, mikrobiellen oder sonstigen Ursprungs aus dem Meer, das funktionale Erbeinheiten von tatsächlichem oder potenziellem Wert enthält“. All diese Ressourcen seien eindeutig „für das Wohl der gesamten Menschheit“ von Interesse.
Mit der Unterzeichnung des Abkommens stimmen die Staaten grundsätzlich zu, dass die Hohe See ein „gemeinsames Erbe der Menschheit“ darstellt. Sollte es zu Schäden kommen, würden diese nach dem Verursacherprinzip behoben. Länder, die über wissenschaftliche Forschungskapazitäten verfügen, können und sollen die „Freiheit der wissenschaftlichen Meeresforschung“ ausüben und dabei „die beste verfügbare Wissenschaft“ nutzen, einschließlich des „einschlägigen traditionellen Wissens indigener Völker und lokaler Gemeinschaften“, deren Beiträge zur „Erhaltung und nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt der Meere“ respektiert, gefördert und berücksichtigt werden müssen. Da die Welt ungleich ist, müssen „die besonderen Umstände der kleinen Inselstaaten und der am wenigsten entwickelten Länder“ ebenso anerkannt werden wie die „besonderen Interessen und Bedürfnisse der Binnen-Entwicklungsländer“.
Die Erkundung und Erforschung der Meere muss von Vorsorge- und Ökosystemansätzen geleitet werden. Die besagte Anerkennung bedeutet, dass Staaten, die nicht über fortschrittliche wissenschaftliche Ressourcen verfügen, von den Errungenschaften derjenigen profitieren, die über diese verfügen, und zwar durch „das Prinzip der Gerechtigkeit und der fairen und gerechten Aufteilung der Nutzen“. Schließlich soll die Hohe See durch einen „integrierten Ansatz für das Ozeanmanagement“ geschützt werden, um die Widerstandsfähigkeit der Ökosysteme zu gewährleisten, beispielsweise durch den Erhalt und die Wiederherstellung der „Integrität der Ökosysteme, einschließlich der Kohlenstoffkreisläufe, die ganz besonders die Rolle der Ozeane für das Klima unterstreichen“.
Die Hohe See ist eine wahre Fundgrube, nicht nur was den Abbau von Edelmetallen angeht, sondern auch für die aufstrebende Meerespharmakologie-Industrie. Zahlreiche Möglichkeiten zur Behandlung menschlicher Krankheiten lassen sich im Meer finden, zum Beispiel antibakterielle, entzündungshemmende und krebsbekämpfende Organismen. Einige davon sind bereits im Einsatz, darunter Cytarabin zur Behandlung von akuter myeloischer Leukämie, das antivirale Vidarabin gegen Herpesviren oder Trabectedin zur Behandlung von Krebs im fortgeschrittenen Stadium.
Seit über 60 Jahren sind Meeresorganismen eine Quelle für Humanarzneimittel.
EU-weit gibt es Probleme: Die Union hat bestätigt, dass neue Antibiotika knapp werden. Zeitgleich ist in mehr als einem Drittel der EU-Länder ein deutlicher Anstieg von arzneimittelresistenten E.coli und Klebsiella zu verzeichnen. Deshalb hat die EU kürzlich 9,5 Millionen Euro über das Konsortium PharmaSea in die Hand genommen, um in nun entdeckten Meeresbakterien nach neuen Antibiotika-Möglichkeiten zu forschen. Seit über 60 Jahren sind Meeresorganismen eine Quelle für Humanarzneimittel und haben auch bei der jüngsten Coronavirus-Pandemie ihre potenziellen Möglichkeiten angedeutet. Obwohl der Schutz der Hohen See als wichtige Ressource für die menschliche Gesundheit sehr zu begrüßen ist, geht der nun geschlossene Vertrag zum Meeresschutz nicht weit genug, da er sich auf genetische Meeresressourcen und digitale Sequenzinformationen konzentriert und somit in anderen Bereichen leider recht begrenzt bleibt.
Die Hohe See birgt noch viel mehr potenziellen wirtschaftlichen Reichtum, der weit über Meerespflanzen und -organismen hinausgeht. Das Abkommen kommt zu einer Zeit, in der sich die geopolitische Energielandschaft verändert und eine Versorgungskrise entsteht, ähnlich der Ölkrise Anfang der 1970er Jahre, als die westlichen Volkswirtschaften ebenso nach neuer und erschwinglicherer Energie dürsteten wie heute. Damals, als die Natur ausgebeutet wurde, um die Energieversorgung zu sichern, gab es ähnliche Schutzgesetze nicht. Die Länder, die über die entsprechenden Technologien, Geld und Macht verfügten, haben dadurch das globale Klima so stark verändert, dass wir uns heute einer existenziellen Bedrohung gegenübersehen.
Der aktuelle Wandel in der Energie-Geopolitik birgt einige Ungewissheiten. Wichtig bleibt vor allem die Sicherung der Energieversorgung (bei weiter steigender Nachfrage). Der Meeresboden, der voller Schätze – darunter auch Erdgas – steckt, reizt Politiker und abenteuerlustige Venture-Kapitalisten gleichermaßen. Neben Erdgas gibt es in allen Ozeanen Mineralien (unter anderem kobaltreiche Ferromangankrusten, die seltene Erdmetalle und etwa 200 einzigartige Arten enthalten, sowie polymetallische Sulfide, in denen Kupfer, Gold und polymetallische Knollen zu finden sind). Ähnliches gilt für wertvolle Metalle.
Der Meeresboden, der voller Schätze steckt, reizt Politiker und abenteuerlustige Venture-Kapitalisten gleichermaßen.
Das neue Abkommen soll die Biodiversität erhalten und die Ökosysteme in der Hohen See schützen, doch die kommerzielle Förderung von Metallen und anderen Rohstoffen wird darin nicht erwähnt. Die Internationale Meeresbodenbehörde (International Seabed Authority, ISA), deren rechtliche Befugnisse sich aus dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen ableiten, verwaltet den Anspruch, den Erwerb oder die Ausübung von Rechten eines Staates oder einer Einzelperson auf Mineralien, die in „Seegebieten“ oder der Hochsee abgebaut werden. Darüber hinaus muss die ISA eine gerechte Aufteilung der finanziellen und anderen wirtschaftlichen Vorteile aus den Aktivitäten in „Seegebieten“ sowie den Schutz der Biodiversität durch Regeln, Vorschriften und Verfahren sicherstellen, beispielsweise in ihrem Mining Code. Es sollte klar sein, dass jeder Versuch, die Ökosysteme in der Hohen See für Medizin, Energie oder Metalle zu plündern, mit Sicherheit Auswirkungen auf die Ökosysteme haben wird. Ein Abkommen, das sich lediglich auf die genetischen Ressourcen des Meeres konzentriert, reicht nicht aus, um diese Ökosysteme umfassend zu schützen.
Mit dem Abkommen hätte zumindest ein Mechanismus eingeführt werden können, der dem Vorsorge- und Ökosystemansatz entspricht, um die Auswirkungen auf die Ökosysteme der Hohen See weiter zu untersuchen. Lediglich 30 der mehr als 70 Prozent der Erde, die vom Meer bedeckt sind, werden durch das Abkommen tatsächlich geschützt. Außerdem ist das Wissen über den Meeresboden, auch über die Funktionsweise der Ökosysteme, immer noch unzureichend. So sind bisher nur zehn Prozent der Meeresarten genau erfasst und beschrieben worden. Wir müssen mehr über die Hohe See wissen, bevor wir sie plündern. Denn es besteht die reale Gefahr, dass wir etwas zerstören, was nicht ersetzt werden kann.
Die Gruppe der teilnehmenden Staaten (COP), die ein Jahr nach Inkrafttreten des Abkommens eingerichtet wird, muss Prioritäten setzen: Das Schließen von Wissenslücken über die Hohe See muss vor der Ausbeutung der Ressourcen stehen. Die Maßnahmen der COP müssen dem Streben nach Ressourcenabbau in der Hochsee zuvorkommen und dieses übertreffen. Die Institution muss reaktionsfähiger und proaktiver sein – und weniger reagierend. Vor allem aber muss der Grundsatz, dass die Hohe See jedem Menschen auf der Erde gehört, auch wirklich für jeden Menschen auf der Erde Realität sein. Hunderte Millionen Menschen sind in Afrika an Malaria gestorben und noch mehr werden in Zukunft daran sterben. Wenn die Hohe See also tatsächlich ein Mittel gegen Malaria bieten kann, wäre es ein großer Misserfolg, wenn diese neue COP nicht zeitnah und angemessen liefern würde.
Aus dem Englischen von Tim Steins