Mit Stereotypen ist das so eine Sache. Die Deutschen gelten bei ihren europäischen Nachbarn als vergleichsweise unfreundlich. Wir gelten aber auch als eher rational. Doch selbst auf die Stereotype ist kein Verlass mehr. Zu beobachten ist das derzeit bei einer Energieform, die im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine und der Erderhitzung zumindest diskursiv ein Revival erlebt – der Nuklearenergie. Leider gelten wir in dieser Frage bei unseren Nachbarn weniger als gut informiert, denn als ziemlich verbohrt. Auf unsere Argumente muss man entsprechend nicht mehr hören, sie kommen vermeintlich tief aus der Ideologiekiste.
Das ist bedauerlich, denn bei Lichte betrachtet sprechen eben viele Argumente ganz sachlich dagegen, in der Nuklearenergie den Heilsbringer der Energiewende zu sehen. Viele ihrer Anhänger verfallen in eine quasi-religiöse Verehrung dieser Technologie, die in einem beachtlichen Gegensatz zu den realen Herausforderungen steht. Da werden die praktischen Probleme nonchalant unter den Reaktor gekehrt. Small Modular Reactors sind noch gar nicht marktreif? Sie werden trotzdem als Silver Bullet der Energieversorgung angepriesen. Wer mag sich zudem angesichts der wachsenden Gefahr hybrider Angriffe auf die kritische Infrastruktur allen Ernstes ein Netz von mindestens 3 000 Reaktoren rund um den Globus als zeitgemäße Lösung vorstellen – unter dieser Stückzahl lohnt sich die Produktion dieser Mini-Reaktoren im Vergleich zu konventionellen Atomkraftwerken nämlich nicht. Atomenergie ist die einzige Energieform, deren Produktionskosten in den letzten Jahren nicht gefallen sind, entsprechend wird sie immer unrentabler? Egal, sie wird trotzdem als wirtschaftliche Vernunftentscheidung ins Feld geführt. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Viele Argumente sprechen ganz sachlich dagegen, in der Nuklearenergie den Heilsbringer der Energiewende zu sehen.
Wem der Verweis auf die Sicherheitslage und die noch immer ungeklärte Frage der Endlagerung nicht überzeugend erscheint, der mag vielleicht eher mit Blick auf Dauer und Kosten zu überzeugen sein. Die Argumente der Befürworter sind immer die gleichen: Atomkraft ist klimafreundlich. Atomkraft ist günstig. Atomkraft ist verlässlich. Dabei zeigen viele Projekte, dass dem eben nicht so ist: Hinkley Point C ist ein Neubauprojekt in Großbritannien. Der Bau hat im Jahr 2017 begonnen; ursprünglich sollte das Kraftwerk dieses Jahr ans Netz gehen. Der Termin wurde allerdings auf frühestens 2028 verschoben. Von ursprünglich 19 Milliarden Euro haben sich die Baukosten schon auf 37 Milliarden Euro erhöht.
Das Bauprojekt wird vom französischen Staatskonzern EDF und dem chinesischen Staatskonzern CGN getragen. Finanziert wird das Projekt über sogenannte Contracts for Difference (CfDs). Bei diesen Verträgen, die häufig im Zuge des Ausbaus der Erneuerbaren diskutiert werden, werden sowohl Verbraucher als auch Produzenten gegen Preisschwankungen abgesichert. Bei Hinkley Point C ist die Vergütung des Stroms für sagenhafte 35 Jahre nach Inbetriebnahme garantiert. Der 2012 vereinbarte Preis lag bei 89,50 Pfund je Megawattstunde und wird an die Inflation angepasst. Damit lag und liegt der Preis deutlich über dem Strompreis im Vereinigten Königreich. Es wird geschätzt, dass die Mehrkosten für die Verbraucher 50 Milliarden Pfund betragen. Damit ist das Projekt für die Betreiber trotz der gestiegenen Kosten immer noch sehr profitabel. EDF rechnet mit einem Profit von knapp acht Prozent. Das Risiko ist dabei stark begrenzt, da die britische Regierung Garantien für den Fall abgegeben hat, dass das Kraftwerk aus politischen Gründen frühzeitig abgeschaltet werden sollte.
Auch der Blick nach Finnland zeigt die Schwierigkeiten mit dem Neubau von Atomkraftwerken. Der kürzlich in Betrieb genommene Reaktor Olkiluoto 3 gilt als leistungsstärkster Reaktor Europas. Ursprünglich sollte er schon 2009 ans Netz gehen – aus vier Jahren Bauzeit wurden 18. Da war selbst der Berliner Flughafen schneller fertig. Ursprünglich sollte Olkiluoto 3 drei Milliarden Euro kosten. Stattdessen wurden es zehn. Damit liegt er im Nuklear-Trend. Auch der französische Reaktor Flamanville 3 sollte schon 2012 ans Netz gehen. Bis heute ist das nicht passiert. Die Kosten in diesem Fall: Mindestens 12,7 statt 3,3 Milliarden. Auch diese Liste ließe sich fortsetzen.
Deutschland könnte hier für die eigene, durchaus faktenbasierte Sichtweise wesentlich besser werben, stünden wir weniger im Ruf, bei energiepolitischen Entscheidungen die eigenen Interessen und Sichtweisen durchsetzen zu wollen. Diplomatisch gibt es derzeit noch Luft nach oben. Zudem hat Deutschland in solchen Debatten natürlich eine offene Flanke, solange dreckige Kohle weiterhin eine so prominente Rolle im Energiemix spielt. Da sind wir europaweit ganz vorn – so lassen sich andere zu ihrem Energiemix natürlich schlecht belehren.
Wir sind nicht zu früh aus Atom und Kohle ausgestiegen, wir sind zu langsam auf Erneuerbare umgestiegen.
Auch in Deutschland selbst kocht die Debatte hoch. Die Heftigkeit der Auseinandersetzung steht dabei in keinem Verhältnis zur Bedeutung der Atomenergie am Strommix. Das Thema emotionalisiert. Und es polarisiert. Der Zeitpunkt des Ausstiegs mag bei den Nachbarn für Irritationen sorgen. Allerdings ist Kernenergie eben keine flexible Angelegenheit. Der Ausstieg war lange geplant und wer jetzt den Eindruck erwecken möchte, er hätte einfach revidiert werden können, täuscht die Bevölkerung. Beim gern genutzten Argument, wir seien zu früh aus Atom und Kohle ausgestiegen, wird das Argument von hinten aufgezäumt. Wir sind nicht zu früh ausgestiegen, wir sind zu langsam auf Erneuerbare umgestiegen. Dass nun ausgerechnet die Union den Vorwurf des zu frühen Ausstiegs bringt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Auf europäischer Ebene ist das Thema ebenfalls heftig umstritten. Die Debatten bremsen immer wieder die Gesetzgebung zu wichtigen energiepolitischen Reformen aus. Bei nahezu jedem Thema liegt auch die Forderung nach der Förderung der Nuklearenergie wieder auf dem Tisch. So hat sich in den vergangenen Monaten auf Initiative Frankreichs eine schillernde Atomallianz in Europa zusammengetan. Mitglieder sind Bulgarien, Finnland, Frankreich, Kroatien, die Niederlande, Polen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn; Italien hat sich nach anfänglichem Interesse einstweilen wieder zurückgezogen, Schweden nimmt wegen der Ratspräsidentschaft aktuell eine unauffällige Position ein. Die genannten Staaten haben sich eine engere Zusammenarbeit in der nuklearen Versorgungskette vorgenommen.
Insbesondere Frankreich lobbyiert dafür, die Kernkraft zur Produktion „kohlenstoffarmer Gase“ in die Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED) oder das Regulierungspaket für den Gasmarkt hineinzubekommen. Ähnlich sieht es beim Delegierten Rechtsakt zu Grünem Wasserstoff aus. Diese Bemühungen fruchteten bislang nur sehr bedingt. Und auch in die Riege der „Schlüsseltechnologien“ des Net Zero Industry Act schafften es aus dem Atomlager lediglich die bereits erwähnten und noch nicht marktreifen Small Modular Reactors. Bei der anstehenden Debatte zur Strommarkt-Reform dürfte das Thema wieder aufploppen, verbunden mit der Forderung einer staatlichen Förderung, wie sie bei den Erneuerbaren angedacht ist, so etwa über Contracts for Difference. Das Ergebnis wird voraussichtlich auch hier ein Kompromiss sein, der die Nuklearenergie nicht rigoros ausschließt, Frankreichs Bemühungen aber auch nicht wirklich weiterhilft. Dass Frankreich hier so entschieden vorgeht, offenbart ausgerechnet die Schwäche der französischen Atomindustrie. Mit einem alternden Nuklearpark und Abschaltungen in Dürreperioden ist sie in schwere Fahrwasser geraten und auf der Suche nach finanzieller Unterstützung.
Jedes Mitgliedsland entscheidet selbst über seinen Energiemix.
Anders als häufig kolportiert, geht es eben bei diesen Debatten auf EU-Ebene nicht darum, den Mitgliedstaaten ihren Energiemix vorzuschreiben. Jedes Mitgliedsland entscheidet selbst über seinen Energiemix. Das ist historisch gewachsen, macht wirtschaftlich Sinn und wird auch bei einer Vertiefung der Energieunion so bleiben. Alles andere wäre nicht durchzusetzen, auf Regierungsebene ebenso wenig wie in der Bevölkerung. Insofern müssen wir uns in dieser Debatte notgedrungen entspannen. Wer weiterhin auf Nuklearenergie setzen will, kann das tun. Zudem werden viele der aktuell lautstark angekündigten Projekte ohnehin nicht verwirklicht werden. Denn in der Praxis sieht das Atomrevival – wie skizziert – eher mau aus.
Anders als häufig von den Befürwortern kolportiert, geht es also in der europäischen Diskussion nicht um nationale Entscheidungen für oder gegen die Atomkraft. Entscheidend ist die Finanzierungsfrage. Gebunden sind die Mitgliedstaaten an die gemeinsam beschlossenen Klimaziele der EU. Nun hat Nuklearenergie tatsächlich einen niedrigeren CO2-Fußabdruck als fossile Energieträger wie Kohle, Öl oder Gas. Nur nutzen uns CO2-arme Kraftwerke, die in 20 Jahren ans Netz gehen, in den herausfordernden nächsten zehn bis 15 Jahren herzlich wenig. Und hier kommen wir zum Kern der Debatte – den Finanzierungsquellen. Die Finanzierung solcher Projekte kann konsequenterweise nicht über die einschlägigen europäischen Töpfe erfolgen, die für die Energiewende aufgelegt wurden. Diese Gelder werden benötigt für den Ausbau der Erneuerbaren und die Entwicklung ergänzender Technologien wie Batterien und intelligente Netze. Denn diese ermöglichen die Energiewende jetzt und nicht erst eines fernen Tages. Die entsprechenden EU-Mittel reichen bei weitem nicht aus, um Wetten auf die Zukunft abzuschließen.
Ein besorgniserregend hoher Anteil sowohl der bestehenden als auch der geplanten Atomkraftwerke basieren auf Kooperationen mit russischen Unternehmen.
Ein weiterer Punkt ist die europäische Unabhängigkeit. Ein besorgniserregend hoher Anteil sowohl der bestehenden als auch der geplanten Atomkraftwerke basieren auf Kooperationen mit russischen (auf globaler Ebene auch chinesischen) Unternehmen, die zudem noch staatsnah sind. Das verstärkt die Gefahr technologischer und finanzieller Abhängigkeit und birgt die Gefahr politischer Einflussnahme. Alle aktuellen Diskurse zu strategischer Autonomie, Souveränität und Diversifizierung laufen dem entgegen. Wer sich ausgerechnet in der Frage der kritischen Energieversorgung weiterhin sehenden Auges autoritären Staaten ausliefert, spielt mit dem Feuer.
Schwieriger ist die Situation bei bestehenden Atomreaktoren. Ungarn und Bulgarien, Tschechien und Finnland, die Slowakei und Slowenien haben zusammen 19 Reaktoren russischer Bauart. Sie sind entsprechend angewiesen auf russische Brennelemente. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die EU bislang eher zögerlich agiert und den Nuklearsektor nicht auf die Sanktionsliste setzt. Den Osteuropäern über Sanktionen diese Atomkraftwerke quasi abzuschalten, würde für viel böses Blut sorgen und vermutlich den pro-russischen Stimmen in einigen osteuropäischen Ländern Rückenwind verschaffen. Es bräuchte erst sehr überzeugende Angebote, wie der Ausfall zu kompensieren wäre. Die Beispiele der Ukraine und Tschechiens zeigen, dass ein Umstieg etwa auf US-amerikanische Technologie zwar möglich ist, allerdings Zeit braucht.
Ohne die Atomkraftwerke hätte die militärische Infrastruktur Frankreichs massive Probleme.
Hinzu kommt der nukleare Rüstungssektor. Ohne die Atomkraftwerke hätte die militärische Infrastruktur Frankreichs massive Probleme. Das fängt bei der Forschung an, geht über Lieferketten und Handelsbeziehungen und hört bei den Arbeitskräften noch lange nicht auf. Für seine Atomwaffen braucht Frankreich die zivile Kernkraft. Es ist völlig unrealistisch, sich vorzustellen, dass das Land freiwillig in naher Zukunft auf die nukleare Abschreckung verzichten würde. Und entsprechend wird Frankreich auch weiterhin nach Absatzmärkten für seine Nukleartechnologie suchen. Es ist aber niemandem gedient, wenn die Nuklearfrage zum permanenten spannungsgeladenen Nebenschauplatz der europäischen Energiewende wird.
Die Kooperation der französischen Nuklearindustrie mit dem russischen Staatskonzern Rosatom gibt allerdings Anlass zur Sorge. Zwar ist Frankreich beim Uran nicht so stark von russischen Lieferungen abhängig wie einige osteuropäische Staaten, aber es bestehen durchaus Verflechtungen über gemeinsame Projekte in Drittstaaten. Kritiker sehen darin eine indirekte Förderung der geopolitischen Strategie Russlands. Präsident Macron ist der engagierteste Verfechter einer strategischen Autonomie Europas. Eine fortgesetzt enge Kooperation mit Russland ausgerechnet im sensiblen Bereich der Nukleartechnologie käme weder besonders strategisch noch besonders autonom rüber.
Entsprechend ist es aus europäischer Sicht besorgniserregend, dass sich eine wachsende Zahl an Staaten im Globalen Süden über die Nutzung der Nuklearenergie bei China oder Russland verschuldet und von diesen in ihrer Energieversorgung abhängig sind. Derzeit befinden sich weltweit 57 Kernkraftwerke im Bau, davon 22 in China und fünf in Russland. Von den übrigen 30 Bauprojekten werden 15 von russischen Firmen betrieben. China hat mit 25 Ländern weltweit Absichtserklärungen für nukleare Kooperationen unterzeichnet. Allerdings gibt es derzeit erst drei konkrete Projekte – zwei bereits in Betrieb genommene Kraftwerke in Pakistan und ein geplanter Reaktorneubau in Argentinien. Obgleich sich Atomkraft auch dort rein wirtschaftlich nicht bezahlt machen dürfte und ihr Beitrag zu Klimaschutz und Energiesicherheit angesichts der langen Bauzeiten bezweifelt werden muss, gilt Atomkraft vielerorts als Symbol nationalen Prestiges. Da die russische Rosatom für den Neubau von Atomkraftwerken All-inclusive-Lösungen samt technischem Wissen, Sicherheitsschulungen und Finanzierung anbietet, ist die Firma gerade für Länder attraktiv, die kaum Vorerfahrungen mit der Atomkraft haben. Wer diese Entwicklung in Europa mit Sorge betrachtet, der sollte dringend bessere Angebote und auf Erneuerbaren basierende Energiepartnerschaften auf der vielzitierten Augenhöhe auf den Tisch legen.