Die Polykrise, die wir derzeit erleben, hat nicht nur Verlierer. Erstmals seit 25 Jahren nehmen, so pervers das klingen mag, extremer Reichtum und extreme Armut gleichzeitig zu. Schlimmer noch: Wir müssen uns akut um eine Vielzahl weiterer Probleme kümmern, von hohen und weiter steigenden Staatsschulden, der Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse und Inflation bis hin zu Klimawandel und Ernährungsunsicherheit.

Um unsere Volkswirtschaften wieder auf Wachstumskurs zu bringen und auf eine nachhaltige Entwicklung auszurichten, müssen wir uns gedanklich noch einmal grundlegend mit Theorie und Praxis der Ökonomie auseinandersetzen und uns die Elemente herausgreifen, die bislang übersehen wurden. So hat die Pandemie zwar die völlig unzureichende Ausstattung des Pflegebereichs offengelegt, doch vernachlässigen viele Regierungen und Unternehmen diesen Teil der Wirtschaft auch weiterhin.

In Lateinamerika räumt eine feministische Ökonomie dem Pflegesektor Vorrang ein.

Beachtenswerte Ausnahmen finden sich in Lateinamerika, wo eine feministische Ökonomie dem Pflegesektor Vorrang einräumt. Diese intellektuelle und politische Bewegung zeigt völlig neue wirtschaftliche Perspektiven auf, treibt politische Innovationen voran und bezieht mehr Frauen in wirtschaftspolitische Entscheidungsprozesse ein.

Die feministische Ökonomie rückt ins Bewusstsein, dass wirtschaftliche Ungleichheit geschlechtsspezifische Ursachen hat. Wir wissen, dass Frauen meist weniger verdienen als Männer, dass sie auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind und darüber hinaus den Löwenanteil der unbezahlten Care-Arbeit verrichten. Das erklärt, warum Frauen in aller Welt überproportional von Armut betroffen sind. Mit der Pandemie und der damit einhergehenden Krise in Wirtschaft, Gesundheitswesen und Pflege haben sich geschlechtsspezifische Ungleichheiten sogar noch verstärkt. Viele Frauen, denen nichts anderes übrig blieb, als ihren Job aufzugeben, kehren nun langsamer wieder in den Arbeitsmarkt zurück als Männer. Doch Argentinien, Bolivien und Ecuador haben Ende 2021 als einzige Länder Südamerikas das vorpandemische Frauenerwerbsniveau wieder erreicht.

Der Fall Argentinien ist besonders aufschlussreich, denn dort übt eine lebendige und kreative feministische Bewegung Druck auf die Politik aus, neue theoretische Rahmenbedingungen und Messgrößen einzuführen, damit sich die Genderdynamik in der Wirtschaft verbessert. Politikerinnen sorgen in enger Zusammenarbeit mit feministischen Gruppierungen dafür, dass sich politische Entscheidungen auch an den Bedürfnissen von Frauen orientieren. Dies wirkte sich entscheidend auf die Maßnahmen in der Corona-Krise aus. Im Covid-19 Global Gender Response Tracker der Vereinten Nationen, der die Frauenfreundlichkeit von Corona-Maßnahmen erfasste, stand Argentinien nicht zufällig an der Spitze.

Zu Beginn der Pandemie forderten Feministinnen im argentinischen Kabinett Finanzleistungen für Mütter, mehr Investitionen in die Pflegeinfrastruktur, Konjunkturmaßnahmen für eine bessere Beschäftigung von Frauen in männerdominierten Branchen wie Technologie, Energie und Bergbau, strengere Regelungen für die Beschäftigung von Hausangestellten sowie Reformen des Rentensystems durch die Anerkennung unbezahlter Arbeit. Die einflussreiche Interessenvertretung führte auch dazu, dass Argentinien seinen ersten Nationalen Gender-Haushalt entwickelte, dank dem anhand geschlechtsspezifischer Indikatoren politische Maßnahmen effektiver entwickelt und umgesetzt werden können.

Diese Anstrengungen, die aus dem politischen Engagement zahlreicher Frauennetzwerke hervorgingen, zahlen sich aus, denn die Beschäftigung und die wirtschaftliche Teilhabe von Frauen ist spürbar gestiegen. Doch die Ziele sind noch lange nicht erreicht, insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmend apokalyptischen globalen Zukunft. Sobald die Inflation einen Grenzwert übersteigt, bleibt in der konventionellen Wirtschaftspolitik weitgehend unberücksichtigt, ob die Welt mit einer Rezession konfrontiert ist, einer Schuldenkrise, Inflation, Nahrungsmittel- und Energieknappheit und einem Klimanotstand. Die Maßnahmen sind immer dieselben: Zinserhöhungen und Sparpolitik.

In Lateinamerika und anderen Regionen, in denen die Armut ein kritisches Ausmaß erreicht hat, sind Investitionen in Frauen und Mädchen wichtiger denn je.

Doch solche Maßnahmen können eine Krisensituation nicht nur weiter verschlimmern, sondern sie führen zudem ein System fort, in dem internationale Finanzinstitutionen Machtungleichgewichte ausnutzen, um immer nur die Ausgaben ins Visier zu nehmen – etwa für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur –, auf die gerade die Schwächsten der Gesellschaft besonders angewiesen sind. In Lateinamerika und anderen Regionen, in denen die Armut ein kritisches Ausmaß erreicht hat, sind Investitionen in Frauen und Mädchen wichtiger denn je. Die Bewältigung der Pflegekrise – eine bessere Infrastruktur, anständige Jobs und gerechtere Löhne – muss Vorrang vor Ausgabenkürzungen haben. Wie die Pandemie bewiesen hat, ist die Care-Ökonomie ein entscheidender strategischer Sektor.

Jedem Laien mag es spontan einleuchten, dass nichts Gutes dabei herauskommt, wenn in einer Volkswirtschaft der Arbeitsmarkt vernachlässigt wird. Dies jedoch wird in konventionellen Wirtschaftsmodellen weitgehend verschleiert oder schlicht verdrängt. Auch der feministischen oder geschlechtsspezifischen Perspektive kommt in politischen Debatten oft nicht die Bedeutung zu, die sie verdient. Ungleichheit durchdringt die Wirtschaftspolitik und beeinflusst das gesamtwirtschaftliche Ergebnis. In der Gleichheit liegt daher der Schlüssel zum Aufbau einer inklusiveren, nachhaltigeren und funktionierenden Wirtschaft.

Gleichstellungspolitik zielt nicht nur auf Sensibilisierung ab. Erforderlich sind vor allem finanzielle Ressourcen und nachhaltiges Engagement der Verantwortlichen auf allen Regierungsebenen. Nur unter Beteiligung von Feministinnen in der Regierung lassen sich nennenswerten Fortschritte erzielen. Die jüngsten Wahlen in Südamerika geben daher Anlass zur Hoffnung. Mit Francia Márquez wurde in Kolumbien eine berühmte Menschenrechts- und Umweltaktivistin als erste schwarze Frau zur Vizepräsidentin gewählt. Dem Kabinett des chilenischen Präsidenten Gabriel Boric gehören mehr Frauen als Männer an. Und der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat mit Marina Silva und Anielle Franco zwei hoch angesehenen Frauen die Ressorts Umwelt und Gleichstellung übertragen.

Die gängige Wirtschaftstheorie und -praxis stecken tief in der Vergangenheit fest.

Die gängige Wirtschaftstheorie und -praxis stecken tief in der Vergangenheit fest. Wir brauchen nicht nur neue Denkansätze, sondern auch eine Demokratisierung des ökonomischen und finanzpolitischen Wissens. Nur so lassen sich die absichtlich undurchsichtigen politischen Verfahren und Theorien entmystifizieren, die bislang verhindern, dass sich Frauen, junge Menschen und andere marginalisierte Gruppen an wirtschaftlichen Entscheidungen, die sie betreffen, auch beteiligen können.

Argentinien steht vor einem schmalen finanzpolitischen Korridor, und Organisationen wie der Internationale Währungsfonds werden in den kommenden Monaten Sparmaßnahmen vorantreiben. Angesichts drohender Rezession und weiterer ungerechter und rückwärtsgerichteter Maßnahmen, die bestehende Ungleichheiten nur noch verschärfen werden, müssen wir unsere Stimme erheben und den Bruch mit der Tradition einfordern. Die alte Formel „wachsen und dann umverteilen“ muss auf den Kopf gestellt werden: Wir müssen umverteilen, um zu wachsen.

Die feministische Ökonomie kann uns hier den Weg weisen. Mit Instrumenten wie geschlechtersensiblen Haushalten und Vermögenssteuern – und mit Investitionen in Schulen, Altenzentren und andere Pflegeinfrastruktur – können wir den Bedürfnissen und Anforderungen der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts besser gerecht werden.

© Projekt-Syndikat

Aus dem Englischen von Anne Emmert