Wie gewonnen, so zerronnen? Die Erleichterung war groß, als sich im Dezember letzten Jahres der Europäische Rat, die EU-Kommission und das Europäische Parlament auf einen Gesetzestext zu einer europaweiten Richtlinie über die Einhaltung von sozialen und ökologischen Standards in den globalen Lieferketten einigten. Knapp drei Jahre hatte der Prozess gedauert. Europa bewies damit nicht nur, dass es willens ist, die Menschenrechte in den weltweiten Lieferketten zu schützen. Europa zeigte auch, dass es trotz Schuldenkrise, Brexit und zunehmendem rechtem Populismus noch immer progressive Gesetze verabschieden kann. Die deutsche Bundesregierung spielte darin lange Zeit eine wichtige Rolle. Als größte Wirtschaftsnation in der EU mit eigenem Lieferkettengesetz gilt Deutschland für viele Mitgliedsländer als wichtiger Orientierungspunkt.

Umso größer war die europaweite Irritation, als Deutschland kurz vor der Entscheidung im Rat mitteilte, sich enthalten zu wollen. Diese unerwartete Kehrtwende löste eine Welle der Empörung aus und führte zu einem verstärkten Misstrauen über die Verlässlichkeit der deutschen Position im europäischen Gefüge. Gleichzeitig stärkte es innerhalb der Mitgliedsländer Unsicherheiten und jene Akteure, die sich seit jeher gegen das Gesetz positionieren. Die geplante Abstimmung der Mitgliedsländer für vergangene Woche wurde kurzerhand abgesagt, da die notwendige Mehrheit nicht zustande gekommen wäre. Ein neuer Versuch soll in Kürze unternommen werden. Ob dieser gelingt, hängt an Deutschland, aber nun auch an Ländern, wie etwa Italien oder kleineren Mitgliedstaaten, die noch zur Zustimmung überzeugt werden könnten.

Das EU-Lieferkettengesetz ist ein wichtiger Meilenstein für den Schutz von Mensch und Umwelt in den weltweiten Handelsströmen.

Was in den Medien immer wieder als angebliches „Bürokratiemonster“ oder „Belastung für die Wirtschaft“ diskutiert wird, ist vielmehr der Beginn eines regelbasierten und längst überfälligen Versuchs, globales Wirtschaften den ökologischen und sozialen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Das EU-Lieferkettengesetz ist ein wichtiger Meilenstein für den Schutz von Mensch und Umwelt in den weltweiten Handelsströmen. Denn das Gesetz würde einen Paradigmenwechsel einläuten: weg von der Freiwilligkeit, gemäß der sich die zu kontrollierenden Unternehmen allenfalls selbst überwachen, hin zu staatlich verpflichtenden und transparenten Auflagen für Unternehmen auf dem europäischen Markt.

In einigen Aspekten würde das EU-Lieferkettengesetz über das deutsche hinausgehen. Es soll etwa für Unternehmen ab 500 Mitarbeitenden und einem Jahresumsatz von mehr als 150 Millionen Euro gelten. Wenn Unternehmen mit 250 Mitarbeitenden in einem Risikosektor tätig sind, wie dem Handel mit Edelmetallen, fallen auch sie unter das Gesetz. Das betrifft aber nur jene Unternehmen, die einen jährlichen Umsatz von 40 Millionen Euro haben. Es ist daher unlauter und rein politisch motiviert, wenn behauptet wird, dass kleine Unternehmen übermäßig durch das Gesetz in die Mangel genommen werden. Vielmehr zeigt die Erfahrung, dass gerade in diesen Risikobranchen Menschenrechtsverletzungen wesentlich häufiger an der Tagesordnung sind. Auch sieht das europäische wie das deutsche Gesetz zahlreiche Unterstützungsangebote für Unternehmen und Branchen vor.

Im besten Fall treten Schäden somit gar nicht erst ein, sondern werden präventiv verhindert.

Unternehmen, die vom Gesetz erfasst sind, müssen in Zukunft ihre Produktionswege genau prüfen: Gibt es darin Risiken für Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen? Falls ja, müssen Unternehmen diese Risiken priorisieren und dann geeignete Gegenmaßnahmen ergreifen. Im besten Fall treten Schäden somit gar nicht erst ein, sondern werden präventiv verhindert. Sofern es aber zu Verletzungen kommt, sieht die Richtlinie einerseits vor, dass eine europäische Aufsichtsbehörde, ähnlich dem deutschen Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), die Einhaltung des Gesetzes überwacht und gegebenenfalls Abhilfemaßnahmen oder Sanktionen anordnen kann. Andererseits soll eine zivilrechtliche Haftung eingeführt werden, die es bisher im deutschen Lieferkettengesetz so nicht gibt. Unternehmen werden dabei stets daran gemessen, ob sie ihre Bemühungspflicht erfüllt haben, das heißt, ob sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles Notwendige veranlassen. Mehr nicht und weniger auch nicht.

Wie wichtig eine zivilrechtliche Haftung ist, zeigte sich beispielsweise vor elf Jahren bei einem Fabrikbrand in Pakistan. Hunderte Menschen starben, während sie Kleidung für den deutschen Markt produzierten. Der Brandschutz in der Fabrik Ali Enterprises war trotz regelmäßiger Untersuchungen mangelhaft: Der Hauptkunde KiK hatte sich über Jahre zu wenig für die Arbeitsbedingungen bei seinem Zulieferer interessiert und eingesetzt. Vier Betroffene klagten vor einem deutschen Gericht und forderten Schmerzensgeld – die Klage wurde abgewiesen, weil sie letztlich nach pakistanischem Recht verjährt war.

Der Fall zeigt, für Betroffene war es bislang fast unmöglich, Entschädigung tatsächlich einzuklagen, wenn ein europäisches Unternehmen seinen menschenrechtlichen Pflichten nicht nachgekommen ist. Mit dem EU-Lieferkettengesetz würde sich das ändern: Betroffene – wie die pakistanischen Textilarbeiterinnen – würden Zugang zu Gerichten in den EU-Mitgliedstaaten bekommen. Sie könnten auf Schadensersatz klagen und bei Gericht auch die Herausgabe von Informationen von Unternehmen erwirken. Fälle sollen erst nach fünf Jahren verjähren – all das sind deutliche Fortschritte im Vergleich zum deutschen Lieferkettengesetz, das keine Regelungen zur Haftung enthält.

Aber anders als von der FDP und den Wirtschaftsverbänden behauptet, ist künftig weder mit einer Klagewelle zu rechnen, noch wird es extreme Bußgelder hageln oder werden Unternehmensvorstände mit einem Bein im Gefängnis stehen. Vielmehr zeigen die Erfahrungen mit dem französischen Lieferkettengesetz, welches den Weg vor die Zivilgerichte auch für Schadensersatzklagen eröffnete, dass es für Betroffene in den globalen Lieferketten mitnichten einfach ist, den Anforderungen eines Zivilprozesses zu genügen und Klage einzureichen. Auch in Zukunft wird es nur in besonders gravierenden Fällen möglich sein. Und aufgrund des Drucks der Gegnerinnen und Gegner des Gesetzes gibt es auch Ausnahmen: Für kollektiv genutzte Rechte, wie beispielsweise die Rechte von Gewerkschaften oder betroffenen indigenen Gruppen, greift die zivilrechtliche Haftung nicht.

Das EU-Lieferkettengesetz würde im Vergleich zum deutschen Gesetz auch Umwelt- und Klimaschutz stärken.

Das EU-Lieferkettengesetz (englisch: Corporate Sustainability Due Diligence Directive, CSDDD) würde im Vergleich zum deutschen Gesetz auch Umwelt- und Klimaschutz stärken. Hier geht Europa sogar weiter, als es Deutschland in den Verhandlungen bereit war, und greift das im Pariser Klimaabkommen festgelegte 1,5-Grad-Ziel auf. Die verpflichteten Unternehmen müssten fortan einen sogenannten Transition Plan vorlegen, wie sie im Rahmen ihrer Unternehmensstrategie zur Erreichung des Klimaschutzziels beitragen können. Auch werden sie angehalten, ihre Sorgfaltspflichten bezüglich schädlicher Bodenveränderungen, Wasser- oder Luftverschmutzung oder übermäßigen Wasserverbrauchs an ihren Produktions- und Weiterverarbeitungsstätten nachzukommen. Auch hier zeigt sich die Handschrift der Wirtschaftslobby, so sollen die zuständigen Behörden nur kontrollieren, ob ein Unternehmen einen solchen Plan erstellt und dieser die inhaltlichen Anforderungen erfüllt, nicht aber, ob das Unternehmen diesen auch umsetzt.

Obwohl es nach einem Jahr noch recht früh ist, eine Bilanz des deutschen Lieferkettengesetzes zu ziehen, steht fest, dass es erste positive Beispiele gibt, was eine solche Regulierung erreichen kann. Unternehmen berichten, dass sich ihr Blick auf ihr Management und die Zusammenarbeit mit Zulieferern ändert. Sie führen Beschwerdemechanismen ein, sind sich der Einbeziehung von Rechteinhabenden bewusst und erhalten dadurch Zugang zu einem breiten Wissen, was in ihren Lieferketten wo passiert.

Insbesondere für die Arbeit von Gewerkschaften in Produktionsländern wie etwa Pakistan oder Ecuador hat sich das Lieferkettengesetz schon jetzt gelohnt. Denn die Beschwerden, die Gewerkschaften gegen Unternehmen der Nahrungsmittel- beziehungsweise Textilbranche bei den Unternehmen selbst einreichten, ermöglichen es ihnen erstmals, ihre Forderungen bezüglich der Organisationsfreiheit als Gewerkschaften, angemessener Mindestlöhne sowie der Arbeitsplatzsicherheit vorzubringen. Sie haben durch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz erstmals Zugang zum deutschen Unternehmensmanagement erlangt, was vor Ort dazu führte, dass lokale Zulieferer erstmals ernsthaft mit ihnen verhandelten. Das deutsche Lieferkettengesetz verändert nicht automatisch prekäre Arbeitsbedingungen, aber es kann in jedem Fall die Verhandlungsposition von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern erheblich stärken – und damit der Anfang substanzieller und nachhaltiger sozialer Verbesserungen sein.

Unternehmerische Sorgfaltspflicht ist auch an sich ein wichtiges industriepolitisches Instrument.

Neben diesen Lehren aus dem deutschen Gesetz, die die europäische Richtlinie stärken würde, ist unternehmerische Sorgfaltspflicht auch an sich ein wichtiges industriepolitisches Instrument. Die europäische Lieferkettenregulierung ist kein bürokratischer Hemmschuh für unternehmerische Innovationen, sondern stärkt vielmehr einen risikobasierten Ansatz, der Unternehmen eine schlanke und effektive Umsetzung ermöglicht. Unternehmen werden so in die Lage versetzt, rechtssichere und zielgenaue Maßnahmen einzusetzen, um Menschenrechts- und Umweltrechtsverletzungen zu vermeiden. Dafür ist ein EU-Lieferkettengesetz mit klaren und transparenten Regeln notwendig. Denn nur starke Gesetze können Lösungen schaffen, die praxistauglich und ohne unverhältnismäßigen Aufwand wirken.

Zahlreiche Unternehmen nahmen in den letzten Wochen in Europa Stellung und sprachen sich für ein Gesetz aus. So auch in Deutschland, wie der größte deutsche Textildiscounter KiK, Chemie- und Pharmakonzern Bayer oder das Kaffee- und Konsumgüterunternehmen Tchibo, die erkennen, dass eine EU-weit vereinbarte unternehmerische Sorgfaltspflicht gerade in Zeiten eines vermehrt bewussten und kritischen Konsumverhaltens einen echten Wettbewerbsvorteil verspricht. Es wäre wirtschaftspolitisch fahrlässig, die darin liegende ökonomische Chance und den damit verbundenen Marktvorteil für europäische Produkte nicht zu nutzen. Gleichzeitig schafft das EU-Gesetz auch das lang geforderte level playing field für Unternehmen: Es setzt für alle Unternehmen gleiche Spielregeln.

Die Europäische Union sollte gerade in Zeiten von multiplen Kriegen und Krisen für den Schutz von Menschenrechten und Umwelt sowie für den Kampf gegen den Klimawandel einstehen. Sie könnte das zentrale Signal an alle Beschäftigten weltweit senden, dass sie auf politischer Ebene nicht nur ihre Rechte ernst nimmt, sondern ihnen auch ein Instrument für eine bessere Verhandlungsmacht in die Hände gibt. Genauso würde sie ein Signal an all die Unternehmen und Industrien senden, die sich seit Langem gegen Ausbeutung und Kinderarbeit einsetzen. Es bleibt zu hoffen, dass das noch vor den nahenden Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024 passiert. Sollte das nicht gelingen, zahlen am Ende wieder nur diejenigen den Preis, die weltweit am Anfang vieler Lieferketten für unseren Konsum und unseren Wohlstand arbeiten.