In den Hallen des Parc des Expositions im Pariser Vorort Le Bourget reckten die Menschen die Faust in die Luft, umarmten sich, vergossen Freudentränen. Nach etwa 20 Jahren harter Arbeit war am 12. Dezember 2015 ein Abkommen zum Greifen nah – die letzte Hoffnung für die Rettung der Menschheit und ihres einzigen lebenserhaltenden Planeten, unserer Erde. Verständlicherweise begrüßte die französische Regierung – die als Gastgeber auftrat – das Übereinkommen von Paris als einen in der Geschichte der Klimaverhandlungen „nie da gewesenen“ Erfolg. Und tatsächlich war es etwas absolut Neues. Doch acht Jahre, nachdem der damalige französische Außenminister Laurent Fabius das Abkommen symbolisch mit einem Schlag seines grünen Hammers besiegelte, befinden sich die Planungen in einem desolaten Zustand.
Doch eine konkrete Klausel gibt Anlass zur Hoffnung. Artikel 14 sieht „in regelmäßigen Abständen eine Bestandsaufnahme der Umsetzung“ vor, „um die gemeinsamen Fortschritte bei der Verwirklichung des Zwecks dieses Übereinkommens und seiner langfristigen Ziele zu bewerten“. Verglichen mit dem Jubel beim Abschluss des Pariser Abkommens, traf die Veröffentlichung der ersten weltweiten Bestandsaufnahme der Vereinten Nationen am 8. September auf wenig frohe Stimmung. Zu bewerten war vor allem, ob jeder einzelne Staat die Begrenzung des durchschnittlichen globalen Temperaturanstiegs auf unter zwei Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Niveau erreicht hat und wie er zu verhindern gedenkt, dass die Erwärmung 1,5 Grad übersteigt. Stattdessen entpuppte sich die 46-seitige Bestandsaufnahme der Vereinten Nationen als eine „allgemeine Bewertung der Resultate nationaler Klimapolitik“, die in den national festgelegten Beiträgen (National Determined Contributions, NDC) enthalten ist. Sie enthält nur einen winzigen Teil der Hunderttausenden von Seiten, in denen geschildert wird, wie jedes einzelne Land den Klimawandel eindämmt und sich an die Klimawandelfolgen anpasst. Man war sich wohl bewusst, dass für eine sinnvolle Rechenschaftspflicht Transparenz vonnöten ist, und so wurden in der Bestandsaufnahme weder einzelne Länder noch Regionen genannt. Von wahrem Teamgeist zeugt, dass jeder Staat dieselbe Bewertung erhielt.
Wie hier präzise Umsetzungsdaten verschwiegen und damit konkrete Ergebnisse verschleiert werden, lässt auf ein Versagen des Multilateralismus schließen. Ein solches Vorgehen zerstört Vertrauen und ist ein Ausdruck der heute herrschenden globalen Multipolarität. Eine Bestandsaufnahme des Versagens einzelner Staaten hätte die aktuelle globale Krise, die auf multilateralen Gipfeln wie denen der G7 auch die besten Köpfe nicht zu lösen vermögen, weiter verschärft. Und so wurde die wertlose Bestandsaufnahme ohne viel Aufhebens zu den Akten gelegt. Immerhin machen sich die Autoren die Mühe, dezidiert darauf hinzuweisen, dass die Bemühungen der Afrikaner – deren Emissionen für den Klimawandel zu vernachlässigen sind – ebenso ins Leere gelaufen sind wie die der Amerikaner – deren Rekord-Emissionen denen der Europäischen Union in nichts nachstehen und die schamlos wahlweise behaupten, dass die Chinesen für den Klimawandel verantwortlich sind oder der Krieg in der Ukraine ihn verschlimmert.
Mit dem Ausdruck „Weltgemeinschaft“ schreibt man ungeniert allen Staaten dieselbe Verantwortung zu.
Gerade so, als hätte der Klimawandel für Afrika und Amerika dieselben Folgen, gelangt man in der Bestandsaufnahme zu dem Schluss, dass „die Weltgemeinschaft trotz einiger Fortschritte nicht auf dem Weg ist, die langfristigen Ziele des Pariser Übereinkommens zu erreichen“. Mit dem Ausdruck „Weltgemeinschaft“ schreibt man ungeniert allen Staaten dieselbe Verantwortung zu, wodurch die Bestandsaufnahme unbrauchbar wird. Auch wird vorausgesetzt, dass es überhaupt eine Gemeinschaft gibt, in der alle über dieselben Ressourcen und Kapazitäten verfügen, von gemeinsamem Umsetzungswillen beseelt und somit bestrebt sind, die durch die Klimawandelfolgen ausgelöste globale Katastrophe abzuwenden. Wie der gegenwärtige Zustand der Multipolarität deutlich belegt, trifft nicht eine dieser Annahmen zu. So beklagte der französische Präsident Emmanuel Macron im vergangenen Jahr, die Vereinigten Staaten hätten sich „aus den meisten Vereinbarungen, zu deren Entstehen sie beigetragen haben, zurückgezogen, […] unter anderem aus dem Pariser Klima-Übereinkommen“. Macron warnte, der Multilateralismus sei „sehr fragil“.
Bundeskanzler Olaf Scholz stellte kürzlich in der UN-Vollversammlung treffend fest: „Multipolarität ist keine normative Kategorie, sondern eine Zustandsbeschreibung.“ Die Bestandsaufnahme zum Klima liefert empirische Belege für diesen „Zustand“, wenn es darin heißt, „die strategische Unterstützung des Kapazitätsaufbaus für Entwicklungsländer muss aufgestockt werden“. Eine solche Unterstützung besteht in erster Linie darin, den Entwicklungsländern mehr erschwingliche Technologien für erneuerbare Energien und bessere Finanzierungsmöglichkeiten für den Klimaschutz bereitzustellen.
Dass ein substanzieller Technologietransfer im Bereich der erneuerbaren Energien von Industrie- in Entwicklungsländer nicht stattfindet, ist nur ein Beispiel für das Versagen der imaginären Weltgemeinschaft, in der Menschenleben in jeweils anderen Ländern keine Rolle spielen. Macron sieht die Lösung unter anderem in der Bewahrung eines „wirksamen Multilateralismus“. Die Misserfolge spiegeln indes wider, wie sehr es bei der – bislang – größten Herausforderung für unseren Planeten an globaler Zusammenarbeit mangelt, und so stellt sich die Frage, ob Multilateralismus nicht einfach nur eine normative Vorstellung ist. Immerhin ist zu bedenken, dass die Klimawandelfolgen den Tod von Menschen nach sich ziehen, und da es keine Gesellschaft gutheißen kann, wenn am Horn von Afrika durch eine klimawandelbedingte Dürre Menschen sterben, könnte das Abkommen doch noch davor bewahrt werden, zu einer puren diskursiven Norm zu verkommen.
Eine unbestrittene Tatsache wird in der Bestandsaufnahme zum Glück nicht verschwiegen: „Der Klimawandel bedroht alle Länder“. Dieser Hinweis ist wichtig, denn wenn man verhindern will, dass die Umweltkrise sich zu einer globalen humanitären Krise auswächst (insbesondere „für diejenigen, die am schlechtesten für den Wandel gerüstet sind und am meisten unter Katastrophen leiden“ – mithin die Menschen in Afrika), so müssen Finanzhilfen für Anpassungsmaßnahmen insbesondere in den Entwicklungsländern erhöht sowie Verluste und Schäden durch die Klimawandelfolgen minimiert werden. Im Unklaren bleibt allerdings, ob beispielsweise die Amerikaner oder die Chinesen jetzt mehr Verantwortung übernehmen müssen, um Menschenleben in Afrika zu retten.
Auf der nächsten Weltklimakonferenz COP28 wird die aktuelle Bestandsaufnahme im Mittelpunkt stehen. „Noch nie war so klar, wie wichtig kollektives Handeln ist“, stellt der designierte Präsident Sultan Ahmed Al Jaber in seinem Brief an die zur nächsten COP erwarteten Staats- und Regierungschefs fest und unterstreicht damit die geopolitische Uneinigkeit.
Die Botschaft, dass die Welt „nicht auf dem Weg ist, die langfristigen Ziele des Pariser Übereinkommens zu erreichen“, ist nur jenen neu, die das Schicksal der von den Klimawandelfolgen am stärksten bedrohten Menschen bislang ignoriert haben. Alle anderen, die die Unverfrorenheit einer solchen Haltung klar erkennen, wissen um die vielen multilateralen Projekte, mit denen versucht wird, das Potenzial des Abkommens zur Gänze auszuschöpfen. Doch offensichtlich ist der Multilateralismus für die Lösung globaler Probleme nicht sonderlich gut geeignet. Politisch zeigt sich dies in Macrons Streben nach einer „strategischen Autonomie“ Europas. Olaf Scholz, der den mangelnden Multilateralismus beklagt, erklärt, dass „wir auch heute – gerade heute – den Mut, die Kreativität und den Willen brauchen, Gräben zu überwinden. Gräben, die sich tiefer auftun denn je.“ Die nüchterne Aussage des Bundeskanzlers, die deutsche Politik werde sich nicht abschotten, sowie sein Versprechen, Deutschland werde „an der Seite der Menschen in größter Not stehen“, ist ein Hoffnungszeichen inmitten all der Verzweiflung und Mutlosigkeit. Gerade vor dem Hintergrund, dass die deutsche Entwicklungszusammenarbeit den international vereinbarten Anteil von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens übersteigt, ist Deutschland gut aufgestellt für das Vorhaben, den UN-Sicherheitsrat sowie multilaterale Institutionen wie die Weltbank zu reformieren. Das ist gut, denn Frieden und Energie sind eine wesentliche Voraussetzung für Entwicklung. Statt allerdings zu erklären, dass „wir alle gemeinsam mehr […] für die Erreichung der Pariser Klimaziele“ tun müssen, sollte Scholz klar darauf hinweisen, dass die Industriestaaten eine größere Verantwortung tragen, der sie überwiegend nicht gerecht werden.
Die erste Bestandsaufnahme des Pariser Übereinkommens zeigt, dass die Politik nun vor der Aufgabe steht, im Kampf gegen den Klimawandel eine praktikable und sinnvolle globale Kooperation herbeizuführen und die Zusammenarbeit auf das gemeinsame Wohl auszurichten, damit der weltweite Temperaturanstieg 1,5 Grad nicht übersteigt. Die national festgelegten Beiträge dürfen nicht nur politische Versprechen für die Einhaltung dieses Ziels enthalten, sondern müssen ihren Zweck auch wirklich erfüllen. Daher muss die nächste Bestandsaufnahme, die 2028 ansteht, jeden Staat an seinen Zusagen messen. Wenn alle Staaten Verantwortung übernehmen, stärken sie das Vertrauen, das für einen funktionierenden Multilateralismus unerlässlich ist.
Aus dem Englischen von Anne Emmert