Der Sieg von Geert Wilders bei den Wahlen in den Niederlanden wurde in Brüssel weitgehend schockiert und wie eine unvermeidliche Naturkatastrophe registriert. Der eine oder andere Politiker mag verschreckt die Hand an die perlenkettenbehangene Brust gelegt haben, angesichts der sich von ihm offenbar nicht vertreten fühlenden Menschen in den Niederlanden. Der Aufstieg der radikalen Rechten in ganz Europa ist aber kein Zufall, sondern eine direkte Konsequenz der politischen Entscheidungen, die auf EU-Ebene getroffen wurden.

Die Austeritätspolitik im Zuge der Finanzkrise 2008 hat zu einem Teufelskreis geführt, der sich in immer größerem Misstrauen gegenüber dem politischen System und seinen Vertretern sowie in radikalerem Wahlverhalten äußert. Das belegen aktuelle Studien: Es zeigt sich, dass die radikale Rechte der Hauptprofiteur der fiskalpolitischen „Haushaltsdisziplin“ ist. Dieser Trend wird durch sinkende Wahlbeteiligung noch verstärkt.

Die Austeritätspolitik im Zuge der Finanzkrise 2008 hat zu einem Teufelskreis geführt.

Die Führungskräfte der EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten sollten das im Hinterkopf behalten, wenn sie über neue Fiskalregeln für die Union entscheiden. Die bereits existierende Version in Form des Stabilitäts- und Wachstumspakts waren während der Pandemie ausgesetzt worden. Der neueste Vorschlag sieht nun jedoch vor, dass Mitgliedstaaten mit einem Defizit von mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ihr Haushaltsdefizit jedes Jahr wieder um mindestens 0,5 Prozent des BIP reduzieren müssen.

Das würde bedeuten, dass 14 Mitgliedstaaten allein im Jahr 2024 Ausgaben in Höhe von 45 Milliarden Euro kürzen müssten – beziehungsweise entsprechend Steuern erhöhen müssten. Das wäre Austerität 2.0 und hätte mit Sicherheit weniger Arbeitsplätze, niedrigere Löhne und eine noch stärkere Unterfinanzierung der öffentlichen Dienste zur Folge.

Das wiederum wäre mit Blick auf die anstehenden Europawahlen im Juni ein Wahlgeschenk für die Rechte, allen voran für Marine Le Pen und ihre Partei Rassemblement National. Frankreich gehört zu den Ländern, die deutlich härter und zügiger sparen müssten, um die neuen – aktuell noch völlig willkürlich gesteckten – Ziele zu erreichen. Im französischen Fall müssten jährlich bis zu 30 Milliarden Euro aufgebracht werden, so eine Studie des Thinktanks Bruegel.

Der rechten EU-Parlamentsfraktion Identität und Demokratie wird bereits der größte Wahlerfolg ihrer Geschichte prognostiziert.

Der rechten EU-Parlamentsfraktion Identität und Demokratie, in der neben der Rassemblement National auch die AfD vertreten ist, wird bereits der größte Wahlerfolg ihrer Geschichte prognostiziert. Sie könnte so viele Sitze gewinnen wie noch nie und damit die drittgrößte Fraktion im EU-Parlament werden. Demokratinnen und Demokraten sollten sich daher auf die tatsächlichen Sorgen der arbeitenden Bevölkerung konzentrieren. In Eurobarometer-Umfragen seit der letzten Europawahl wurden immer wieder Wirtschaft und Klimawandel als die beiden Prioritätsthemen der Bürger betont.

Doch genau diese beiden Themen – die für eine faire Politik für Arbeiterinnen und Arbeiter von zentraler Bedeutung sind – wird die EU mit den geplanten Schuldenregelungen nicht wirksam angehen können. Tatsächlich wären die neuen Fiskalregeln nicht mit dem sogenannten Green Deal der EU vereinbar: Eigentlich müssten alle Mitgliedstaaten ihre Investitionen erhöhen, doch die Vorschriften würden die Hälfte der Länder faktisch daran hindern, Investitionen zu tätigen, die notwendig wären, um die EU-Klimaziele zu erreichen. Nur vier Länder hätten den „fiskalischen Spielraum“, um ihre Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen noch zu erfüllen.

In einer Zeit, in der sich die Privatinvestitionen aufgrund der hohen Zinsen bereits im freien Fall befinden, würde ein Abwürgen der staatlichen Investitionen – inklusive ihrer Multiplikatoreffekte – für eine weitere Rezession sorgen. Das hätte verheerende soziale Folgen. Rezessionen, die durch Sparmaßnahmen ausgelöst werden, führen zu einem „signifikant stärkeren Anstieg des Stimmenanteils für extreme Parteien als andere Rezessionen“, heißt es in Studien über die politischen Kosten von Austeritätsmaßnahmen.

Die Wiedereinführung strenger fiskalischer Regeln wäre schlecht für die Wirtschaft, schlecht für die Umwelt und schlecht für die Demokratie.

Die Wiedereinführung strenger fiskalischer Regeln wäre schlecht für die Wirtschaft, schlecht für die Umwelt und schlecht für die Demokratie. Deshalb gingen Mitte Dezember tausende arbeitende Menschen aus ganz Europa in Brüssel auf die Straße, um sich gegen eine Rückkehr zur Austeritätspolitik zu wehren und makroökonomische Regeln zu fordern, die die Menschen und den Planeten priorisieren.

Die Reaktion der EU auf die Pandemie hat gezeigt, was alles möglich ist, wenn der politische Wille vorhanden ist. Die Aussetzung der Fiskalregeln sorgte für Investitionen, mit denen Arbeitsplätze und Unternehmen gerettet wurden, und zeigte, dass eine Krise wie die Pandemie eben nicht zu einer lang anhaltenden wirtschaftlichen Malaise führen muss. Wir sollten nun auf dem NextGenerationEU-Programm aufbauen. Dieses Wiederaufbauprogramm nach der Pandemie war ein wirtschaftlicher und politischer Erfolg. Wir müssen die notwendigen Investitionen tätigen, um sicherzustellen, dass die europäischen Unternehmen die Speerspitze der grünen und digitalen Revolution bilden.

Staatlich-öffentliche Investitionen müssen besonders „geschützt“ werden.

Staatlich-öffentliche Investitionen müssen derweil besonders „geschützt“ werden. Sie schaffen finanziellen Spielraum für die Ausgaben, die notwendig sind, um die Ziele der EU im Rahmen des Green Deal und der Europäischen Säule sozialer Rechte zu erreichen. Wo sie notwendig sind, können Schulden- und Defizitanpassungen auf eine nachhaltige Art und Weise vorgenommen werden – auf eine Art und Weise, der nicht alle anderen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Ziele zum Opfer fallen.

Aktuell ergibt sich eine einmalige Gelegenheit, sicherzustellen, dass unsere zukünftigen wirtschaftspolitischen Strategien wirklich zweckmäßig und sinnvoll gestaltet werden. Eine weitere Verlängerung der sogenannten allgemeinen Ausweichklausel, mit der die Schuldenregelungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts zeitweilig ausgesetzt werden kann, um ein Jahr wäre notwendig, um ausreichend Zeit für nachhaltige Lösungsansätze zu gewinnen.

Es steht viel auf dem Spiel. Deswegen wäre es unverantwortlich, Reformen zu überstürzen. Wenn richtig gemacht, können die EU-Vorgaben sowohl den allgemeinen Lebensstandard als auch die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen erhöhen und gleichzeitig die CO2-Emissionen senken. Falsch gemacht hingegen wird Leuten wie Wilders und dem Rest der radikalen Rechten in Europa ein frühes Wahlgeschenk gemacht. Die Verantwortlichen sollten deswegen die Lehren aus der Vergangenheit ziehen und eine erneute Welle von Wahl-, Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialkatastrophen verhindern.

© Social Europe

Aus dem Englischen von Tim Steins