Wo es viele Probleme gibt, sind die Erwartungen hoch. Die Welthandelsorganisation (WTO) hat viele Probleme, sehr viele sogar. Entsprechend sind die Erwartungen an die Nigerianerin Ngozi Okonjo-Iweala riesig. Und sie kommt aus Afrika. Als erste Generaldirektorin der WTO überhaupt. Und sie ist eine Frau. Auch das ist ein Novum. Die erste stellvertretende Generaldirektorin der WTO, bislang auch die einzige, kam übrigens ebenfalls aus Afrika. Valentine Rugwabiza aus Ruanda hatte dieses Amt von 2005 bis 2013 inne. Die WTO ist im Verlauf ihrer noch relativ kurzen Institutionsgeschichte von gerade einmal 25 Jahren ein Synonym für Krise geworden. Sie schlittert von einer zu anderen und immer tiefer in den Schlamassel hinein. Okonjo-Iweala soll es nun richten.
Aber was genau eigentlich? Eine Krise hat sich die WTO, das heißt ihre 164 Mitgliedstaaten, selbst zuzuschreiben: das bisherige Scheitern der 2001 ins Leben gerufenen und hoch bejubelten Doha-Entwicklungsrunde. Die Erwartungen der Länder des globalen Südens waren immens. Die Versprechungen des globalen Nordens auch. Ein Jahr um das andere wurde verhandelt, verhandelt, verhandelt. Man stehe kurz vor dem Durchbruch, hieß es beständig. 90 Prozent seien bereits geregelt. Indien und die USA können sich in bestimmten Punkten nicht einigen, munkelt man hinter vorgehaltener Hand. Dann kam die Ministerkonferenz von Nairobi 2015. Erstmals in der Geschichte der WTO konnten sich die Mitgliedstaaten nicht auf eine Fortführung des Verhandlungsmandats für die Doha-Runde einigen. „Members have different views on how to address the negotiations“. Es waren die USA unter der Obama-Administration, die die Bombe platzen ließen.
Ohne diesen Rückblick auf 2001 und 2015 lassen sich die zahlreichen aktuellen Probleme der WTO nicht verstehen. Die Enttäuschungen vieler Länder des globalen Südens sind groß. Sie seien um ihre Handelsrunde betrogen worden. Vertrauen? Wohl eher Fehlanzeige. Die Doha-Runde ist für viele (insbesondere wirtschaftlich starke und reiche) Mitglieder zur Last geworden. Bilaterale Handelsverträge stehen entsprechend seit Jahren hoch im Kurs. Die eigenen Interessen lassen sich so bequemer durchsetzen. In Bezug auf die WTO ist der Druck in den eigenen Ländern zu groß geworden, endlich das Regelwerk aus dem Jahre 1995 auf Vordermann zu bringen und sich den Problemen des neuen Zeitalters zu stellen. Die Digitalisierung ist das prägnanteste Beispiel. Wen kümmern da Regeln im landwirtschaftlichen Bereich – unter anderem der Knackpunkt in den Verhandlungen zur Doha-Runde. Die Länder des globalen Nordens leben mit den aktuellen Agrarregeln nicht allzu schlecht.
Doch die Digitalisierung ist auch für Entwicklungsländer immens wichtig. Kaum jemand erinnert sich noch daran, dass es vor fast zehn Jahren ein kleines Land wie Ecuador war, das das Thema E-Commerce auf die Tagesordnung des Ausschusses für Entwicklung in der WTO brachte. Nicht auf die Tagesordnung des Ausschusses für Dienstleistungen, sondern ja, für Entwicklung. Zu einem Zeitpunkt, als viele Entscheidungsträger noch gar nicht wussten, was das eigentlich ist. Erfolg hatte Ecuador damals leider nicht. Die Chance, die WTO ins neue Zeitalter zu führen, wurde vertan.
Es bildeten sich in der WTO außergewöhnliche Allianzen, so zum Beispiel zwischen der EU, Indien und China. Gemeinsam entwickelten sie Reformvorschläge, die sehr wohl auf die Kritik der US-Regierung eingingen.
Heute gibt es Verhandlungen in der WTO zu den unterschiedlichsten Aspekten von E-Commerce. Aber es ist ein plurilateraler Prozess. Plurilateral bedeutet, dass mehr als zwei, aber weniger als alle WTO-Mitgliedstaaten mitmachen. Wichtige Player des globalen Südens wie Indien und Südafrika lehnen die plurilateralen Verhandlungen zu E-Commerce bislang ab. Nicht weil E-Commerce unwichtig sei. Sondern weil sie zuerst auf einen Abschluss der Doha-Entwicklungsrunde pochen. Dann und erst dann könne man sich „neuen“ Themen widmen. In diesem Klima startet die Amtszeit Okonjo-Iwealas.
Gegenseitige Skepsis bis hin zu offener Feindseligkeit ziehen sich momentan durch fast alle Bereiche der WTO, Stichwort Streitschlichtungsverfahren. Da gibt es eine internationale Organisation, die tatsächlich die Zähne besitzt, ihren Mitgliedstaaten richtig wehzutun (durch Sanktionen). Es ist das Juwel der WTO. Donald Trump hat ihr fast alle Zähne gezogen. Eine einzige Richterin des Berufungsgremiums war von Dezember 2019 bis Ende 2020 übrig geblieben, die aber in Ermangelung weiterer Richterinnen oder Richter keinen Streitfall beurteilen konnte. Seit 2021 ist nun niemand mehr im Amt. Trumps Administration blockierte die Nachbesetzung der zeitlich befristeten Berufungen.
Es bildeten sich in der WTO außergewöhnliche Allianzen, so zum Beispiel zwischen der EU, Indien und China. Gemeinsam entwickelten sie Reformvorschläge, die sehr wohl auf die Kritik der US-Regierung eingingen. Doch die war an Diskussionen nicht interessiert. Ihre Agenda war die Schwächung der WTO. Und darin war sie erfolgreich. Wird Okonjo-Iweala es mit der Biden-Administration in diesem essenziellen Bereich der WTO leichter als ihr Vorgänger haben? Davon ist derzeit stark auszugehen. Aber noch heißt es abwarten.
Zudem gibt es weitere Baustellen. Da wäre der Handelskonflikt zwischen China und den USA. Die WTO schaut zwar keineswegs nur zu. Sie belegt durch Daten und Fakten, wie groß der entstandene ökonomische Schaden ist. Sie verurteilte Maßnahmen der Streithähne als Verstoß gegen multilaterale Handelsregeln. Anders als ihr Vorgänger ist Okonjo-Iweala weniger Diplomatin als vielmehr Politikerin. Wird sie deutlichere Worte und auch Gehör finden, öffentlich oder hinter verschlossenen Türen? Die USA und China haben exzellente WTO-Fachleute in ihren Regierungsapparaten. Sie kennen alle Regeln und Lücken. Ohne den politischen Willen in den jeweiligen Hauptstädten, in ruhigere Fahrwasser zurückzukehren, wird es schwierig werden.
Wird Ngozi Okonjo-Iweala eine neue Ära der WTO einleiten? Irgendwie wird frau den Eindruck nicht los, dass sie ganz besonders viele Erwartungen wird erfüllen müssen.
Wenn es um Krisen geht, darf im Jahr 2021 Covid-19 nicht fehlen. Mit ihren Erfahrungen und ihrem Wissen – nicht zuletzt als Vorsitzende der weltweiten Impfallianz Gavi und als Sondergesandte der Afrikanischen Union für den Kampf gegen die Pandemie – wird sich die neue WTO-Chefin dieser Thematik mit aller Macht annehmen. Das hat sie bereits in ihren ersten Auftritten deutlich gemacht.
Besteht die WTO wirklich nur aus Krisen? Nein, es gibt auch Lichtblicke. So ist 2021 mit einem Abschluss der multilateralen Verhandlungen zu Fischereisubventionen zu rechnen, die der weltweiten Überfischung Einhalt gebieten sollen. Gerade westafrikanische Staaten hegen hier große Hoffnungen auf die WTO.
Interessant wird sein, welche Themen wo ihren Platz auf der Prioritätenliste Okonjo-Iwealas finden werden. Themen gibt es genug. Nebst den bereits genannten wären da noch die Diskussionen unter anderem um die Reform der WTO, den Klimawandel, Frauen und Handel (hier geht es um die speziellen Auswirkungen von Handelspolitik auf Frauen sowie spezifische Anforderungen an Handelspolitik – eine Thematik, mit der sich die WTO seit der letzten Ministerkonferenz in Buenos Aires systematisch beschäftigt) und Aid for Trade (ein spezieller Fokus auf Bedürfnisse der Entwicklungsländer, der auf eine Erklärung der Ministerkonferenz in Hongkong 2005 zurückgeht). Und auch die Frage, wie sich die WTO zu den am wenigsten entwickelten Ländern verhält, die diesen Status aufgrund einer Besserung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung verlieren und damit auch viele Sonderrechte, muss geklärt werden.
Wird Ngozi Okonjo-Iweala eine neue Ära der WTO einleiten? Sie ist die siebte Person in der Generaldirektion der Organisation und jeder Mann vor ihr hat seine eigene Agenda und Ära gehabt. Es wird bei ihr nicht anders sein. Aber sie ist nun mal die erste Frau. Sie ist die erste afrikanische Leiterin der WTO. Irgendwie wird frau den Eindruck nicht los, dass sie ganz besonders viele Erwartungen wird erfüllen müssen. Ein Blick auf ihre Vita lässt erahnen, dass sie sich den Erwartungen mit viel Elan und Zupacken stellen wird. Doch die WTO alleine retten kann niemand. Auch nicht eine Frau, selbst wenn sie aus Afrika kommt.