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Interview von Claudia Detsch

Sie untersuchen den Zusammenhang zwischen dem Abstieg sozialdemokratischer und dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien im internationalen Vergleich. Welche Wählerwanderungen haben Sie ausgemacht?

Es gibt eine einfache empirische Beobachtung: Wenn man sich ansieht, zu welchen anderen Parteien ehemalige sozialdemokratische Wählerinnen und Wähler in Deutschland und in anderen westeuropäischen Ländern gegangen sind, dann ist nur ein sehr kleiner Teil direkt zu rechtspopulistischen Parteien gewandert. Dieser direkte Austausch macht also nur einen sehr kleinen Anteil der Verluste sozialdemokratischer Parteien aus.

Blickt man auf die letzten Wahlen mit gravierenden Verlusten, die Niederlande 2017, Frankreich 2017 und Deutschland 2017, dann ist der große Teil der Wählerinnen und Wähler von den Sozialdemokraten zu progressiveren Parteien gegangen. In Deutschland erfolgten große Verluste hin zu den Grünen, in den Niederlanden war der größte Verlust zu den Grünen und zu D66, einer ökonomisch-zentristischen Partei, die in kulturellen Fragen progressiver ist als die Sozialdemokraten. In Frankreich sind mit Abstand am meisten der abgewanderten Wählerinnen und Wähler zu Emmanuel Macron gegangen.

Welche Rolle spielt die Tatsache, dass die einstige Kernklientel der Arbeiterinnen und Arbeiter schrumpft?

Mit diesem Argument verhält es sich ähnlich. Das Schrumpfen der Arbeiterklasse hat sozialdemokratische Parteien natürlich vor ein fundamentales Dilemma gestellt, weil ihre ehemalige Kernklientel immer weniger Leute werden. Aber sozialdemokratische Parteien haben immer auch schon die Koalition mit gebildeten Mittelschichtswählern gebraucht, um eine Rolle zu spielen. Nun wird das Problem dadurch verstärkt, dass wir eine große Bildungsexpansion hatten, es wächst entsprechend die Gruppe der Gebildeten, es schrumpft die Kernklientel.

Hinzu kommt eine generelle Fragmentierung des politischen Raums. Nicht nur die Sozialdemokraten, sondern alle großen Mainstreamparteien stehen unter enormem Druck. Die Gesellschaft hat sich pluralisiert, die Bindung an diese Parteien hat abgenommen. Unter diesen Bedingungen müssen sich Parteien orientieren, welche Gruppen sie noch ansprechen können. Es sind auch neue politische Themen auf die Agenda gekommen, die nicht mehr nur der traditionellen Frage nach ökonomischer Umverteilung entsprechen – Geschlechtergerechtigkeit, Umwelt, Migration. Das stellt ein Dilemma für beide große Parteien dar.

Jede Erklärung also, die für die Krise sozialdemokratischer Parteien nur einen einzelnen Grund monokausal anführt, führt in die Irre. Solche Erklärungen sollte man alle nur bedingt ernst nehmen. Die Erklärung, wonach es sozialdemokratischen Parteien nur deshalb so schlecht geht, weil sie sich in den 90er Jahren im Rahmen der Politik des Dritten Weges bei Schröder und Blair der neuen Mitte zugewandt haben, ist genauso falsch wie die Erklärung, es ginge ihnen schlecht, weil sie nur noch urbane Mittelschichts- und Gesellschaftspolitik im Blick hätten.

Unter Willy Brandt wurden sowohl Industriearbeiter als auch die urbane, häufig akademische Mittelschicht von der Sozialdemokratie angesprochen. Ist das heute noch möglich?

Diese breiten Koalitionen werden zunehmend schwieriger, weil es eben die beschriebene Ausdifferenzierung gibt. Die SPD ist ein bisschen wie Karstadt und Kaufhof. Da konnten alle Leute etwas finden. Und mittlerweile gibt es eben die schicken Boutiquen und spezialisierten Webseiten, die sich viel besser einzelnen Bedürfnissen anpassen können. Es gibt eine Klientel, die lange sozialdemokratisch gewählt hat und die wahrscheinlich auch nie aufhören wird, sozialdemokratisch zu wählen. Diese Menschen werden aber zunehmend älter. Generell ist die Alterung der sozialdemokratischen Wählerschaft ein Problem, das zu wenig diskutiert wird.

Wohin können sozialdemokratische Parteien heute ihre Arme ausstrecken?

Es werden zwei mögliche Richtungen diskutiert. Sie könnten versuchen, die anzusprechen, die in Richtung Rechtspopulisten abgewandert sind. Oder sie versuchen eher gebildete Mittelschichten und solche Berufsgruppen anzusprechen, die wir gerne als ‚soziokulturelle professionals‘ bezeichnen; Leute, die in der Regel eine höhere Bildung, aber nicht unbedingt das Einkommen eines Managers haben. Es sind in dieser Gruppe insbesondere Frauen, die sozialdemokratische Parteien durch ihre Politik ansprechen könnten.

Bei diesen Wählergruppen sind die Grünen derzeit sehr erfolgreich. Kommt die Sozialdemokratie nicht zu spät?

Gar nicht. Ja, die Grünen stehen im Wettbewerb um diese Wählerinnen und Wähler. Ich glaube aber nicht, dass sich in Deutschland diese Klientel schon so stark den Grünen zugewandt hat, dass man sie nie wieder erreichen kann. Da scheint mir beispielsweise der Umfragesprung bei Martin Schulz interessant. Er hatte zumindest kurzfristig diese Leute wieder für die SPD interessiert. Klar ist aber auch: Je länger man kein Angebot für diese Gruppen gemacht hat, umso schwieriger wird es, sie anzusprechen. Wenn man sich dreißig Jahre lang nicht für Umweltpolitik eingesetzt hat, dann hat man natürlich wenig Glaubwürdigkeit bei diesem Thema.

Das ist aber noch viel stärker der Fall, wenn es um Wähler geht, die rechtspopulistische Parteien wählen. Es gibt die Idee, es handele sich um Wählerinnen und Wähler, die irgendwie aus Versehen dort gelandet wären, aus Protest vielleicht, und eigentlich könnte man sie wieder zurückholen. Dem ist nicht so. Ein sehr großer Teil der AfD-Wählerinnen und Wähler ist sehr überzeugt von der Partei und hat kaum eine Zweitparteipräferenz. Wenn es diese Partei nicht gäbe, dann würden sie gar nicht wählen.

Sie sehen insbesondere die ehemaligen Nichtwähler dort verortet?

Ja, die AfD hat viele ehemalige Nichtwähler angesprochen. Es gibt diese Vorstellung, dass diese ehemaligen Nichtwählerinnen und -wähler früher Unterstützer der Sozialdemokratie gewesen sind. Es gibt dafür aber keine empirische Evidenz. Im Gegenteil. Der Klassiker zu dieser Frage kommt von Seymour Martin Lipset aus den 50er Jahren - ein Aufsatz zu „Working Class Authoritarianism“. Die Idee dahinter: Ein Teil der Arbeiterklasse weist autoritäre Einstellungen auf. Die zentrale Aussage von Lipset ist es, dass diese Wählerschicht eben nicht sozialdemokratische Parteien wählt. Sie wählen stattdessen kommunistische Parteien, welche laut Lipset stärker autoritärere Einstellungen vertreten. Auch vor 50, 60 Jahren wählte also ein beachtlicher Teil der Arbeiterklasse nicht sozialdemokratische Parteien, sondern beispielsweise kommunistische oder auch christdemokratische Parteien. Die Annahme, heute solle die Sozialdemokratie ausgerechnet eine Heimat für diese Gruppe sein, erschließt sich nicht automatisch.

Empirisch ist sie nicht zu belegen?

Genau. Unsere Forschung zeigt im Gegenteil empirisch, dass eine Kombination, die auch die gebildete Mittelschicht anspricht, an der Urne erfolgreicher ist.

Derzeit wird innerhalb der Sozialdemokratie sehr kontrovers darüber diskutiert, wie die jüngsten Wahlergebnisse in Dänemark zu interpretieren sind, insbesondere, was den Umgang mit Migration betrifft. Sehen Sie Ihre Thesen von den jüngsten Wahlergebnissen dort abgedeckt?

Die letzte Wahl in Dänemark steht unseren vergleichenden Ergebnissen aus über 20 Ländern eher entgegen. Wichtig ist: Was wir untersuchen, sind strukturelle Kontextbedingungen und der Zusammenhang, der sich aus Parteipositionen und sozioökonomischen Veränderungen entwickelt. Natürlich hat jede einzelne Wahl noch viele spezifische Faktoren. Deswegen würde ich davor warnen, aus dem Ergebnis einer einzigen Wahl Rückschlüsse auf größere Veränderungen und generelle Strategien zu ziehen. Beispielsweise ist auch die Frage nach dem Kandidaten oder der Kandidatin sehr wichtig. Sitzt eine Partei gerade in der Regierung oder in der Opposition? In Dänemark haben sich die Sozialdemokraten enorm nach rechts bewegt, was Migrationsfragen angeht. Im Ergebnis haben sie damit gerade einmal 10 Prozent der ehemaligen rechtspopulistischen Wähler zurückgewonnen. Und insgesamt haben sie keine Stimmen dazugewonnen.

Sie haben das Ergebnis gehalten.

Genau. Interessant ist doch, warum so viel über Dänemark geredet wird und so wenig über Spanien. Dort steht die sozialdemokratische Partei in Umfragen teilweise bei 40 Prozent. Die Rechte zerlegt sich mit genau dieser Idee der Anpassung an die rechtsradikale Seite selbst. Die Sozialdemokratie in Spanien hat eben genau das nicht mitgemacht. Die spanischen Sozialdemokraten haben zudem schon relativ lange stark auf bestimmte kulturprogressive Themen gesetzt. Beispielsweise ist Spanien eines der ersten Länder, das die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt hat.

Etwas ketzerisch könnte man auch argumentieren, dass die spanischen Sozialisten es leichter haben. Dort gibt es keine große grüne Partei, die Sozialdemokraten können entsprechend diese Wählerklientel vermutlich sehr viel leichter abholen.

Aber die Frage anders herum wäre natürlich: Warum gibt es keine grüne Partei? Das hat natürlich viele Gründe, aber die Sozialdemokratie bindet dort diese Klientel mit ein. Übrigens gibt es in Dänemark auch keine besonders starke grüne Partei. Die Frage ist jetzt für die deutsche Sozialdemokratie, zugespitzt gesagt: Gibt man dieses Elektorat auf, kann man eine kleinbürgerliche Nischenpartei bleiben. Dann ist man bei 10, 15 Prozent. Wer wählt denn noch die SPD? Bei der letzten Europaparlamentswahl hat man eigentlich nur noch alte Leute angesprochen. Bei der Landtagswahl in Bayern war eine der größten Gruppen, an die die Sozialdemokratie verloren hat, die Gruppe der Verstorbenen. In den Niederlanden gibt es eine Rentner-Partei. Bei den Wahlen 2017 entsprach das Durchschnittsalter der sozialdemokratischen Wähler in den Niederlanden dem der Rentner-Partei. Das ist ein fundamentales Problem vieler sozialdemokratischer Parteien: Man spricht keine jungen Menschen mehr an.

Wo sehen Sie die Ursache?

Wir können empirisch zeigen, dass sozialdemokratische Parteien, die gesellschaftspolitisch konservativ sind, stark Wählerinnen und Wähler in der jungen Altersgruppe verlieren. Es geht hier um Themen wie Gleichstellung, Umwelt, Migration oder generell eine international offene Ausrichtung.

Die traditionelle Einteilung der Wählerschaft entlang der Rechts-Links-Achse halten Sie für überholt?

Wir argumentieren nicht, dass die generelle Frage nach Umverteilung keine Rolle mehr spielt. Man kann aber zeigen, dass bei der gebildeten Mittelschicht der Unterschied in Umverteilungspräverenzen zu anderen Gruppen eher marginal ist. Sie sind eher weniger für direkte Umverteilung als die, die weniger Geld verdienen, der Unterschied ist aber nicht besonders ausgeprägt. Aber sie sind stark an einer Investment-orientierten Politik interessiert.

 Was ist damit konkret gemeint?

Das sind Maßnahmen, die darauf abzielen, Staatsausgaben und Umverteilung so auszurichten, dass Menschen wieder erfolgreicher am Arbeitsmarkt werden. Dazu kommen Investitionen in soziale Inklusion. Typische Beispiele sind Ausgaben für Kinderbetreuung, Bildung, Weiterbildung und bestimmte Infrastrukturmaßnahmen. Dem gegenüber gibt es Gruppen, die eine stärker konsumorientierte Politik bevorzugen. Dabei handelt es sich um typische Maßnahmen, die einen Lebensstandard erhalten, beispielsweise Arbeitslosenversicherung oder Rente.

Der konservativ geprägte Sozialstaat in Mitteleuropa ist so ausgerichtet, dass die Gruppen, die für sozialdemokratische Parteien wichtiger werden, beispielsweise gebildete Frauen mit nicht-kontinuierlicher Erwerbsbiografie, häufig benachteiligt sind. Ein Beispiel ist das Ehegattensplitting, ein anderes die Ausgestaltung der gesetzlichen Rentenversicherung. Eine Frau, die rein und raus geht aus dem Beruf, die eventuell teilweise selbständig ist, Teilzeit arbeitet, die bekommt aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung wenig raus. Auf sie ist das System nicht ausgelegt. Solche Gruppen kann die Sozialdemokratie deshalb mit einer Veränderung der Wirtschafts- und Sozialpolitik ansprechen.

Ihre Empfehlungen erinnern an den ‚Dritten Weg‘ der Ära Schröder und Blair. Sie haben bereits angesprochen, dass die Lesart, damals habe alles Übel seinen Anfang genommen, Ihrer Auffassung nach nicht zutreffend ist.

Es kommt sehr darauf an, welche Teile des „Dritten Weges“ gemeint sind. Es geht bei der von mir beschriebenen Politik nicht um Sozialstaatsabbau. Es geht darum, Sozialpolitik anzupassen an eine veränderte Bedürfnislage, die sich aus einer sozio-strukturellen Veränderung ergibt.

Die Empfehlung für sozialdemokratische Parteien ist nicht, wieder New Labour zu machen. Generell gab es damals einen zu starken Glauben an Marktmechanismen als Lösungsansätze. New Labour und die neue Mitte hatten häufig auch eine sehr autoritäre Seite, beispielsweise in der inneren Sicherheit. Das deckt sich nicht mit dem, was wir als erfolgreiche Ansätze identifizieren können. Ein Zurück zu New Labour wird nicht dazu führen, dass es in Deutschland oder anderswo sozialdemokratischen Parteien mittelfristig wieder besser geht. Ich denke, das fordert auch niemand.

Die Abkehr von der Identitätspolitik für Minderheiten und eine restriktivere Migrationspolitik taugen nicht als Rezept, um zu alter Größe zurückzukehren?

Das ist wirklich die zentrale Erkenntnis unserer Forschung. Restriktive Migrationspolitik und eine konservativere Haltung zu Fragen der sogenannten Identitätspolitik führen nicht dazu, dass sozialdemokratische Parteien mehr Stimmen gewinnen. Im Gegenteil, sie verlieren dadurch junge und gebildete Wählerinnen und Wähler. Elektoral ist eine harte Gangart in der Migration definitiv keine erfolgreiche Strategie für sozialdemokratische Parteien. Und das kann auch normativ nicht das Ziel sein. Das Ausspielen der Arbeiterklasse versus Frauen, Schwule und Migrantinnen und Migranten, das kann nicht das Idealbild der Sozialdemokratie sein. Die Arbeiterklasse hat genauso, wenn nicht mehr, Migrationshintergrund, sie ist weiblich, sie ist genauso schwul und lesbisch wie andere Teile der Bevölkerung. Dieses Bild, die Politik widme sich nur noch einer urbanen Oberschicht, das ist eine unglaubliche Verzerrung der Sozialstruktur von modernen Gesellschaften.