Was macht Politik links von der Mitte aus? Auf diese Frage gibt es tausend Antworten, aber auch einen gemeinsamen Nenner: Einstehen für sozial Benachteiligte ist Kern linker Politik. Bildung für Kinder aus sozial benachteiligten Familien, Entwicklungspolitik und Unterstützung armer Menschen sind deshalb zentrale Handlungsfelder. Dies gilt erst recht in der Krise, wenn sozial benachteiligte Gruppen besonders leiden. Wenn es also eine Zeit gab, in der Links gefordert war, dann jetzt. Aber hat linke Politik in der Corona-Krise diese Versprechen eingelöst? Hat sie Benachteiligten eine Stimme gegeben?

Da ist zum einen die Situation von Kindern aus sozial benachteiligten Familien, ein wichtiges Thema in der deutschen Corona-Debatte. Medien berichten über die dramatische Situation von armen Eltern, die über Monate in engen Wohnungen ohne Computer und ohne genügend eigene Bildung versuchen, die Schule zu ersetzen. Schon in normalen Zeiten ohne Schulschließungen ist ihre Lage schwierig, bei geschlossenen Schulen wird sie katastrophal. Fehlender Kontakt zu anderen Kindern und endlose Tage online belasten Kinder enorm. Ohne die Frühwarnsysteme Kita und Schule wird Kindesmissbrauch nicht oder zu spät bemerkt.

Für jede politische Gruppierung ist die Situation von Kindern in der Pandemie wichtig. Es gibt Lernangebote, die auf sozial benachteiligte Kinder zugeschnitten sind. Aber selbst teilweise Schulöffnungen, die einzige Maßnahme, die Kindern wirklich helfen würde, sind für viele Linke bislang kaum eine Option gewesen. In der Pandemie sind Öffnungen keine einfache Entscheidung, aber es ist überraschend, mit welcher Vehemenz gerade Linke die Öffnung von Schulen bekämpfen. Oft vehementer als etwa die relativ schwachen Beschränkungen der Wirtschaft.

Selbst Schulöffnungen, die einzige Maßnahme, die Kindern wirklich helfen würde, sind für viele Linke bislang kaum eine Option gewesen.

Ein etwas anderes, aber vergleichbares Bild gibt es in der Entwicklungspolitik, einem anderen zentralen Handlungsfeld linker Politik. Die Wirkung von Corona-Maßnahmen auf Lieferketten, Nahrungsmittelversorgung und Gesundheitssysteme in Entwicklungsländern sind ein Aspekt der Debatte. Aber anders als Schulschließungen in Deutschland sind diese Themen eine Randnotiz. In dieser Hinsicht ist die deutsche Corona-Debatte allgemein provinziell, aber die Stille im linken Meinungsspektrum zu den dramatischen Auswirkungen von Corona-Maßnahmen auf das Leben armer Menschen in Entwicklungsländern ist unüberhörbar.

Nach jüngsten UNICEF-Zahlen waren 168 Millionen Kinder – 98 Millionen davon in Lateinamerika – seit einem Jahr nicht mehr in der Schule. Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist in vielen Entwicklungsländern ein riesiges Problem, das im Lockdown noch dramatischer geworden ist. Größere Themen sind dies in der deutsche Debatte aber kaum. Abgesehen von Beiträgen zu COVAX, dem Impffonds der Weltgesundheitsorganisation, fährt die EU bei der Beschaffung und Verteilung von Impfstoff einen harten EU-First-Kurs, aber ein größerer Aufreger ist das für Links auch nicht. Vorschläge, beispielsweise Gesundheitspersonal in Entwicklungsländern beim Impfen jungen Menschen in der EU vorzuziehen, ist kein ernsthaftes Thema. Globale Solidarität hat auch für sie Grenzen.

Sicher, in der Pandemie ist es schwierig, diese Kernanliegen linker Politik umzusetzen. Sozial benachteiligten Gruppen zu unterstützen geht oft nur mit persönlichen Kontakten. Aber dies allein erklärt nicht, warum Teile des linken Lagers in der Pandemie so wenig zur eigenen Agenda gestanden haben.

Ein anderer Grund ist politisch. Seit Beginn der Pandemie ist es vor allem die extreme Rechte, die lautstark gegen jede Corona-Maßnahme protestiert. Auf der extrem rechten Seite halten viele das Virus für praktisch ungefährlich oder gar für eine Erfindung und Verschwörung dunkler Mächte. Covid-19 heißt bei ihnen Covid-1984. Dies hat Folgen für den politischen Diskurs. Als Corona-Leugner und Rechtsradikale zusammen auf die Straße gingen und die Medien darüber breit berichteten, wurde der Raum für differenzierte Corona-Politik ziemlich klein.

Seit Beginn der Pandemie ist es vor allem die extreme Rechte, die lautstark gegen jede Corona-Maßnahme protestiert.

Rechtsextreme haben den Sauerstoff für differenzierte Maßnahmen – auch solche, die sich primär an sozial schwache Gruppen richten – genommen. Forderungen nach Lockerungen wurden toxisch – besonders nachdem Corona-Leugner und Rechtsradikale die Treppe des Bundestags erstürmt hatten. Diese politische Gemengelage erklärt zum Teil, warum manche im linken Lager auf Kritik am Lockdown mit harter Ablehnung reagieren. Für sie ist die Haltung zum Lockdown zu einer Frage ihrer politischen Identität geworden. No-Covid wurde für einige zum Schlachtruf.

Es ist richtig, dass kein politisches Lager die Anliegen sozial benachteiligter Gruppen wirklich zum Kern seiner Corona-Politik gemacht hat. Auch Konservative oder Liberale haben den Ausgleich regressiver Wirkungen der Corona-Maßnahmen auf sozial schwache Gruppen nicht zur Handlungsmaxime gemacht. Gefangen in der Fixierung auf die Sieben-Tage-Inzidenz hat es die öffentliche Debatte insgesamt nicht vermocht, eine ausgewogenere Abwägungen der unterschiedlichen Interessen hinzubekommen. Das Ergebnis ist, dass die Pandemie Ungleichheiten rasend schnell vertieft hat.

Unabhängig von diesen allgemeinen Defiziten muss sich das linke Lager jedoch die Frage gefallen lassen, wie es seine Corona-Bilanz sieht. Warum haben Linke mit Heftigkeit ausgerechnet Vorschläge ablehnt, die die Lebenssituation sozial benachteiligter Gruppen verbessern würden? Hat sich die Linke zu lange an Querdenkern, Corona-Leugnern, Verschwörungstheoretikern und anderen Spinnern abgearbeitet, anstatt sich pragmatisch und abwägend konkreten Maßnahmen zu widmen? Hätte Corona-Politik mit erkennbar linker Handschrift nicht mutiger für die Belange sozial Benachteiligter und Entwicklungsländer und deren Zukunftschancen eintreten müssen? Antworten auf diese Fragen sind für Deutschland und den Umgang mit der Pandemie von großer Bedeutung, aber auch für die Linke im Wahljahr 2021.