Haltung der Europäer zur Migration
Die französische Fondation Jean Jaurès (FJJ) hat in Zusammenarbeit mit der Brüssels FEPS eine Umfrage zur Haltung der Europäer zur aktuellen Migrationswelle durchgeführt. Die Befragung wurde im September in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Dänemark, Italien und den Niederlanden durchgeführt. In der Umfrage wird deutlich, dass die Deutschen der breiten Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen und Asylbewerbern positiver gegenüberstehen als die Bevölkerung der meisten anderen Länder. Aber in keinem der Länder – auch nicht in Deutschland – ist dies die von der Bevölkerung mehrheitlich präferierte Politikoption: In allen Ländern hätte die Bevölkerung einen Verbleib der Migranten in ihrer Herkunftsregion lieber gesehen, unterstützt durch vermehrte Hilfe aus Europa. Dennoch ist eine große Aufnahmebereitschaft vorhanden: Die Zustimmung für die Aufnahme von Migranten als „zweitbeste Lösung“ in der jetzigen Lage variiert zwischen 55 Prozent (Spanien) und 30 Prozent (Frankreich). Die Hilfe für Menschen in Not wird überall als prinzipielle moralische Verpflichtung anerkannt. Gleichzeitig erwartet eine große Mehrheit in allen Ländern – in Deutschland sind es 72 Prozent – dass die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen eine Sog-Wirkung hat und zusätzliche Einwanderung aus der sogenannten Dritten Welt auslösen wird. Die meisten Befragten erwarten sehr hohe Kosten: Nur in Deutschland und in Dänemark glaubt eine Mehrheit der Befragten, dass die Migrationswelle das jeweilige Land ökonomisch und finanziell nicht überfordern wird. In Italien und Frankreich sind dagegen über 70 Prozent genau davon überzeugt. Deutschland ist auch das einzige Land, wo eine (knappe) Mehrheit glaubt, dass die Einwanderungswelle eine wirtschaftliche „Chance“ darstellt. In den Niederlanden glauben das nur 23 Prozent der Bevölkerung. Interessant sind die weltanschaulichen Grundlagen der Haltungen in diesen Fragen: Praktizierende Christen und Linke sind der Migrationsbewegung gegenüber sehr viel offener als der Rest der Bevölkerung. Allerdings erwarten Anhänger linker Parteien auch überproportional, dass die jetzt Aufgenommenen nach relativ kurzer Zeit das Land wieder verlassen werden. Dies – eine rasche Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer – wird in allen Ländern von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung gewünscht, gerade auch in Deutschland (80 Prozent).
Auf der Website der FJJ gibt es auch eine Zusammenfassung der Ergebnisse, allerdings mit französischem Bias. Für deutsche Augen lohnt sich weit mehr, die Folien der Präsentation durchzusehen. Sie geben einen interessanten Einblick in die tatsächliche Stimmungslage Europas, jenseits der Nebelwände.
Labour und die Zukunft der europäischen Sozialdemokratie
Jeremy Corbyns Wahl zum Vorsitzenden der Labour Party ist ein Erdbeben mit unklarer Langzeitwirkung. Mit Corbyns Wahl haben nicht nur die Karrierepfade seiner blassen Gegenkandidaten einen bösen Knick erlitten. Vielmehr ist die gesamte Parteiorganisation in Umbruch geraten. Über 80 Prozent der Mitglieder, die an der Corbyn-Wahl teilgenommen haben, waren 2010 noch nicht Mitglieder der Partei. Man weiß wenig über diese neuen Mitglieder und darüber, in welche Richtung sie die Labour Party in den nächsten Jahren drängen werden.
Der Umbruch erfasst auch die Think tanks rund um Labour, in denen ein breiter Generationenwechsel ansteht. Dies gilt auch für das Institut for Public Policy Research (IPPR): Der Direktor Nick Pearce wechselt nach langen Jahren exzellenter Arbeit an der Spitze des IPPR demnächst auf einen Politikwissenschafts-Lehrstuhl an der University of Bath. Zum Abschied hat Pearce im „New Statesman“ einen bitteren Abgesang auf die Labour Party in ihrer heutigen Verfassung veröffentlicht. Die Wahl Corbyns wird die Krise der Partei weiter vertiefen, schreibt Pearce. „His improbable leadership of the labour party is another symptom of the crisis of social democracy, not the incubator of its future“. Der Text konzentriert sich auf Labour, nimmt aber an vielen Stellen auch Bezug auf den Zustand der europäischen Sozialdemokratie insgesamt. Pearce sieht sie genauso in der Krise wie ihren britischen Ableger. Ihre moralischen und intellektuellen Ressourcen sind erschöpft, die Rahmenbedingungen haben sich negativ verändert: die Arbeiterklasse ist von kulturellen und politischen Rissen durchzogen, die Alterung macht die Gesellschaften konservativer. In den überschuldeten westlichen Ökonomien sind sozialdemokratische Politikansätze schwer verwirklichbar. Allerdings erkennt Pearce bei Labour durchaus auch politische und programmatische Neuansätze, die eine Erneuerung möglich machen würden. Hier sieht der denn auch das eigentliche Problem der Wahl Corbyns und der Dominanz einer „sektiererischen“ Labour-Linken, die konzeptionell in der Vergangenheit lebt: Deren ideologische Verengung mache sie taub gegenüber den Gefühlen und Erwartungen eines wichtigen Teils der Wählerbasis der Partei. Hierzu zählt auch das Erstarken regionaler und nationaler Identitätsgefühle, das sich sowohl im Aufstieg der Scottish National Party wie in den Erfolgen von UKIP artikuliert. Mit diesen Gefühlen konstruktiv umzugehen, sei aber für die Wiedergewinnung politischer Mehrheitsfähigkeit von großer Bedeutung. Noch ist ein Ausweg aus dem „Tal des Todes“ (den Titel dürfte sich der New Statesman ausgedacht haben) vorhanden: Aber um ihn zu nehmen, so Pearce, muss Labour hart und systematisch nachdenken und sich politisch und organisatorisch anders aufstellen, als es die Wahl Corbyns nahelegt.
New Labour nach der Wahl von Corbyn
Positiver im Grundton ist dagegen ein Papier von Andew Gamble zum selben Thema. Das ist überraschend, erschien der Text doch bei Policy Network, dem langjährigen Haus-Think tank von New Labour (R.I.P). Zwar sieht auch Gamble große Probleme auf die Partei zukommen. Aber der emeritierte Cambridge-Politologe kann dem „Corbyn surge“ mehr positive Aspekte als Pearce abgewinnen: Corbyns Kampagne hat frische Energie und eine Vielzahl neuer Mitglieder in die Partei gebracht und die Möglichkeit eröffnet, wieder im Sinne einer breiten sozialen Bewegung in die Gesellschaft hineinzuwirken. Gamble warnt allerdings vor den Gefahren, die von der Spaltung zwischen alter Führung und neuer Mitgliedschaft ausgehen. 84 Prozent der Neumitglieder und 60 Prozent der Gesamtmitgliedschaft haben für Corbyn gestimmt, aber nur 6 Prozent der Unterhaus-Abgeordneten. Es kommt jetzt darauf an, so Gamble, dass dieser Gegensatz von beiden Seiten – dem alte Partei-Establishment in der Unterhaus-Fraktion und der neuen Parteiführung um Corbyn – intelligent gesteuert wird. Dies bedeutet die Suche nach einem Kompromiss zwischen den Erwartungen der Mitgliedschaft nach einer klareren Konturierung der Partei nach Links und dem Verlangen des Partei-Establishments nach gesellschaftlich anschlussfähigen Konzepten, die eine echte Machtperspektive eröffnen. Im Lichte der letzten Unterhauswahlen werden diese in eher „gemäßigten“ Positionen vermutet. Wie diese Quadratur des Kreises aussehen könnte, wird aus dem Text nicht wirklich ersichtlich.
2 Leserbriefe
Der Corbyn-kritische Text enthält den auf die europäischen Schwesterparteien übertrgabaren verdacht, dass der Kontakt zu den Schichten, die eigentlich von uns zu vertreten wären, verloren ist. Dem begegnet man oft mit programmatischen Anpassungen nach rechts ( vgl. Gabriel-Impuls-Papier). Richtiger wäre m.E. eine Rückbesinnung auf Freiheit und Gleichheit und die Gestaltung zeitgemäßer Umsetzungsstrategien.
Dem Corbyn-freundlichen Autor ist entgegen zu halten, dass wir keineswegs den Abmarsch in den Nationalismus mitmachen dürfen! Aber die Betonung regionaler Besonderheiten und Beheimatungsgefühlen halte ich durchaus für ratsam. Aber vielleicht meint der Autor das auch so?
Wolfgang Wiemer schreibt in seinem Kommentar: "Richtiger wäre m.E. eine Rückbesinnung auf Freiheit und Gleichheit, und die Gestaltung zeitgemäßer Umsetzstrategien." Unterschreibe ich voll und ganz!