
„Predistribution“ ist eines der Konzepte, mit denen Ed Miliband auf der Suche nach einer eigenen Handschrift und einer zündenden Idee für die nächsten Wahlen in der letzten Zeit herum experimentierte. Im Moment ist der Begriff eher in den Hintergrund getreten, was aber mehr an der Sperrigkeit des Wortes als an den damit verbundenen Gedanken liegt. Die Grundidee einer Politik, die sozialstaatliche „redistribution“ möglichst wenig notwendig machen soll, ist immer noch das Kernstück des programmatischen Denkens der Leute um Miliband. In der Herbst-Ausgabe der Labour-Theoriezeitschrift Renewal findet sich nun ein Interview mit Jacob Hacker, dem geistigen Vater des Konzepts zu den „Politics of predistribution“. Im Kern geht es dem in Yale lehrenden Politikwissenschaftler um wenig Spektakuläres. Vieles knüpft an bekannte Überlegungen zu vorsorgender Sozialpolitik und einem „enabling state“ an. Neu ist aber die politökonomische Dimension des Ganzen: Die Markt-Verteilung der Wertschöpfung zwischen Kapital und Arbeit wird nicht mehr, wie unter New Labour, als quasi naturgegeben behandelt, sondern als Ergebnis eines sozialen und politischen Kräfteverhältnisses interpretiert. Und eine vorrangige Aufgabe linker Politik ist es, dafür zu sorgen, dass dieses Kräfteverhältnis sich wieder zugunsten des Faktors Arbeit verändert.

Wie bitter dies notwendig ist, zeigt auch ein aktuelles Papier des gewerkschaftsnahen Economic Policy Institute mit Sitz in Washington, D.C. Das Papier beschreibt „The Legislative Attack on American Wages and Labour Standards, 2011 – 2012”. Im Mittelpunkt stehen Bundesstaaten, in denen die Republikaner seit 2010 die Kontrolle der Legislative übernommen haben. In einer Vielzahl dieser Staaten hat es seither einen konzentrierten Angriff auf Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte gegeben. Der Autor des Papiers, der Arbeitsökonom Gordon Lafer, sieht dabei eine politische Strategie am Werk. Den Republikanern geht es bei diesen Initiativen immer auch darum, zwei der zentralen Säulen der Demokratischen Partei – Gewerkschaftsbewegung und Öffentlicher Dienst – zu schwächen. Langfristig sollen dadurch Finanzbasis und Mobilisierungsfähigkeit der Demokraten bei nationalen Wahlen untergraben werden. Das Einführungskapitel der Studie ist ausgesprochen lesenswert (S. 2–10). Es beschreibt, wie systematisch reiche Individuen und spezialisierte Business-Organisationen wie das "American Legislative Exchange Council" die Gesetzgebungsprozesse beeinflussen. Natürlich geht es dabei nicht nur um Politik. Genauso wichtig sind unmittelbar ökonomische Ziele der Mitgliedsunternehmen. Im Endeffekt geht es darum, „die Stellung der Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt zu schwächen“. Womit wir wieder bei der „predistribution“ wären und dem Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Und natürlich der Frage, was die linke Mitte eigentlich tut, um dieses endlich wieder zu verändern.

Die Herbstnummer der „Revue Socialiste“, der wissenschaftlichen Zeitschrift der französischen Parti Socialiste, ist der Front National gewidmet. Der Herausgeber der Zeitschrift, der „Parteihistoriker“ Alain Bergougnioux, hat solide Arbeit geleistet. Die Summe der Beiträge ergibt ein umfassendes Porträt der Partei und ihrer Wähler. Die Texte sind mehrheitlich erfreulich analytisch und unpolemisch. Sie versuchen ernsthaft, die Wirkungskraft des „Krisenpopulismus“ der FN zu beschreiben – einschließlich der internen Widersprüche und der Wachstumsprobleme der Partei. Interessant (und beunruhigend) ist, wie stark sich durch die Beiträge der Eindruck zieht, dass sich die FN unter Marine Le Pen tatsächlich erfolgreich „entdiabolisiert“ hat. Die Partei ist mittlerweile tief in die französische Gesellschaft – vor allem die unteren Einkommensgruppen – vorgedrungen. Ihr gelingt es zunehmend, Kernbegriffe der „progressiven“ französischen Identität – Laizismus, republikanischer Patriotismus, Anti-Kommunitarismus – für die FN zu instrumentalisieren. Allzu schwer, muss man hinzufügen, hat die französische Linke ihr diesen feindlichen Übernahmeversuch leider auch nicht gemacht. Zum anderen zeigen Wähleranalysen aber auch, dass das eigentliche Wachstumspotential der FN heute nicht (mehr) in den Wählermilieus der PS und der Linken liegt, sondern eher im Bereich der konservativen UMP. Hier sind es vor allem jüngere Wähler, die zunehmend den Positionen der FN zuneigen. Die für die politische Zukunft Frankreichs entscheidende Frage ist denn auch vielleicht gar nicht, wie die französische Linke mit der Herausforderung FN umgeht. Sondern was die französische Rechte daraus macht.

Genau dieser Frage - was der Aufstieg der FN für die französische Rechte bedeutet - widmet sich eine Analyse der Fondation Jean Jaurès. Ausgangspunkt der Studie über die mögliche ideologische „Fusion“ der Wählermilieus der UMP und der FN waren zum einen die überraschend breiten Proteste gegen die Homosexuellen-Ehe und die Ergebnisse der internen Wahlen in der UMP, die einen klaren Rechtsrutsch der Parteibasis aufzeigten. Die großen Verlierer waren klassisch gaullistische und wirtschaftsliberale Strömungen in der Partei. Die Bereitschaft der UMP-Basis, lokale Wahlbündnisse mit der Front National zu schließen steigt beständig, vor allem bei den jüngeren Mitgliedern. Von einer Fusion der Wählermilieus kann aber dennoch nicht die Rede sein, so die Autoren. Zu beobachten ist vielmehr ein paralleler Rechtsrutsch beider Gruppen, vor allem in Fragen von Zuwanderung und innerer Sicherheit. Gleichzeitig besteht aber bei makroökonomischen Fragen immer noch eine klare Trennlinie zwischen den sozial schwächeren Wählermilieus der FN und der bürgerlich-kleinbürgerlichen Basis der UMP, in der wirtschaftsliberale und pro-europäische Positionen immer noch deutlich überwiegen. Die ideologische Überlappungszone liegt in den Arbeitermilieus und bei den sozial schwächeren Wählern der UMP. Hier macht die FN mit ihrem Versprechen einer interventionistischen, anti-neoliberalen und protektionistischen Politik Punkte. Dies ist vielleicht denn auch der größte Unterschied zwischen der FN Marine Le Pens und der ihres Vaters: Die Tochter hat dem Diskurs der FN eine wirtschafts- und sozialpolitische Dimension hinzugefügt, die bei der immer stärker verunsicherten französischen Bevölkerung einen wachsenden Resonanzboden findet. Für die kommenden Europawahlen verheißen diese Entwicklungen wenig Gutes. Bei den letzten Wahlen 2009 hatte die FN noch relativ schlecht abgeschnitten. Der Sarkozy-Effekt hatte noch gewirkt. Das wird 2014 anders sein.

Zu guter Letzt etwas entspannendes: Das österreichische Renner-Institut hat Robert Misik beauftragt, einen Youtube-Film zur Krise der Demokratie zu gestalten. Zu Wort kommt eine leicht eklektizistische Mischung von Stimmen – u. a. Agnes Heller, Slavoj Zizek, Colin Crouch und Sven Giegold. Der Schnitt ist eher Bála Tarr als MTV und so kommt einem der Film auch irgendwie länger vor als die 17:48, die er dauert. Aber das ändert nichts daran, dass der Film einen komplexen Stoff dann doch gut und vor allen Dingen verständlich und massentauglich auf den Punkt bringt. Das ist schon mal was wert.
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