Man kann von Labour halten was man will, aber eines wird immer wieder deutlich: Auf der Suche nach dem Wähler dreht diese Partei jeden (konzeptionellen) Stein um. Die Menge an Papieren aus den Labour-nahen Think Tanks, die sich mit Wählersoziologie und -verhalten beschäftigen, ist beeindruckend.

Nun hat auch das Institute for Public Policy Research ein interessantes Papier von Nick Pecorelli zu Strukturen und Wertesystem der britischen Wählerschaft veröffentlicht. In „The New Electorate – Why understanding values is key to electoral success“ wird argumentiert, dass die traditionellen Parameter zur Erklärung von Wahlverhalten – „class, gender and age“ – zunehmend irrelevanter werden. Immer wichtiger sind dagegen „Werte“, also moralische Zielsetzungen und Normen, die situationsübergreifend das Verhalten der Menschen motivieren. Sozioökonomisch korrelierte Werte (wie Gerechtigkeit und Fairness) sind ein Element dieses Wertekanons unter vielen - nicht wichtiger und nicht unwichtiger als andere.
Bei der Beschreibung diese Wertekanons bezieht sich Pecorelli stark auf Shalom Schwartzs Konzept der „basic human values“ und das von Jonathan Haidt in „The Rightous Mind“ dargestellte Konzept universeller „moral foundations“. Pecorelli wendet diese „Moraltheorie“ politischen Verhaltens im Sinne einer operativen Logik auf die britische Wählerschaft an: Was ist die moralische Landschaft der britischen Bevölkerung und welche Wertvorstellungen muss Labour bedienen, wenn es die nächsten Wahlen gewinnen will? Dabei stützt sich die Studie auf die reichhaltige empirische Datenbasis der „British Values Survey“ über Werte und Einstellungen der britischen Bevölkerung. Aus diesen Daten hat die Marktforschung drei Grundtypen destilliert (die für das IPPR noch einmal in 12 politische Subgruppen unterteilt werden): zukunftsoptimistische „pioneers“, nutzenmaximierende „prospectors“ und bewahrungsorientierte „settler“.
Diese drei Grundtypen finden sich in allen sozioökonomischen und soziokulturellen Milieus. Sie unterscheiden sich erheblich in ihrem Wertegerüst, wobei die „settler“ die im klassischen Sinne sozial konservativste Gruppe darstellen. Diese – überdurchschnittlich von Arbeitermilieus geformte – Gruppe war früher die zentrale Wählerbastion der Labour Party. Dies hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Um wieder mehrheitsfähig zu werden, muss die Partei versuchen, in diesem Milieu wieder verstärkt Anschluss zu finden, ohne andere Wählergruppen zu vergraulen. Dies ist nicht einfach, denn die beiden Gruppen, bei denen Labour insgesamt an meisten gewinnen kann – „confident pioneers“ und „alienated settlers“ – stehen wertemäßig an mehr oder weniger gegenüberliegenden Polen. Während für die Pioniere Fairness und Bildungschancen das Wichtigste sind, sind für die Siedler die Fragen von Einwanderung, Nationalstolz und öffentliche Sicherheit von zentraler Bedeutung.
In der Summe lautet die Empfehlung des IPPR, sehr viel sorgfältiger als früher auf das moralische „framing“ der Einzelpolitiken zu achten und systematisch zu versuchen, sie mit Werten zu korrelieren, die für zentrale Wählergruppen wichtig sind. Entscheidend wird sein, in wie weit es gelingen kann, „value bridges“ zu bauen, die die moralischen Wertvorstellungen beider zentraler Wählerreservoirs ansprechen. Tony Blairs „tough on crime, tough on the causes of crime“ war so eine Botschaft. Als eine ähnliche Botschaft für die nächste Wahl empfiehlt der Autor so etwas wie “firm on immigration and firm on discrimination”. Da gefriert einem guten deutschen Sozialdemokraten natürlich das Blut in den Adern, aber der Grund für diesen Vorschlag findet sich in der Analyse der Werte der beiden zentralen Wählerreservoirs Labours: Die der sozial entfremdeten „settler“, für die Immigration ein Riesenthema ist, und die der sozialliberalen „pioneers“, für die das Prinzip der Nichtdiskriminierung der zentrale moralische Wert ist, und nicht die bedingungslose Offenheit von Grenzen.
Und natürlich spielen Veränderungen im Wahlverhalten eine Rolle. Die rechtspopulistische UKIP gewinnt genauso bei früheren Labour-Wählern wie bei nostalgischen Old-England-Tories. Eine andere vielversprechende Anknüpfungsebene könnte die Betonung des Lokalen sein, wo sich Werte der sozialliberalen Wählermilieus (soziale Verantwortung, Ökologie) mit den lebensweltlichen Sorgen der „settler“ treffen, die in einer berechenbaren und vertrauten Lebensumwelt ein hohes Gut sehen.
Nicht alles ist neu an dem Papier, aber in der Summe handelt es sich um sehr interessante und detailreiche Studie, deren Rezeption durch Verantwortliche linker Parteien auch außerhalb Großbritanniens man nur wünschen kann.

Ein weiteres interessantes Papier hat Demos schon vor einiger Zeit vorgelegt: Eine empirische Untersuchung der Einstellungen der britischen Bevölkerung zum Sozialsystem. In „Generation Strains – A Demos and Ipsos Mori report on changing attitudes to welfare“ wird ein ebenso interessantes wie beunruhigendes Bild der Veränderungen in der Einstellung der britischen Bevölkerung zu den sozialen Sicherungssystemen gezeichnet.
Generationenübergreifend geht die Unterstützung für Sozialtransfers klar zurück und wächst die Skepsis gegenüber dem Sozialsystem. Dies gilt für Senioren ebenso wie für die nach 1980 geborene „Generation Y“. Je jünger die Menschen, desto skeptischer und kritischer stehen sie dem Wohlfahrtsstaat gegenüber. Die Gründe für diese wachsende Skepsis variieren zwischen den Generationen. Jede Altersgruppe hat ihre eigenen Gründe, an der Logik des Systems zu zweifeln. In der Summe lässt sich aber dennoch ein gemeinsamer Nenner destillieren: Die Abschwächung des Reziprozitätsgedankens im Sozialsystem durch eine Entwertung von Beitragsleistungen und die Ausweitung des Bedürftigkeitsprinzips („means testing“). „We observe that the decline in support for the welfare system has coincided with the growth of means testing and the dilution of the contributory principle“ (S. 9).
Man bewegt sich hier sehr schnell wieder auf einem ähnlichen Terrain wie im oben geschilderten Papier des IPPR. Auch in der Einstellung zum Wohlfahrtsstaat geht es essentiell um moralische Werte und die Frage, in wie weit das System moralische Fairness- und Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerungsmehrheit repräsentiert. Und je stärker der Zusammenhang zwischen geleisteten Beiträgen und „entitlement“ zerstört wird, desto problematischer wird das System in den Augen der Bevölkerung. Die wachsende Skepsis gegenüber dem „welfare system“ betrifft denn auch stärker sein reales Funktionieren, und weniger das Prinzip der Sozialstaatlichkeit an sich. Die grundsätzliche Zustimmung zum Gedanken, dass der Staat etwas gegen ein zu starkes Auseinanderklaffen der sozialen Schere tun sollte, ist auch in Großbritannien bemerkenswert stabil geblieben.
Bemerkenswert auch, dass der - im Zusammenhang mit dem Koalitionsvertrag in den deutschen Medien gerade mal wieder hochgezogene - „Generationenkonflikt“ in dieser Hinsicht ziemlich irrelevant ist. Im Gegenteil: Gerade Pensionsleistungen an die Alten sind diejenigen Sozialleistungen, die generationenübergreifend, auch bei den Jüngsten, die höchste Zustimmung finden. „They are seen“ so die Autoren der Studie, „to be needy and to have contributed“.
Der Rückgang der Zustimmung für höhere Sozialtransfers betrifft im übrigen Wähler aller Parteien. Lag der Anteil von Labour-Wählern, die höhere Sozialausgaben als eine der zwei Top-Prioritäten für zusätzliche Staatsausgaben angaben, Anfang der 1980er Jahre noch bei knapp 20 Prozent, so ist er heute auf knapp 8 Prozent gefallen. Nachdem New Labour mit seiner Politik noch heftig daran mitgearbeitet hatte, den Zusammenhang zwischen Beiträgen und Berechtigungen zu zerstören, scheint nun ein Umdenken in der Partei eingesetzt zu haben. Die Überlegungen der Parteiführung unter Miliband gehen nun eher darum, wie dieser Zusammenhang wieder gestärkt werden kann, etwa durch Unterscheidungen der Anspruchsniveaus von Sozialtransferempfängern entsprechend der Höhe der vorher geleisteten Sozialbeiträge.
Sozialsysteme sind ebenso schwer zu vergleichen wie politische Systeme. Großbritannien ist und bleibt in vielerlei Hinsicht eine Insel. Dennoch ist unübersehbar, dass ähnliche Prozesse der schleichenden Delegitimierung von Sozialsystemen auch auf dem Kontinent stattfinden. Wobei auch hier weniger das sozialstaatliche Prinzip an sich, als die konkrete sozialstaatliche Praxis in Frage steht. Es ist dieser Kontext, in dem auch die gerade aktuelle Frage des bedingungslosen Zugangs von EU-Ausländern zu den sozialen Sicherungssystemen anderer EU-Staaten seine Brisanz erhält. Eine Ausweitung des Empfängerkreises auf Menschen, die keinerlei Vorleistungen für das System erbracht haben, dürfte in allen Zuwanderungsländern auf wenig Sympathie stoßen und die gesellschaftliche Akzeptanz der Sozialsysteme insgesamt eher beschädigen.
In diesem Sinne stellt die Demos-Studie eine Warnung an die Linke dar, sich sehr genau zu überlegen, was sie da tut. Und welche politischen Risiken und Nebenwirkungen mit ihren Positionen unter Umständen verbunden sind.