Ausgerechnet: Der Vorteil des "Living Wage"
Einer der interessantesten Think Tanks in Großbritannien ist zur Zeit die Resolution Foundation. Zielsetzung der Organisation ist es, „den Lebensstandard der 15 Millionen Briten, die von niedrigen oder mittleren Einkommen leben, zu verbessern.” 2013 wurde die Resolution Foundation zum „Think Tank of the Year“ gewählt.
Die neuste Publikation, die zusammen mit dem bewährten Institute for Public Policy Research herausgebracht wurde, untersucht die Konsequenzen und Möglichkeiten der Durchsetzung eines über den gesetzlichen Mindestlohn hinausgehenden „living wage“: Beyond the Bottom Line – The challenges and opportunities of a living wage.
Die Debatte um einen „living wage“ ist keineswegs neu, sie wurde vor über zehn Jahren unter Einfluss von Politikaktivisten wie Maurice Glasman in London gestartet. Die Grundüberlegung ist, dass der hauptsächlich nach ökonomischen Kriterien festgesetzte gesetzliche Mindestlohn (z.Z. 6,31 GBP, ca. 7,60 €) zum Überleben gerade in London nicht ausreicht. Großbritannien hat ebenso wie Deutschland in den letzten dreißig Jahren einen deutlichen Anstieg von Niedriglohnverhältnissen erlebt. Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns durch Labour 1998 hat dieses Problem nicht beseitigt. Die Forderung lautet daher, einen Mindestlohn, der tatsächlich zum Leben ausreicht, zu definieren und durchzusetzen. Als „living wage“ wurden 2012 ein Stundenlohn von 8,80 GBP für London und 7,65 GBP für den Rest des Landes berechnet (entspricht 10,60 € bzw. 9,20 €).
Resolution Foundation und IPPR haben nun die Konsequenzen einer flächendeckenden Einführung eines „living wage“ durchgerechnet. 4 Millionen Arbeitnehmer würden dadurch höhere Löhne erhalten, die Lohnsumme würde um 6,5 Mrd. GBP ansteigen. Einer der Hauptnutznießer wäre aber der britische Steuerzahler: Netto würden die öffentlichen Kassen um 3,6 Mrd. Pfund entlastet, da die Sozialtransfers an Niedriglohnbezieher sinken würden.
Die beiden Institute empfehlen der Politik daher klar, in diese Richtung voranzuschreiten. Vor allem der öffentliche Dienst sollte vorangehen, zumal in London, wo der gesetzliche Mindestlohn besonders unzureichend ist. Das öffentliche Beschaffungswesen sollte die Zahlung von „living wages“ in die Ausschreibungsbedingungen übernehmen. Börsennotierte Unternehmen sollten gezwungen werden, Anzahl und Anteil von unterhalb des „living wage“ bezahlten Angestellten öffentlich zu machen. Die zivilgesellschaftliche Kampagne zum „living wage“ soll unterstützt werden.
Insgesamt ein interessantes Papier, in dem es ein weiteres Mal darum geht, die Debatte um eine gerechte Ordnung des Kapitalismus aus dem Bereich der Sozialtransfers herauszuführen. Und wieder dahin zurück zu tragen, wo sie eigentlich hingehört: in die politische Ökonomie, d.h. hin zur Frage der Wertschöpfungsverteilung zwischen den Arbeitnehmern und den Kapitalbesitzern. Die demokratisch legitimierte Politik ist hier gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, den arbeitenden Menschen ein Minimum an Existenzsicherheit geben, anstatt die Allgemeinheit zu belasten.
Lohnstagnation und Mindestlohn in den USA
Einen höheren gesetzlichen Mindestlohn – der kaufkraftbereinigt heute deutlich unter dem Niveau der 1960er Jahre liegt – fordert auch Jared Bernstein vom US-amerikanischen Centre on Budget and Policy Priorities in einem Blogeintrag. Auch hier geht es um eine Art „living wage“: die letztes Jahr in den Kongress eingebrachte Gesetzesinitiative nennt ihn einen „Fair Minimum Wage“.
Würde dieses Gesetz umgesetzt, würde der Mindestlohn 2016 den Kaufkraft-Wert von 1967 wieder erreichen – 50 Jahre und zwei industrielle Revolutionen später…
Die Gründe für diese langanhaltende Stagnation bzw. für den Verfall der Lebensverhältnisse und der Bezahlung der amerikanischen Durchschnittsarbeitnehmer beschreibt Harold Meyerson in einem instruktiven Artikel in American Prospect: „The Forty-Year Slump“.
1974 markierte das Ende der goldenen Epoche des „american way of live“: Es war das Jahr, in dem zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg die Löhne in Amerika sanken. Vierzig Jahre später hat sich das Bild der Nachkriegszeit auf den Kopf gestellt: „The economic lives of Americans today paint a picture of mass downward mobility.“ Der Grund für diesen Verfall sieht Meyerson vor allem in der Zerschlagung der Macht der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung durch Globalisierung und die Verschiebung der Produktionsstandorte in den „sun belt“ im Süden der USA. An seine Grenzen stößt der Beitrag dort, wo er nach Alternativen sucht. Ausgerechnet Deutschland – langjähriger Europameister der Lohnstagnation und des Niedriglohnsektors – wird als Gegenentwurf zur amerikanischen Entwicklung präsentiert. Da ist wohl noch ein bisschen Recherche fällig…
Die EU und der Öffentliche Dienst in Europa
Ein interessantes Papier der französischen Fondation Jean Jaurès beschäftigt sich mit der Frage der Zukunft des öffentlichen Dienstes in Europa. In „(Re)légitimer l’action publique en Europe“ beschreiben die Europaabgeordnete Françoise Castex und der Politologe Pierre Bauby die ständigen Versuche der EU-Kommission, die öffentlichen Dienstleistungen in Europa zu banalisieren und der Marktlogik zu unterwerfen.
Es geht hier um einen dicken Brocken: Der öffentliche Dienstleistungssektor stellt ein Viertel des BIP der Union und 30 Prozent der Arbeitsplätze. Eine halbe Millionen Unternehmen sind hier aktiv. Seit den 80er Jahren und dem Siegeszug neoliberalen Denkens in Brüssel versucht die Kommission, diesen Sektor der Wettbewerbslogik zu unterstellen. Haupttreibende sind dabei nicht nur liberal-konservative Politiker wie José Manuel Barroso. Auch Vertreter der linken Mitte wie der Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia haben, so die Autoren, in den letzten Jahren wenig Konstruktives unternommen, um die Gestaltungsfreiheit demokratischer Politik bei der Sicherung der Daseinsvorsorge zu schützen. „Mehr denn je befindet sich die Europäische Union in der Logik einer offenen Marktwirtschaft und des freien Wettbewerbs gefangen.“ Hauptbetreiber der neoliberalen Deregulierungspolitik ist aber die Brüsseler Beamtenschaft, „ein Korps“ so Castex und Bauby, „in dem seit den 1980er Jahren die Fixierung auf den Markt, den Wettbewerb und eine liberale Wirtschaftsideologie dominieren“.
Insgesamt ein überraschend gedämpftes Papier aus dem ansonsten bibelfest europhilen Haus in der Cité Malesherbes. Es beschreibt, wie in Brüssel mit Halbsätzen Politik gemacht wird, die die Spielräume demokratischer Politik beschränkt und das Subsidiaritätsprinzip auf den Kopf stellt. Und dies ist Zeiten, wo aufgrund der Wirtschafts- und Währungskrise der Bedarf an öffentlichen Dienstleistungen, aber auch an Initiativen einer neuen Gemeinwirtschaft in weiten Teilen Europas steigt.
Die Aufgabe des nächsten Parlaments und der nächsten Kommission müsse es daher sein, endlich eine solide juristische Absicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge im europäischen Recht zu erreichen und die Vorherrschaft der demokratischen Politik über die Wettbewerbslogik zu sichern.