Die soziale Selektivität der Krise in Spanien
An sich würde man ja gerne mehr Beiträge aus Ländern aus dem nicht-angelsächsischen Raum präsentieren. Aber die Leistungsfähigkeit der Think-Tank-Landschaft in den Krisenländern ist von eben dieser Krise nicht unberührt geblieben. Dies gilt auch für Spanien. Anfang Januar wurde die Fundación Ideas abgewickelt, die sich lange als Ideen-Laboratorium der PSOE präsentiert hatte. Der Direktor der Einrichtung, Carlos Mulas, hatte über Jahre hinweg hohe Honorare an eine fiktive US-amerikanische „Star-Kolumnistin“ bezahlt, hinter der sich niemand anderes als Mulas eigene spanische Ehefrau verbarg. Die verbliebenen Institutionen leiden unter sinkenden personellen und finanziellen Ressourcen. Hin und wieder findet sich aber dennoch etwas Interessantes.
So hat die Fundación Alternativas vor kurzem eine interessante soziologische Untersuchung der Folgen der Krise in Spanien vorgelegt. Die Studie „Como afecta la crisis a las clases sociales?“ beschreibt, wie unterschiedlich die große Depression seit 2008 die sozialen Milieus Spaniens getroffen hat. Die obersten Einkommens- und Berufsmilieus blieben davon weitestgehend unbetroffen. Dies gilt sowohl für die Arbeitslosigkeit wie für den Rückgang der verfügbaren Einkommen.
Die Zunahme der Arbeitslosigkeit hat vor allem qualifizierte und nichtqualifizierte Arbeiter getroffen. Die Zahlen sind bedrückend: Die Arbeitslosenquote stieg unter qualifizierten Arbeitern von 5,3 Prozent auf 19,5 Prozent, bei unqualifizierten Arbeitern von 12 Prozent auf 35,2 Prozent. Das durchschnittlich verfügbare Haushaltseinkommen fiel seit Krisenbeginn um 11 Prozent, und das ohne Berücksichtigung von Kaufkrafteffekten. Bei dieser Entwicklung macht sich vor allem der Einbruch des Immobiliensektors bemerkbar, in dem viele der „blue-collar“-Worker ihre Beschäftigung gefunden hatten. Insgesamt gingen seit Beginn der Krise 3 Millionen Arbeitsplätze verloren.
Die Segnungen des Freihandels
Mit den Verhandlungen zum transatlantischen Freihandelsabkommen TTIPs wird in Brüssel wie in Washington aktuell wieder das Hohelied von Freihandel, Deregulierung und den zu erwartenden Wohlstandseffekten gesungen. Allerdings etwas verhaltener, weil die Wachstumseffekte nur relativ gering sein werden: Ernst zu nehmende tarifäre Handelshemmnisse existieren im transatlantischen Handel ohnehin kaum.
Das war bei der Einführung des nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA vor zwanzig Jahren noch anders: Damals wurden große Wachstumssprünge vor allem für Mexiko versprochen. Die Realität sieht allerdings, so eine aktuelle Studie des Washingtoner Center for Economic and Policy Research ein bisschen anders aus. In „Did NAFTA Help Mexico? An Assessement after 20 Years“ stehen ernüchternde Zahlen: Mexiko ist in den 20 Jahren Freihandel mit den USA weit unter dem lateinamerikanischen Durchschnitt gewachsen, nur halb so schnell wie der Rest des Subkontinents. Heute leben 14,3 Millionen mehr Mexikaner in Armut als 1994. Inflationsbereinigt stehen die Löhne heute knapp über dem Stand von 1994, kaum höher als in den 80er Jahren. Die NAFTA-Folgen für Mexiko waren „decades of economic failure by almost any economic or social indicator“.
Im Kern, so die Autoren des CEPR, ging es bei NAFTA aber ohnehin immer um etwas anderes: Die Festschreibung einer neoliberalen Logik in der Wirtschafts- und Handelspolitik. Und genau darum wird es auch bei TTIP gehen: Um die Betonierung des herrschenden Neoliberalismus und eine möglichst weit gehenden Immunisierung der Ökonomie gegenüber den Regulierungsansprüchen demokratischer Politik. Auf diesen politischen Kern von TTIPS hat auch schon Christoph Scherrer in seiner exzellenten Analyse für die „Gegenblende“ hingewiesen, die einen guten Einstieg in das Thema darstellt.
Chattanooga vs. Greenwich Village
Einen erhellenden Blick wirft „The American Prospect“ auf die Abstimmungsniederlage der UAW (United Auto Workers) bei der Abstimmung über die Einrichtung eines Betriebsrates im VW-Werk in Chattanooga. In den deutschen Medien wurde dies ja auch ein Stück weit als eine Niederlage des mitbestimmungsorientierten Modells des rheinischen Kapitalismus in den USA gewertet. Die massive politische Einflussnahme von Seiten der Republikaner wurde hierzulande – etwa von Bernd Kupilas in der „Mitbestimmung“ – sehr gut dokumentiert. In „When Culture Eclipses Class“ weist Harold Meyerson auf einen anderen möglichen Grund hin: Die Abstimmungsniederlage der UAW hat weniger mit der Frage Betriebsrat oder nicht zu tun, sondern hat ideologische und kulturelle Gründe. Die Organisation ist aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung und ihres langen politischen Engagements für Bürgerrechte und linke politische Projekte gerade den einfachen Arbeitern in den Südstaaten tief suspekt. Die kulturelle und Werteprägung dieser Menschen ist grundkonservativ.
Genau diese linksliberale ideologische Ausrichtung der UAW hat es ihr dagegen erlaubt, sich bei den Vertretungswahlen des akademischen Mittelbaus an der New York University, der größten privaten Universität der USA, durchzusetzen. Während die Autobauer in Chattanooga mit 712 zu 626 Stimmen ablehnten, sich von der UAW vertreten zu lassen, stimmten die linksliberalen Akademiker in Greenwich Village mit 620:10 Stimmen für den Beitritt zu UAW. Meyerson erklärt dieses Paradox damit, dass „politics of race and culture often eclipse those of class in the United States“.
Das wird stimmen, aber die Entwicklung der UAW verweist auf ähnliche Entwicklungen auch in anderen Ländern: Denn der Niedergang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads in den vergangenen Jahrzehnten ist ja kein US-amerikanisches Phänomen allein, sondern betrifft auch Westeuropa. Die handelsübliche Erklärung ist auch hier der Druck der Verhältnisse, die strukturelle Arbeitslosigkeit und neoliberale Deregulierungs- und Anti-Gewerkschaftspolitik. Vermutlich alles richtig. Und dennoch kann auch in Westeuropa nicht übersehen werden, dass ein wachsender ideologischer und kultureller Graben die Gewerkschaften und ihre Funktionäre von Teilen gerade der gewerblichen „blue collar“ Arbeitnehmerschaft trennt. Deutschlands Gewerkschaften sind hier, nicht zuletzt dank der festen betrieblichen Verankerung über die Betriebsräte, in einer sehr günstigen Lage. Woanders sieht das aber deutlich problematischer aus. Langfristig kann diese Entwicklung nur beiden Seiten schaden – den Gewerkschaften genauso wie den Arbeitnehmern.