Europawahlen: Das große Schweigen

Eigentlich würde man für den Monat nach der Europawahl eine gewisse Anzahl von Papieren erwarten, die sich mit diesen Wahlen beschäftigen. Ein bisschen was ist schließlich passiert: Die großen Volksparteien mit ihren europäischen Spitzenkandidaten haben zum Teil deutlich an Stimmen verloren und sehr überschaubare Zustimmungswerte erhalten. Rechnet man hart und bösartig, so haben für die EVP 12,7 Prozent der europäischen Wahlberechtigten gestimmt und für die Mitgliedsparteien der PSE gerade noch 11 Prozent. Rechts- wie linkspopulistische Parteien haben in Kernländern der EU zum Teil spektakuläre Ergebnisse erzielt. Während Policy Network und FES noch wenigstens solide Übersichten über die Wahlergebnisse in den einzelnen Ländern auf die Beine stellten, findet sich auf den Seiten von Fondation Jean-Jaurès, Renner-Institut, Alternativas, IPPR, Compass: Nichts.

Auf der Seite von Italianieuropei findet man einen überholten FEPS-Artikel, der zur Bildung einer „Junckers-Schulz“-Kommission aufruft. Die Fabian Society beschäftigt sich mit den Lektionen der britischen Kommunalwahlen, nicht mit denen der Europawahlen. Lediglich auf der Seite der Wiardi Beckman Stichting gibt es einen nachdenklichen Artikel von Jan Marinus Wiersma über das aus seiner Sicht gescheiterte Experiment der Spitzenkandidaten.

Man fragt sich instinktiv, woran dieses Schweigen liegen könnte: Die Ergebnisse der Europawahlen sind nicht banal. Sie enthalten eine Botschaft an die Politik und diese verdient Beachtung. Warum beschäftigt sich die europäische Linke dann nicht damit? Die wohlwollende Betrachtung wäre, dass das vielleicht noch kommt. Die weniger wohlwollende die, dass es die Parteien nicht wirklich interessiert. Solange Wahlen Parteien nicht von Posten und Ämtern verdrängen (und das haben die Europawahlen weder national noch im großkoalitionären Brüssel getan), solange nimmt man Wahlen hin, aber nicht ernst. Die Geschwindigkeit, mit der alle Beteiligten nach dem 25. Mai wieder in den Normalmodus schalteten, statt darüber nachzudenken, was die Wähler eigentlich mitteilen wollten, lässt einen ein bisschen erschrecken.

The Condition of Britian: IPPRs Entwurf für eine moderne Sozialpolitik

Unter Beteiligung von Ed Miliband und Jon Cruddas wurde am 19. Juni der neue sozialpolitische Bericht des IPPR vorgestellt, in dem viele Beobachter einen wichtigen Grundstock des zukünftigen sozialpolitischen Programms Labours sehen. Die Medienberichterstattung über „The Condition of Britain: Strategies for social Renewal“ war ausgesprochen wohlwollend. Der konservative Daily Telegraph nannte den Bericht gar eine „Magna Charta für die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert“.

Das ist dick aufgetragen, aber der Bericht ist auf alle Fälle interessant. Ihm zugrunde liegt der Versuch des IPPR, das Thema „soziale Gerechtigkeit“ zeitgemäß zu formulieren und mit konkreten Politikvorschlägen zu unterlegen. Auffällig ist, dass der Begriff relativ weit gefasst wird: Nicht nur als eine möglichst hohe ökonomische Gleichheit, sondern als eine „größere Gleichheit in den sozialen Beziehungen“. Das Ziel ist eine Gesellschaft, in der die „Menschen als freie und gleiche Bürger in Beziehung stehen und in denen ungerechte Macht-, Wertschätzungs- und Statushierarchien abgebaut werden“. Einkommensungleichheit ist hier nur ein Aspekt, der in dem Bericht auch relativ wenig behandelt wird. Ebenso wenig wie Fragen des Gesundheitssystems, des Erziehungssystems und der Einwanderungs- und Integrationspolitik, die das IPPR schon in anderen Studien abgehandelt hat. In „The Condition of Britain“ geht es sehr konzentriert um die Instrumente einer modernen Sozialpolitik. Diese basiert auf einigen essentiellen Grundprinzipien: (1) Dem Versuch einer stärkeren Dezentralisierung und einer erhöhten Verantwortung und Entscheidungsfähigkeit des Individuums – eine klare Abkehr von der zentralistischen Nanny-State-Logik der letzten Labour-Regierungen. (2) Einer stärkeren Koppelung von Beiträgen und Leistungen des Systems und eine Abkehr von der Dominanz der Logik der Bedürftigkeit, hin zu einer stärkeren Betonung der Logik der „Beitragsgerechtigkeit“. (3) Dem Versuch, sozialpolitische Ziele wieder vermehrt über die Stärkung von gesellschaftlichen Institutionen und öffentlichen Einrichtungen zu verfolgen – bis hin zur Stärkung von Beziehungen und Ehepartnerschaften. Auch dies stellt eine deutliche Abkehr von der auf Geldtransfers und Steuervorteile fixierten Sozialpolitik der Blair-Brown-Ära dar.

Im Zentrum der politischen Vorschläge (28 konkrete „Einzelpolitiken“) stehen die Herausforderungen der Kindererziehung, der Sicherung der Pflege in einer alternden Gesellschaft, die Sicherung des Zugangs zum Arbeitsmarkt, die Stärkung des Wohnungsbaus und die Legitimierung der Sozialsysteme durch eine höhere Beitragsgerechtigkeit. Wenige der Vorschläge wirken sehr originell (sieht man von dem Recht auf staatlich subventionierte Ehe- bzw. Beziehungsberatung ab). Aber in der Summe stellen sie ein sinnvolles Paket einer Sozialpolitik dar, in deren Mittelpunkt der Mensch als „gesellschaftliches Wesen“ steht.

Der Großteil der Politiken ist natürlich auf die britische Situation und die dortige institutionelle Landschaft ausgerichtet: Sozialpolitik ist noch „pfadabhängiger“ als viele andere Politikfelder, da sie auf einem Geflecht historisch gewachsener staatlicher und privater Institutionen und Systeme basiert. Aus deutscher sozialdemokratischer Sicht lohnt aber auf alle Fälle das einführende erste Kapitel der Lektüre („Our goals for society“). Die Autoren skizzieren hier auf knappem Raum einen anregenden theoretischen und normativen Rahmen für ein modernes Verständnis sozialer Gerechtigkeit in Zeiten knapper Kassen und skeptischer Bürger.