Was bleibt? Was kommt? Im Gegensatz zu Europa wurden die meisten südamerikanischen Länder im letzten Jahrzehnt von linken Parteien bzw. von Parteien mit einer progressiven Agenda regiert. Die Sorgen der Gesellschaften Lateinamerikas kreisten nach dem Privatisierungs- und Flexibilisierungsprogramm der neoliberalen Ära um die soziale Frage. 2014 ist nun ein wichtiges Wahljahr, und in Ländern wie Brasilien, Bolivien und Uruguay wird über die Zukunft der Linken an der Regierung entschieden. In den vergangenen Monaten formulierten Kritiker und Experten das (durch die Progressiven) politisch Erreichte in den einschlägigen Zeitschriften thesenartig aus. Immer wieder wandert dabei der Blick zur neuen Rechten, da Länder wie Mexiko oder Kolumbien entweder nicht von der roten Welle erfasst wurden oder sich in Chile zwischenzeitlich der Kandidat einer konservativen Partei durchgesetzt hatte.       

Die Bändigung und Ordnung des Marktes

Im Dickicht der Probleme und Herausforderungen der modernen lateinamerikanischen Gesellschaften gab es in den vergangenen Jahren soziale Fortschritte, die direkt auf das Handeln progressiver Kräfte zurückzuführen sind. In einer Sonderausgabe Brüche in Lateinamerika des El Diplo, der argentinischen Ausgabe der Monde Diplomatique, zieht José Natanson, Journalist und Autor des Buches „La nueva izquierda“ (die neue Linke), eine klare Bilanz. Die soziale Lage hat sich für die meisten Südamerikaner aufgrund der progressiven Politik im letzten Jahrzehnt verbessert. Dazu gehören die Einführung von Sozialhilfe, die Formalisierung von Arbeitsplätzen, die Verknüpfung von Sozialhilfe und Schulpflicht oder neugewonnene Rechte für Minderheiten. Die Qualität der öffentlichen Güter für die Gemeinschaft hingegen hat sich nicht positiv verändert. „Es hat sich die Lebensqualität im Haus des Einzelnen verbessert, aber nicht außerhalb davon“, so Natanson. Das Hauptproblem der lateinamerikanischen Gesellschaften heute heiße daher Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen, insbesondere im städtischen Raum.

 

Die schlechte Qualität öffentlicher Leistungen ist kein neues Thema in Lateinamerika. Das Bildungs- und Gesundheitssystem, Infrastruktur und öffentlicher Nahverkehr, zivile und öffentliche Sicherheit sind seit Jahren Großbaustellen. Entsprechend haben sich nicht nur die oberen Hundert, sondern auch Familien der Mittelschicht in private Schutzburgen zurückgezogen. Das demokratische Brodeln in Brasilien oder die chilenischen Studierenden reklamieren gute öffentliche Güter. Die Erholung und der hochwertige Ausbau des öffentliche Raums – in den 1990er Jahren politisch vernachlässigt und im ersten Jahrzehnt des neues Jahrhunderts durch Wachstum und Konsum der neuen Mittelschichten überfordert – ist die zentrale Aufgabe der progressiven Kräfte, so Natanson, wollen sie an der Regierung bleiben.     In derselben Ausgabe spricht Pablo Stefanoni von einer „Lula-isierung“ der lateinamerikanischen Linken. Die heroische „erste“ Etappe war geprägt von der Erweiterung der Demokratien durch die Zuschreibung neuer Bürgerrechte (etwa für indigene Bevölkerungsgruppen in Bolivien, für LGBTI in Argentinien, für Hausangestellte in Uruguay), eingebettet in ein Wachstumsmodell mit  unterschiedlich starken marktwirtschaftlichen Regulierungsmechanismen und flankiert von Sozialprogrammen mit dem Ziel der Inklusion. Heute aber fehle es an Ideen und politischer Kreativität, vor allem mit Blick auf die Bedürfnisse der jüngeren Generation, die sich an die lange „neoliberale Nacht“ mit ihren sozialen Verwerfungen nicht erinnere.

Von Lateinamerika lernen

Die britische Lateinamerikaexpertin Grace Livingstone bringt die Beobachtungen Stefanonis und Natansons vor allem für entferntere europäische Beobachter auf den Punkt. In „Der verlegene Konservatismus“ in der gleichen Ausgabe der El Diplo betont sie das Rezept der lateinamerikanischen Linken: Ein maßvoll eingesetzter politischer Wille, der Gestaltungskraft freisetzt. Austeritätsgeplagte Europäer könnten davon lernen, so Livingstone, und legt damit den Finger in die offenen Wunden der europäischen Sozialdemokratie. Die lateinamerikanische Rechte passe sich allerdings nun mit Pragmatismus, sanfter Werterhetorik und dem Ruf nach neuen Freihandelsmodellen mit dem Pazifik an die Umstände an (auch um das Negativerbe des Neoliberalismus und der Militärdiktaturen endgültig hinter sich zu lassen). Hier sei die Linke in der Regierung gefragt: Sie habe dem Staat als gestaltendem Akteur neues Leben eingehaucht. Das rohstoffbasierte und exportorientierte Wirtschaftsmodell müsse nun diversifiziert werden, um soziale Errungenschaften zu erhalten.

Livingstone benennt damit den wichtigsten Schwachpunkt des Aktivismus der lateinamerikanischen Linken. In vielen Ländern der an Biodiversität kaum zu übertreffenden Region basieren die sozialen Fortschritte direkt oder indirekt auf einem extraktiven Entwicklungsmodell, das aufgrund globaler Produktivketten intensiv ausgebaut wurde. Die brasilianische Umweltberaterin Ana Toni betont daher in der Juli-August-Ausgabe von Nueva Sociedad mit dem Schwerpunktthema Kapitalismus, Klima und Konflikt, dass gerade Lateinamerika aufgrund seiner Abhängigkeit von natürlichen Rohstoffen eine strategisch wichtige Rolle zukommt.  Zudem habe gerade Lateinamerika aufgrund der positiven sozialen Agenda ein klares politisches Ziel, und müsse nun gerade als Austragungsort der nächsten Conference of Parties der United Nations Framework Convention on Climate Change, eine neue Entwicklungsvision vortragen, die auf Kollektivrechten und dem Gemeinwohl basiert. Die konfliktive Beziehung zwischen Kapitalismus und Natur erreicht zurzeit eine neue alarmierende Dimension, auf die die progressiven Regierungen noch keine Antwort gefunden haben.

Systemfehler eines praktisch unregulierten Kapitalismus

Eine sehr junge und konkrete Reformagenda analysiert der chilenische Ökonom Luis Eduardo Escobar in der Juli-August Ausgabe der überregionalen Zeitschrift Nueva Sociedad. Michele Bachelet, die neue und alte Präsidentin Chiles (zwischendurch war vier Jahre lang eine konservative Regierung an der Macht gewesen), hat sich das Thema Reformen auf die Fahnen geschrieben. Ihr im Dezember 2013 gewonnenes Mandat beruht auf der Hoffnung, der Ungleichheit im Land konkrete Maßnahmen entgegenzusetzen.

Die chilenische Ungleichheit kann an greifbaren sozialen Indikatoren ausgemacht werden. Doch sie greift tiefer. Der Zugang zu Dienstleistungen wie Apotheken, Polizeistationen oder Krankenhäusern ist ungleich, da durch Wohnviertel geprägt. Das Gefälle zwischen Stadt und Land ist stark. In Chile, so der Autor, zeigen sich die eklatanten Systemfehler eines praktisch unregulierten Kapitalismus: Umweltschäden, Ungleichheit, schlechte Gesundheitsversorgung für die Allgemeinheit und Raub der Ressourcen. Der Autor begrüßt die von Bachelet im Mai verkündeten Reformen in der Steuer- und Bildungspolitik sowie im Wahlrecht. Durch Steuererhebungen für Unternehmen und stärkere Finanzkontrolle sowie neue Steuern auf Dieseltreibstoff, Alkohol und Tabak sollen die Steuereinnahmen erhöht werden, auch um die geplanten staatlichen Bildungs- und Gesundheitsmaßnahmen zu finanzieren. Zu erwähnen sind auch interessante und ungewöhnliche Vorschläge wie die Schaffung eines virtuellen Wahlbezirks für die indigene Bevölkerung, der ihnen eine direktere Repräsentanz im Parlament ermöglichen soll. Gelingen die Reformen nicht, wird ein Sozialkonflikt unvermeidlich, prognostiziert Escobar. 

Abbau der Ungleichheit und Vertiefung der Demokratie

Während im tiefen Süden über die Bilanz der Linken in der Regierung und konkrete neue Maßnahmen nachgedacht wird, klagen die bekannten mexikanischen Intellektuellen Hector Aguilar Camín und José Woldenberg am nördlichen Ende des Subkontinents in der Juniausgabe der Monatszeitschrift Nexos die demokratische Linke als Gestaltungskraft für die Bewältigung der wichtigsten Probleme der mexikanischen Gesellschaft ein: Abbau der Ungleichheit und Vertiefung der Demokratie.

Man sieht: Die Herausforderungen sind quer durch den Kontinent ähnlich. Nur hat sich die mexikanische Linke noch auf kein gemeinsames Projekt geeinigt und damit noch keine Regierungsfähigkeit auf nationaler Ebene erobert. Woldenberg identifiziert in Mexiko weiterhin  Elemente der delegativen Demokratie, die es den Bürgern, vor allem den ärmeren, erschwert, sich in demokratisch-aktive Subjekte zu verwandeln. Hier habe die Linke die Aufgabe, Privilegien abzubauen und das Öffentliche zurückzuerobern. Aguilar Camín benennt die Fiskalpolitik, Arbeitsmarktpolitik und die Bereitstellung von qualitativ hochwertigen Standards öffentlicher Güter als Aufgabenbereiche für die demokratische Linke.

Progressive Parteien in Lateinamerika müssen heute die ökonomischen und sozialen Interessen der Mittelschicht wie auch der Arbeitnehmer und Randgruppen repräsentieren. Die lateinamerikanischen Kritiker sind sich einig: Die Bändigung und Ordnung des Marktes und die Schaffung öffentlicher Güter, die Grundthemen der sozialdemokratischen Tradition, sind aktueller denn je.