Der Niedergang von Parteien der linken Mitte bei Parlamentswahlen ist inzwischen ein vielfach besungenes Phänomen. Die SPD hält sich mit dem historisch schlechten Ergebnis von 20,5 Prozent sogar noch gut, wenn man ihre Lage mit den Schwesterparteien in Frankreich, den Niederlanden oder Griechenland vergleicht. Auch in Italien, Spanien, Österreich, Belgien und selbst in Skandinavien sind sozialdemokratische Parteien heute in einer schwierigen Lage.

In ihrem angestammten Kernmilieu der Arbeiter oder zumindest der Gewerkschaftler ist die Sozialdemokratie nicht mehr unangefochten. Noch begrenzter ist ihre Strahlkraft in Bezug auf das sozioökonomisch untere Fünftel der Gesellschaft.  Neben den verbleibenden Arbeitslosen sind das vor allem die in Dienstleistungsberufen prekär Beschäftigten. Man mag sich in der Sozialdemokratie  mit einem stabilen Zuspruch aus dem Milieu der akademisierten Angestellten und Beamten sowie der Facharbeiter aus den Exportindustrien trösten, aber ihre traditionelle Kernaufgabe, eine Verbindung der unteren und mittleren sozialen Gruppen, liegt damit weitgehend brach.

Eine linkspopuläre Position ist keine populistische Position.

Verblüffend ist dieser Befund allerdings vor allem dann, wenn man ihn mit dem prinzipiell ganz erheblichen Wählerreservoir für sozialdemokratische Politik vergleicht. In Deutschland sind beispielsweise knapp zwanzig Prozent der  Bevölkerung von relativer Armut betroffen, weitere 30-40 Prozent fürchten sich in langfristiger Perspektive vor dem sozialen Abstieg. In keinem Bundesland finden mehr als 15 Prozent der Bevölkerung, dass die wirtschaftlichen Gewinne gerecht verteilt sind, in Brandenburg ist es gerade mal ein Prozent, so das „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ der Bertelsmann Stiftung im Dezember 2017. Der Anteil der unteren 50 Prozent am Volkseinkommen ist in den letzten drei Jahrzehnten deutlich geschrumpft, die Ungleichheit der Vermögensverteilung hat auch im internationalen Vergleich eine extreme Dimension angenommen und eine klare Mehrheit der Bevölkerung verortet sich politisch eher links als rechts.

Warum liegt der Anteil der beiden linken Parteien in Deutschland angesichts von Armut, Abstiegsangst und Ungleichheit bei nur etwa 30 Prozent der Bundestagsmandate und nicht bei 50 oder 60? Sehr große Teile des linken Wählerpotentials üben sich in Wahlenthaltung, zum Teil schon seit vielen Jahren. Jenes Viertel der deutschen Bevölkerung, das auf die Beteiligung an der Bundestagswahl verzichtet hat – bei Kommunal-, Landtags- und Europawahlen sind es noch viel mehr – rekrutiert sich überproportional aus den sozial schwachen Bevölkerungsgruppen.  Zudem wählen viele Angehörige der unteren Mitte – und selbst viele organisierte Arbeitnehmer – mit der AfD inzwischen eine neoliberal-rechte Partei.

Um langfristig wieder eine Mehrheitsperspektive zu gewinnen, muss die Sozialdemokratie diese sozialen Gruppen zurückgewinnen. Sie müsste dafür nicht nur sozioökonomisch eine konsequente Politik für die unteren 50-60 Prozent der Bevölkerung machen, sondern auch jenen Menschen entgegenkommen, die Vorbehalte gegenüber einer ungebremsten Globalisierung hegen. Große Teile der Bevölkerung – insbesondere jene ohne akademischen Abschluss – sorgen sich ja um die langfristige Schwächung des Sozialstaats durch Migration und eine supranational-liberalisierende EU.

Alle Wähler, denen eine eher kommunitaristische Ausrichtung wichtig ist, müssen bisher die AfD wählen.

Politische Positionen, die diesen Sorgen entgegenkommen, werden häufig als „rechts“ wahrgenommen. Das ist allerdings ein Trugschluss. Wir müssen das politische Spektrum zweidimensional wahrnehmen. Dabei wird die links-rechts-Achse von einer zweiten Achse gekreuzt, die man als kosmopolitisch-kommunitaristisch auffassen kann. Kosmopolitisch orientierte Menschen legen großen Wert auf offene Grenzen, ein Regieren jenseits des Nationalstaats und transnationale Mobilität. Kommunitaristisch orientierte Menschen legen Wert auf den Schutz von Demokratie und sozialer Sicherheit auf nationaler Ebene, sie stehen offenen Grenzen, militärischen Interventionen und einer weiteren Stärkung der supranationalen Elemente der EU skeptisch gegenüber.

Während mit der Linkspartei, den Grünen und der aktuellen Ausrichtung der SPD das kosmopolitisch-linke Spektrum dicht besetzt ist, fehlt in Deutschland eine linke kommunitaristische Partei vollkommen. Alle Wähler, denen eine eher kommunitaristische Ausrichtung wichtig ist, müssen bisher die AfD wählen, auch wenn sie deren chauvinistische und mitunter rassistische Ausrichtung ablehnen, vom Neoliberalismus der AfD ganz zu schweigen. Hier könnte  eine politische Ausrichtung der Sozialdemokratie auf eine links-kommunitaristische Position, die ich als „linkspopulär“ bezeichne, Abhilfe schaffen.

Die Stärkung der Masseneinkommen müsste „die“ Kernforderung einer linkspopulären Sozialdemokratie sein.

Eine linkspopuläre Position vertritt klassische Werte der Sozialdemokratie. Es geht dieser Position um die Verbesserung der Lage der Schwachen in der Gesellschaft und um Solidarität, die transnational aber nur in Grenzen möglich ist. Es geht ihr um ein nicht-exportistisches Wirtschaftsmodell, das eine egalitärere Verteilung mit der Rücksichtnahme auf andere Wirtschaftsräume verknüpft. Es geht ihr um einen Fokus auf demokratische Selbstbestimmung, die auf absehbare Zeit eher auf nationaler Ebene als durch die kosmopolitische Vision einer supranationalen Demokratie realisierbar ist. Und es geht ihr schließlich um Interessenausgleich und Respekt anstelle von Intervention und Machtausweitung als Leitprinzipien der internationalen Politik.

Eine linkspopuläre Position ist keine populistische Position. Sie ist nicht chauvinistisch, ausländerfeindlich oder rassistisch. Sie verfolgt ein pluralistisches Politikverständnis, keine plumpe Gegenüberstellung von „Volk“ gegenüber „Elite“. Sie unterstützt die repräsentative Demokratie und sieht die zunehmende Zuspitzung der Politik auf charismatische Führungspersönlichkeiten (Kurz, Lindner, Macron) skeptisch. Und sie ist keine bloße Protestplattform, sondern sie bemüht sich um die Entwicklung von konkreten Problemlösungen.

Mitunter wird behauptet, dass eine linkspopuläre Position eine rückwärtsgerichtete Nostalgie sei und kein positives, zukunftsgerichtetes Projekt habe. Auch das ist eine falsche Wahrnehmung. Insbesondere der Umbau der extrem ungleichen und durch ihre Abhängigkeit von permanenten Exporterfolgen auch potentiell sehr instabilen deutschen Ökonomie in eine besser ausbalancierte Wirtschaft mit einer stärkeren Binnennachfrage ist ein wichtiges Zukunftsprojekt. Dieses Umbauprojekt könnte Kern der Wiedergewinnung einer überlegenen wirtschaftspolitischen Kompetenz der Sozialdemokratie sein, ohne die keine Wahl gewonnen wird. Auch eine systematische Abwägung humanitärer Motive gegenüber der Belastungsfähigkeit nationaler Gesellschaften ist angesichts weltweiter Migrationsbewegungen eine wichtige Zukunftsaufgabe. Und die Entwicklung einer weniger interventionistischen und stärker auf Ausgleich bedachten Außenpolitik ist ein attraktives Konzept für die zukünftige multipolare Welt, die nicht mehr vom Westen dominiert wird.

Man sollte allerdings nicht verschweigen, dass das Einschwenken auf eine linkspopuläre Position einen erheblichen Kurswechsel für die derzeit eher zentristisch-kosmopolitisch ausgerichtete SPD erfordern würde. Ein solcher Schwenk würde eine weniger liberale Zuwanderungspolitik erfordern. Auch kühne Pläne für die „Vereinigten Staaten von Europa“ müssten dann erstmal in der Schublade bleiben. Die Stärkung der Masseneinkommen – beispielsweise über Gesetze zur Stärkung der Tarifbindung, eine verbesserte soziale Absicherung und höhere Mindestlöhne – müsste „die“ Kernforderung einer linkspopulären Sozialdemokratie sein. Für den Wiederaufbau des öffentlichen Sektors, insbesondere in der Altenversorgung, Bildung und Infrastruktur, dürften weder das derzeitige Steuerniveau noch die „schwarze Null“ unantastbar sein. Und schließlich müsste eine solche Sozialdemokratie auch über andere Wege der Rekrutierung ihrer Repräsentanten nachdenken, um nicht zu einer reinen Akademikerpartei zu degenerieren.

Auch wenn der Kurswechsel zu einer linkspopulären Position für die Sozialdemokratie mühsam wäre, sollte die Option nicht verschmäht werden. Das Wählerpotential in der Mitte ist stark umkämpft, dank der nach links gerückten Union, den Grünen und der – zumindest im Bundestagswahlkampf – weichgespülten FDP. Hinzu tritt in Zukunft womöglich noch ein verschärfter Wettbewerb mit der Linkspartei um junge urbane Akademiker. Zudem besteht das Risiko, dass sich in der AfD eine „national-soziale“ Ausrichtung durchsetzt, die sich an Front National und FPÖ orientiert und die strukturelle Mehrheitsfähigkeit der Sozialdemokratie auf Dauer verhindert.