Seit den Parlamentswahlen von 2019 fragen sich die politischen Kommentatoren in Großbritannien verwundert, warum die sogenannte rote Mauer eingestürzt ist. Damit sind die früher gewöhnlich von der Labour Party gewonnenen und in Rot auf der Landkarte angezeigten Sitze gemeint, die von Ost nach West, vom Nordosten Englands bis nach Nordwales, reichten. Bei den letzten Wahlen fielen jedoch die meisten dieser Sitze an die Konservativen.
Der Verlust dieser Sitze führte dazu, dass die Probleme im Zusammenhang mit der sozialen Schichtung und die politischen Präferenzen der „Zurückgelassenen“ in den Fokus rückten, und zwar nicht aufgrund des starken Zusammenhangs von Schicht und Wahlverhalten, sondern weil dieser praktisch nicht mehr vorhanden ist. Nachdem die Wahlkreise, die sich durch einen hohen Anteil an Erwerbstätigen in handwerklichen Berufen und eine niedrige Rate an Menschen mit Universitätsabschluss auszeichnen, im Referendum von 2016 für den Brexit gestimmt hatten, war man davon ausgegangen, dass sie vermutlich bei den nächsten Wahlen auch für die Konservativen stimmen würden.
Aber bei den Parlamentswahlen 2017, direkt nach dem Brexit-Referendum, hat sich diese Annahme noch nicht bewahrheitet. Der Redensart folgend, dass man in diesen Wahlkreisen auch „einem Esel eine rote Rose anstecken könnte, und die Leute würden ihn wählen“, lautete die theoretische Begründung für das besser als erwartete Abschneiden der Labour Party, dass viele Familien schon seit Generationen Labour unterstützen. Im Jahr 2019 hatte diese Theorie dann aber ausgedient, was sofort die Frage aufwarf, ob die Konservativen nun zur neuen Partei der britischen Arbeiterklasse geworden sind.
Allerdings vollzogen sich diese Veränderungen etwas gemächlicher, als das Narrativ des „Einsturzes“ nahelegt. Viele der zur „Mauer“ gehörenden Sitze verzeichneten auch 2017 schon große Stimmenverluste an die Konservativen, allerdings nicht immer genug, um in den Labour-Hochburgen ganz an die Konservativen verloren zu gehen.
Das Referendum über den Verbleib oder Ausstieg aus der EU hatte mit der alten politischen Dimension von Links und Rechts wenig zu tun.
Auch wenn der Brexit eine nahe liegende Ursache scheint, so hatten sich die den Wahlverlusten zugrunde liegenden Muster und die Umorientierung schon länger angebahnt. Erste Anzeichen waren der Stimmenzuwachs zunächst für die Liberaldemokraten in den Parlamentswahlen von 2005 und 2010 und dann für die rechtspopulistische UKIP bei den Wahlen 2015. Diese beiden Parteien spalteten die britische Wählerschaft entlang einer neuen Achse, die weniger mit der sozialen Schicht zusammenhing als vielmehr mit dem Bildungsniveau. Die Liberaldemokraten konnten 2010 den höchsten Stimmenanteil in der Wählerschaft mit den höchsten Bildungsabschlüssen gewinnen, während die UKIP 2015 mehr als eine von fünf Stimmen in der Wählerschaft mit den niedrigsten Abschlüssen für sich verbuchte.
Diese sozialen Positionen sind wiederum eng mit politischen Werten verknüpft. Bis vor Kurzem sprach man gewöhnlich noch von der Linken und der Rechten in der britischen Politik, als wären dies die einzigen Dimensionen, an denen sich die Wählerschaft und die Parteien ausrichten und in denen sich die politischen Strategien zur wirtschaftlichen Umverteilung und die sozialen Schichten widerspiegeln. Das Referendum über den Verbleib oder Ausstieg aus der EU hatte jedoch mit dieser „alten“ politischen Dimension von Links und Rechts wenig zu tun. Auch wenn in der Wählerschaft eine „zweite“ Dimension sozialer Werte schon längere Zeit wahrgenommen wurde, so war es doch die Verbindung zwischen dem Referendum und dieser neuen Dimension, die in Großbritannien die „sozialen Werte“ ins politische Rampenlicht rückte.
Den Konservativen gelang 2019 das Kunststück, die „sozial konservativen“ Wähler und Wählerinnen, die für den Ausstieg gestimmt hatten, zu einen, obwohl viele von ihnen in Wirtschaftsfragen bei Weitem linkere Positionen vertraten als die „treue“ Wählerschaft der Konservativen. Das lässt sich anhand von Daten aus dem British Election Study Internet Panel veranschaulichen (Grafik).
Der Vergleich zwischen denen, die 2019 die Konservativen wählten, 2017 aber noch für die Labour Party gestimmt hatten, mit der „treuen“ Wählerschaft der Konservativen, die in beiden Wahlen für diese Partei gestimmt hatten, zeigt, dass beide auf der von sozialliberal bis sozialkonservativ reichenden Skala im Durchschnitt eine ähnliche Position einnehmen. In diesem Sinne sind sie eine geeinte Wählergruppe mit einem gemeinsamen Nenner. In Bezug auf ihre wirtschaftlichen Werte ist der Abstand zwischen den beiden Gruppen jedoch sehr viel größer. In der Tat nehmen diejenigen, die 2019 die Konservativen wählten, 2017 aber Labour gewählt hatten, in Bezug auf ihre wirtschaftlichen Präferenzen ziemlich genau die zwischen der Stammwählerschaft der Konservativen und der treuen Labour-Anhängerschaft liegende Position ein.
In einem System, das von zwei Parteien dominiert wird, kann immer die Partei die Regierung bilden, die einen Weg findet, die gegensätzlichen Seiten der Wählerschaft zu vereinen.
Es war immer wieder die Rede von der „Wertekluft“ zwischen der treuen Labour-Wählerschaft und denen, die von Labour zu den Konservativen wechselten, und es ist klar, dass dies für Labour ein wichtiges Thema ist. Aber auch den Konservativen drohen Gefahren: Die „neue“ konservative Wählerschaft steht staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft und Regierungsausgaben sehr viel positiver gegenüber als die traditionellere Stammwählerschaft der Tories. Das spiegelt sich auch in den Spannungen zwischen Boris Johnson und seinen Hinterbänklern auf beiden Seiten wider: die Seite derer, die jetzt die Sitze der „roten Mauer“ eingenommen haben und denen daran gelegen ist, dass die Regierung eine politische Agenda verfolgt, die in diesen Wahlkreisen Anklang findet, und die Seite der traditionelleren Tories, der Wirtschafts-„Liberalen“, die dem Lockdown skeptisch gegenüberstehen und darauf drängen, die Schulen und die Wirtschaft schnellstmöglich wieder zu öffnen.
Momentan sind alle Augen darauf gerichtet, wie jede noch so kleine Wendung in der politischen Debatte von den Wählern aufgenommen wird, die von Labour zu den Konservativen wechselten. Dass sich die „Linke“ vergebens abgemüht hat, diese Wählerschaft mit sozialen Fragen zu erreichen, ist wohlbekannt. Aber diese Wählerinnen und Wähler unterscheiden sich vom Rest der Wählerschaft der Konservativen: Sie teilen nicht den Wunsch, dass der Staat sich aus der Wirtschaft zurückzieht, dass die Arbeitnehmerrechte beschnitten oder die Märkte dereguliert werden.
In einem System, das von zwei Parteien dominiert wird, kann immer die Partei die Regierung bilden, die einen Weg findet, die gegensätzlichen Seiten der Wählerschaft zu vereinen – sei dies die Labour Party, wenn sie alle wirtschaftlich links Stehenden dazu bringen kann, an einem Strang zu ziehen, oder seien dies die Konservativen, wenn sie all diejenigen mit weniger sozialliberalen Anschauungen hinter sich bringen können. Bisher hat sich das für die Konservativen als leichter erwiesen als für die Labour Party, aber wenn Großbritannien erst die Brexit-Übergangszeit und die Corona-Krise hinter sich gelassen hat, werden wirtschaftliche Fragen wieder mehr im Vordergrund der Debatte stehen. Daher gibt es Warnzeichen für die Konservativen, dass es schwieriger ist, eine Wählerschaft zusammenzuhalten, wenn die Fragen, die sie spalten, wieder im Mittelpunkt stehen.
Aus dem Englischen von Ina Görtz