Bis vor kurzem dominierten zwei große Kräfte das politische Frankreich: die Sozialistische Partei links und die UMP (Union pour un mouvement populaire) Mitte rechts. Beide waren von kleineren Satellitenparteien umgeben, die Bündnisse mit den großen Parteien schließen mussten, wenn sie im Parlament oder in den Kommunalparlamenten vertreten sein wollten.

Diese bipolare Struktur befindet sich derzeit im Umbruch, und zwar durch die Wahlerfolge des rechtsextremen Front National. Die Partei, die mit der Unzufriedenheit der unteren Bevölkerungsschichten wuchs, zeigt sich nun „entdämonisiert“ – dank der geschickten Öffentlichkeitsarbeit Marine Le Pens. Sie pflegt nicht mehr den groben Populismus ihres Vaters, der die Bewegung einst begründet hat. Seit den Kommunalwahlen 2014 stellt der Front National die Bürgermeister in elf Städten und hat es bei der Europawahl 2014 mit 25 Prozent der Stimmen nach oben geschafft. Mit einer gewissen Übertreibung erklärt er sich zur „stärksten Partei Frankreichs“.

Seit Beginn der V. Republik 1958 und vor allem seit durch eine Verfassungsänderung 1962 der Staatspräsident direkt vom Volk gewählt wird, war die politische Landschaft Frankreichs vom Zweiparteiensystem geprägt. Das Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen ist zwar nicht so radikal wie das britische System – first past the post –, aber mit der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl, bei der nur noch die beiden Spitzenkandidaten aus dem ersten Wahlgang übrig sind, begünstigt es die Tendenz zur Polarisierung.

Mit mehr als einem Viertel der abgegebenen Stimmen ist die rechtsextreme Partei im Begriff, aus einer randständigen Protestbewegung zu einem wesentlichen Akteur der französischen Politik zu werden.

Gewiss erschwert das Mehrheitswahlsystem die Entstehung einer dritten Kraft, begünstigt aber ihren Aufstieg, falls es ihr gelingt, eine bestimmte Schwelle zu überschreiten. Genau das passiert gerade mit dem Front National. Mit mehr als einem Viertel der abgegebenen Stimmen ist die rechtsextreme Partei im Begriff, aus einer randständigen Protestbewegung zu einem wesentlichen Akteur der französischen Politik zu werden. Bereits seit mehreren Monaten erreicht Marine Le Pen in allen Meinungsumfragen Spitzenwerte für den ersten Wahlgang der nächsten Präsidentschaftswahl 2017. Die künftigen Kandidaten der Linken und der gemäßigten, „republikanischen“ Rechten kämpfen lediglich um den für die Stichwahl entscheidenden zweiten Platz.

Marine Le Pens Chancen, 2017 die Wahl zu gewinnen, sind begrenzt. Im Jahr 2002 gab es eine vergleichbare Situation, als sich in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl Jacques Chirac und Jean-Marie Le Pen gegenüberstanden. Chirac gewann die Wahl mit über 80 Prozent der Stimmen, da die Linke mit großer Mehrheit für den Kandidaten der gemäßigten Rechten gestimmt hatte, um einen Sieg des FN zu verhindern. Vermutlich wird sich dasselbe Szenario 2017 wiederholen, ganz gleich, wer Marine Le Pens Herausforderer im zweiten Wahlgang ist.

Das heißt nicht, dass die politische Landschaft in Frankreich nach der Präsidentschaftswahl auf ein Dreiparteiensystem hinauslaufen wird. Denn die Tendenz zur Bipolarität, die im Mehrheitswahlrecht angelegt ist, könnte sich ein weiteres Mal durchsetzen. Frankreich würde dann eine Situation wie Großbritannien in den 1920er-Jahren erleben. Das Erstarken der Labour Party hatte die Liberale Partei ins Abseits gedrängt und ab 1922 standen sich Labour und die Tories als Konkurrenten gegenüber, während die Liberalen nur noch eine untergeordnete Rolle spielten.

Ist ein solcher Paradigmenwechsel in Frankreich möglich? Wenn ja, welches werden die beiden Kräfte sein, die sich behaupten, und wo wird die Scheidelinie zwischen ihnen verlaufen? Diese Fragen stellen Politikwissenschaftler auf der Grundlage zweier konvergenter Entwicklungen. Einerseits führt die Mehrheitswahl zwangsläufig zur Bipolarität. Dem könnte nur die Einführung des Verhältniswahlsystems entgegenwirken. Doch das steht nicht zur Debatte. Andererseits gibt es den Gegensatz zwischen den „Europäern“, also den Befürwortern der Währungsunion, der europäischen Integration und der Einbeziehung der Globalisierung, und den „Souveränisten“, also Euro-Skeptikern, die dem Euro kritisch bis ablehnend gegenüberstehen, Globalisierungsgegnern und Befürwortern einer „intelligenten“ Form des Protektionismus.

Zweifellos ist der Front National der zweiten Kategorie zuzuordnen, doch bei den anderen Parteien, egal, ob rechts oder links, verläuft die Scheidelinie mitten hindurch. Das heißt, zwischen den überzeugten Europa-Befürwortern („Europäisten“) der Sozialistischen Partei und denen der gemäßigten Rechten gibt es mehr Übereinstimmungen, insbesondere bei den notwendigen wirtschaftlich-sozialen Strukturreformen in Frankreich, als zwischen den „Europäisten“ und den „Souveränisten“ innerhalb derselben Partei.

Mit anderen Worten: Vielleicht gehört die Zukunft einer umgestalteten modernen Linken, die sich zum Sozialliberalismus bekennt, und einer rechten Mitte, die sich von ihren radikalsten, für die Thesen des Front National empfänglichen Elementen, befreit hat. Die Durchlässigkeit zwischen der Rechten und der extremen Rechten wird seit den letzten Wahlen immer deutlicher. Das stellt die „republikanische“ Rechte vor ein beinahe unlösbares Dilemma: Entweder verliert sie Wähler an den FN oder sie nähert sich dessen Thesen an, um ihre Wähler zu halten.

Die Sozialistische Partei hingegen leidet unter der wirtschaftlichen und sozialen Misere, für die sie drei Jahre nach François Hollandes Sieg bei der Präsidentschaftswahl verantwortlich gemacht wird. Seit 2012 hat er alle anderen Wahlen – Kommunal-, Europa- und Départementswahlen – verloren und muss auch bei den Regionalwahlen Ende des Jahres mit einer Niederlage rechnen. In einer Gruppierung, in der Parteifunktionäre das Gros der aktiven Mitglieder (von rund 130 000 insgesamt) stellen, bedeuten diese Wahlschlappen, dass Tausende von Kommunalpolitikern und Mitarbeitern ihren Arbeitsplatz verlieren. Mit circa 20 Prozent prognostizierten Wählerstimmen in den Umfragen ist die französische PS zwar noch nicht in der Situation der griechischen PASOK (4 Prozent), aber sie läuft Gefahr, auf den dritten Platz verwiesen zu werden. Und das in einem System, das zwei Parteien begünstigt.

Wie es auch ausgehen mag: Angesichts der geschwächten Konkurrenz spielt der Front National mit seinem Mix aus Ausländerfeindlichkeit – Schließung der Grenzen, Ablehnung Europas und der Einwanderung – und sozialpolitischem Programm bis auf Weiteres unweigerlich eine Hauptrolle.