Kein Fleisch. Kein Auto. Kein Fliegen. Nicht mit Rechten reden. Nicht mehr als 20 Sekunden anschauen. Nicht nach der Herkunft fragen. Oder, kein Kopftuch, keine Quote, keine politische Korrektheit. Nicht mit der Lügenpresse reden. Nicht auf den Diesel verzichten. Nicht die Schule schwänzen. Wir reden über gesellschaftliche Probleme als seien sie eine Frage des persönlichen Lebensstils. Das ist kein Zufall.
So unterschiedlich die Positionen sein mögen, sie alle haben gemeinsam, dass sie kollektive Herausforderungen durch individuelles Verhalten lösen wollen. Idealerweise sehen die Einzelnen die Dringlichkeit gesellschaftlicher Probleme ein und ändern ihr Verhalten freiwillig. Tun sie es nicht, wird mit Moralappellen nachgeholfen. Erst wenn die Individuen uneinsichtig bleiben, soll der Staat mit Verboten eingreifen.
Wen das alles an das Heilsversprechen der Psychotherapie erinnert, liegt nicht ganz falsch. Die Therapie verspricht, durch ein besseres Verständnis der eigenen Bedürfnisse (was will ich eigentlich), ein realistisches Erwartungsmanagement (was kann ich erreichen) und eine sensiblere Sprache (wertschätzend und konstruktiv) Konflikte zwischen Menschen auflösen zu können. Die Logik und Sprache der Therapie hat nun den Weg von Paartherapien, Teambildungs- und Managerseminaren auf die gesellschaftliche Ebene gefunden. In der therapeutischen Gesellschaft arbeiten die Individuen mit großer Verve an sich selbst, weil sie hierin den Schlüssel für die Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen – von der Geschlechtergerechtigkeit bis zum bis Klimawandel – sehen. Was auf der Mikroebene hilfreich sein kann, ist aber auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene zum Scheitern verurteilt. Denn erstens hat in einer freiheitlichen Grundordnung jeder das Recht, nicht mitzumachen. Und zweitens ist die freiwillige Selbstoptimierung ein untaugliches Mittel, wenn sie auf Machtkonzentrationen und Partikularinteressen trifft.
In den Blick geraten Grenzüberschreitungen und Umweltsünden der Individuen. Zur Behandlung werden Safe Spaces eingerichtet, Übeltäter an den Pranger gestellt, die Sprache gereinigt, der Müll getrennt und Glühbirnen ausgetauscht.
Wenn die therapeutische Selbstoptimierung aber ungeeignet ist, kollektive Probleme zu lösen, warum findet dieser Ansatz dann so viele Anhänger quer durch das politische Spektrum? Das hat viel damit zu tun, dass wir in Jahrzehnten neoliberaler Hegemonie gelernt haben, den Blick zuerst, und oft exklusiv, auf das Individuum zu richten.
In den Blick geraten so die Mikroaggressionen, Grenzüberschreitungen und Umweltsünden der Individuen. Zur Behandlung werden Safe Spaces eingerichtet, Übeltäter an den Pranger gestellt, die Sprache gereinigt, der Müll getrennt und Glühbirnen ausgetauscht. Jeder für sich kann die Welt ein wenig besser machen, indem man beim eigenen Lebensstil anfängt. Oder man rettet die goldene Vergangenheit, indem man sich jeder Veränderung strikt verweigert. Aber auch hier bleibt der politische Reflex auf der Ebene des Individuums: „Ich will nicht!“
Ausgeblendet bleiben in dieser Sicht auf die Welt die Strukturen. Verteilungskonflikte, Machtasymmetrien oder Klasseninteressen werden teils aus Resignation über das Unvermögen demokratischer Gestaltungsfähigkeit, teils aus einer ideologischen Verengung des Blickfeldes heraus nicht mitgedacht. Die Gelbwestenproteste in Frankreich zeigen, was passiert, wenn die Rechnung ohne die gemacht werden soll, die am Ende die Zeche zahlen sollen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Es ist selbstverständlich lobenswert, wenn die Einzelnen Verantwortung für das Ganze übernehmen. Die epochalen Herausforderungen unserer Zeit werden sich ohne Eigeninitiative nicht lösen lassen. Zum Problem wird die Fokussierung auf das Individuum dann, wenn die Möglichkeit und Dringlichkeit kollektiven Handelns aus dem Blick gerät. Es hilft dem Klima wenig, wenn viele (nicht alle) Individuen auf Steak und Sommerurlaub verzichten, aber die fossile Brennstoffindustrie munter weiter Kraftwerke baut. Spätestens wenn die Starken und Mächtigen in die Verantwortung genommen werden sollen, wird es ohne die kollektive Macht der Vielen nicht gehen. Mehr noch, hier ist die Durchsetzungsfähigkeit des demokratischen Staates gefragt. Nicht umsonst waren progressive Bewegungen quer durch die Geschichte auf kollektives Handeln für das Gemeinwohl ausgerichtet.
Kann dieser kollektive Gedächtnisverlust ein Zufall sein? Sicher kommt das völlige Ausblenden der strukturellen Verteilungsfragen den Mächtigen dieser Welt nicht ungelegen. Nicht von ungefähr werden wir auf allen Kanälen mit Botschaften der Selbstverwirklichung bombardiert. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Bürgerkrieg im progressiven Lager
Ist sich das progressive Lager dieser Gefahr bewusst? An selbstkritischen Stimmen mangelt es nicht. Die feministische Philosophin Nancy Fraser wirft den progressiven Neoliberalen vor, sich durch die Überbetonung der individuellen Selbstverwirklichung zum Helfershelfer des neoliberalen Kapitalismus zu machen. Der Politikwissenschaftler Mark Lilla rät dazu, die Finger von den postmodernen Identitätsthemen zu lassen und sich wieder auf materielle Verteilungsfragen zu konzentrieren. Wütend hallt es zurück, wer so rede wolle doch nur, dass Frauen, Homosexuelle und nicht-weiße Minderheiten wieder aus dem öffentlichen Raum verschwinden. Oder gefährde durch die eigene Bequemlichkeit das Überleben des Planeten. Die Folge ist ein Bürgerkrieg, der das progressive Lager zu zerreißen droht.
So langsam dämmert es einigen, dass mit diesen Schlammschlachten wenig zu gewinnen ist. Unter dem Banner der Intersektionalität wird versucht, die progressiven Kämpfe wieder zu vereinen. Das ist der richtige Weg. Damit das gelingen kann, müssen wir aber auch die oftmals unausgesprochenen Grundannahmen gegenwärtiger Kämpfe überprüfen: Zu kritisieren sind keineswegs die Ziele emanzipatorischer Kämpfe, sondern ihre untauglichen Mittel. Gesellschaftliche (Verteilungs-) Konflikte lassen sich eben nicht durch die Selbstoptimierung Einzelner lösen, sondern nur durch Kompromisse zwischen sozialen Klassen. Schlimmer noch, wer bestehende soziale Kompromisse aufkündigt, und sei es in bester Absicht, legt die Axt an den Gesellschaftsvertrag, der den sozialen Frieden sichert.
Die Auseinandersetzung über die richtige Strategie im Kampf für Emanzipation geht also an das Grundverständnis der sozialen Demokratie. Was ist die Sozialdemokratie – ein emanzipatorisches Avantgardeprojekt oder eine soziale Kompromissmaschine? Stellt sie sich, ohne Rücksicht auf Verluste, fest an die Seite derer, die gegen Diskriminierung und Klimawandel kämpfen? Oder sorgt sie dafür, dass alle, auch die Skeptiker, in die sozial-ökologische Transformation mitgenommen werden? Vertritt sie die jungen, gebildeten Vorreiter in den Metropolen oder die Abgehängten und Ängstlichen in den Peripherien?
Wer hier vorschnell nach dem „donnernden Sowohl-als-auch“ ruft, sollte bedenken, dass hier manifeste ideologische und Interessenskonflikte aufeinanderprallen, die sich nicht mit Formelkompromissen wegdefinieren lassen.
Die Sozialdemokratie sollte die Selbstoptimierung der Individuen den Liberalen überlassen und sich auf die Aushandlung von Klassenkompromissen konzentrieren.
Der Politikwissenschaftler Carsten Nickel weist darauf hin, dass die sozial und kulturell Tonangebenden in den Metropolen immer weniger bereit sind, sich mit der Bevölkerungsmehrheit in den Peripherien auf die Aushandlung von gesellschaftlichen Interessenausgleichen einzulassen. Ganz im Gegenteil schotten sie sich sozial und räumlich von den vermeintlich rassistischen, sexistischen und xenophoben Zurückgebliebenen ab. Es ist aber dieser Rückzug in die Lebenswelt des eigenen Stammes, der die gesellschaftliche Polarisierung erst auslöst. Jeder Moralappell zur Selbstoptimierung provoziert ein trotziges Jetzt-erst-recht der anderen Seite. In der Summe bewegt sich wenig, die gesamtgesellschaftlichen Probleme bleiben ungelöst. Fast schon tragisch ist dabei, dass sich sowohl die sozial und kulturell Tonangebenden in den Zentren, als auch die noch immer politisch und wirtschaftlich dominierenden Mehrheiten in den Peripherien gleichsam in der Defensive sehen. Wundersam spiegelverkehrt drehen sich die Diskurse in den linksliberalen und rechtspopulistischen Filterblasen um die Rettung von Demokratie und Rechtsstaat vor den Barbaren der jeweils anderen Seite. Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk sieht in den asymmetrischen Stärken der beiden Lager die Ursache für die Polarisierung zwischen undemokratischen Liberalen (also der sozio-kulturell tonangebenden Minderheit) und illiberalen Demokraten (der sich zurückgesetzt fühlenden Mehrheit).
Das beste Heilmittel gegen diese demokratiegefährdende Polarisierung sind die Konsensmaschinen der Volksparteien. Insbesondere die Sozialdemokratie hat es sich über ein Jahrhundert lang zur Aufgabe gemacht, immer wieder den Ausgleich zwischen allen sozialen Klassen auszuhandeln. Nach vorne bedeutet das, emanzipatorische Gewinne abzusichern, indem die Skeptiker durch Zugeständnisse in Verteilungsfragen mitgenommen werden. Nach hinten bedeutet das, das soziale Fundament für den Gesellschaftsvertrag, der den sozialen Frieden sichert, so breit wie möglich zu bauen. Wann immer sich also Gewinner und Verlierer gesellschaftlicher Transformationen bekämpfen, ist es die Rolle der Sozialdemokratie, durch das Aushandeln eines sozialen Kompromisses den sozialen Frieden wiederherzustellen.
In jüngster Zeit fällt es den sozialdemokratischen Parteien aber schwerer, diese Rolle auszuüben, weil sie selbst von inneren Konflikten zerrissen werden. Bei genauerer Betrachtung stehen sich die Positionen aber nicht so unversöhnlich gegenüber, wie dies der Theaterdonner zwischen ihren Protagonisten glauben lässt.
Der oft zitierte Konflikt zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen ist beispielsweise keineswegs symmetrisch. Im kommunitaristischen Teil der Lebenswelt stehen etwa große Skepsis gegenüber der Migration neben hohen Zustimmungswerten für die Ehe für alle. Umgekehrt wächst auch im kosmopolitischen Lager die Sorge vor den anti-egalitären Einstellungen bestimmter Milieus und die Bereitschaft, dem Rechtsstaat zur Durchsetzung zu verhelfen. Auch kulturelle Anerkennungs- und materielle Verteilungsthemen schließen sich nicht gegenseitig aus. So sind sich etwa bei der Schließung der Einkommensunterschiede zwischen den Geschlechtern oder der Rückkehr der Daseinsvorsorge in die Fläche alle Strömungen einig.
Wann immer sich Gewinner und Verlierer gesellschaftlicher Transformationen bekämpfen, ist es die Rolle der Sozialdemokratie, den sozialen Frieden wiederherzustellen.
Bei der Suche nach einer gemeinsamen progressiven Plattform zeigt sich allerdings, dass Gemeinsamkeiten leichter auf der Ebene der Strukturen zu finden sind als auf der Ebene der Symbole. Kosmopoliten und Kommunitaristen sind sich beispielsweise schnell einig, wenn es darum geht, Verteilungsfragen und Machtasymmetrien anzugehen. Geht es aber um die Bedürfnisse, Emotionen und Identitäten der Individuen, fällt es schwerer, eine gemeinsame Position zu finden, weil hier erhebliche Unterschiede zwischen den Lebenswelten bestehen.
Um den Bürgerkrieg im progressiven Lager zu befrieden, müssen alle Seiten zeigen, dass es ihnen nicht darum geht, Kämpfe für Anerkennungs- und Verteilungsgerechtigkeit gegeneinander auszuspielen, sondern sie zu verbinden. Dass es nicht darum geht, emanzipatorische Ziele zu verwässern, sondern den besseren Weg zu ihrer Erreichung zu finden. Zeigt sich, dass das mühsame Aushandeln sozialer Kompromisse erfolgversprechender ist als schrille Tugendappelle, dann bietet die Sozialdemokratie wieder die strategische Plattform, auf der sich alle emanzipatorischen Kämpfe versammeln können.
Um die therapeutische Gesellschaft von ihrem neoliberalen Tunnelblick zu befreien, muss die Sozialdemokratie zeigen, wie sich der Kampf gegen Sexismus, Rassismus und Klimawandel jenseits von Selbstoptimierung und Moralappellen gewinnen lässt. Im Gegensatz zu den Nullsummenspielen zwischen Selbstoptimierern und Verweigerern auf der individuellen Ebene sind echte Fortschritte bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme nur auf der kollektiven Ebene möglich. Die Sozialdemokratie sollte daher die Selbstoptimierung der Individuen den Liberalen überlassen und sich auf die Aushandlung von Klassenkompromissen über die Verteilung von Macht, Ressourcen und Anerkennung konzentrieren. Nur so kann eine breite gesellschaftliche Allianz entstehen, die zum kollektiven Handeln fähig ist.
Der sozialdemokratische Appell richtet sich also nicht an die Eigenverantwortung der Individuen, sondern ist ein Aufruf zum kollektiven Handeln zur Gestaltung des Gemeinwohls. Wer soll die Gesellschaft verändern? Wir alle!