Unzufriedenheit mit dem politischen Kurs war nicht der Grund für den Führungswechsel bei den finnischen Sozialdemokraten. Auf ihrem Parteitag am vergangenen Wochenende wählte die SDP Antti Lindtman zum neuen Parteivorsitzenden. Die bisherige Parteichefin und ehemalige Ministerpräsidentin Sanna Marin hatte kurz nach den Parlamentswahlen im April bekanntgegeben, dass sie sich nicht für eine weitere Amtszeit zur Wahl stellt, obwohl sie in der Partei großen Respekt genießt. Marin scheidet nicht deswegen aus, weil sie ein schlechtes Wahlergebnis eingefahren hätte. Mit ihr an der Spitze holte die Partei sogar zwei Prozentpunkte mehr als bei den vorherigen Parlamentswahlen 2019. Dabei kommt es in Finnland selten vor, dass die Partei, die den Ministerpräsidenten bzw. die Ministerpräsidentin stellt, Stimmen hinzugewinnt.

Und so rückte Lindtman in seiner Kampagne die Kontinuität in den Vordergrund und nicht die Notwendigkeit, die Agenda seiner Partei zu verändern. Für Kontinuität steht auch das politische Programm, das auf dem Parteitag verabschiedet wurde und keinen Kurswechsel, sondern eher ein Update des bisherigen Programms darstellt. Manche Kommentatoren versuchen, Lindtman dem rechten SDP-Flügel zuzuordnen und zur Gegenfigur zu Sanna Marin stilisieren, aber für diese Einordnung liefern Lindtmans Äußerungen der jüngsten Zeit wenig Grund. Lindtman positioniert sich weder rechts noch links und bezeichnet sich stattdessen als „Zukunfts-Sozialdemokraten“.

Lindtman steht auch insofern für Kontinuität, als er mit seinen 41 Jahren schon mehr als zehn Jahre lang Führungspositionen in der Partei bekleidet hat – seit 2015 zum Beispiel als Fraktionschef der Sozialdemokraten im finnischen Parlament. In seiner Antrittsrede als Parteichef stellte Lindtman die traditionellen SDP-Themen in den Mittelpunkt: den nordischen Wohlfahrtsstaat, Arbeiterinnen- und Menschenrechte, Demokratie. Schon seit Langem betont Lindtman außerdem, wie wichtig der Kampf gegen Klimawandel und Biodiversitätsverlust ist.

Trotz ihres vergleichsweise guten Abschneidens wurde die SDP bei den Wahlen im April nur drittstärkste Kraft und musste auf der Oppositionsbank Platz nehmen. Dabei hätte die Partei, wenn sie auch nur einen Prozentpunkt mehr geholt hätte, aufgrund des finnischen Wahlrechts wahrscheinlich wieder den Regierungschef stellen können. Stattdessen wurde eine nach finnischen Maßstäben extrem rechte Regierung gebildet, bestehend aus der traditionell rechten Nationalen Koalitionspartei (NCP) und der populistischen Partei Die Finnen, die für ihre ausländer- und EU-feindliche Haltung bekannt ist. Obwohl der Koalition noch zwei weitere, kleinere Parteien angehören, hat die Regierung im Parlament nur eine dünne Mehrheit. Dennoch will sie laut Koalitionsprogramm einen Systemwechsel herbeiführen.

Die extrem rechte Regierung will laut Koalitionsprogramm einen Systemwechsel herbeiführen.

Vor den Wahlen grenzten die NCP und Die Finnen sich dadurch vom linken Spektrum ab, dass sie für einen massiven Abbau des Staatsdefizits warben – sprich: für einen harten Sparkurs. Die Maßnahmen, die sie in ihrem Regierungsprogramm auflisten, zielen jedoch vor allem darauf ab, die Verhandlungsmacht von Arbeiterinnen und Arbeitern  und Gewerkschaften zu schwächen und den Sozialstaat abzubauen. 

Die Haushaltskonsolidierung scheint im Vergleich zu dem, was vor der Wahl in Aussicht gestellt wurde, moderat auszufallen, aber erreicht werden soll sie fast ausschließlich durch die Kürzung von Sozialausgaben und staatlichen Leistungen. Parallel plant die Regierung deutliche Steuersenkungen für die einkommensstärksten Gruppen der Bevölkerung. In der Summe sind die Netto-Steuererleichterungen relativ überschaubar, aber in ihrer vierjährigen Amtszeit will die Regierung die Steuerquote im Verhältnis zum BIP um ein bis zwei Prozent senken. Einen großen Anteil daran wird die Rückführung von Emissionen haben, weil sie die Einnahmen aus CO2-bezogenen Steuern schrumpfen lässt.

Kritik erntet die Regierung nicht nur mit ihrer rechten Wirtschaftspolitik, sondern auch wegen rassistischer Äußerungen, nachdem ans Licht geholt wurde, was einige Minister der Partei Die Finnen früher in Form von Texten und Taten von sich gegeben haben. Wirtschaftsminister Vilhelm Junnila musste deshalb schon nach zwei Wochen von seinem Ministeramt zurücktreten, und gleich nach der parlamentarischen Sommerpause ging die Rassismusdebatte in die nächste Runde.

Nach den Debatten dieses Sommers sind die Sozialdemokraten in den Umfragen inzwischen wieder stärkste Kraft. Im August lag die SDP bei 22 Prozent und schneidet somit besser ab als bei allen Wahlen der vergangenen 20 Jahre. Vor diesem Hintergrund dürfte es für Antti Lindtman relativ leicht werden, in der gemeinsamen Opposition gegen die Regierung die Reihen seiner Partei zu schließen. Unterdessen kann er im Hintergrund die Partei konzeptionell auf die zukünftigen Wahlen vorbereiten. Mögliche deutliche Kursänderungen durch die neue Parteiführung werden deshalb wohl noch eine Weile auf sich warten lassen.

Die Unterschiede zwischen den Persönlichkeiten Sanna Marins und Antti Lindtmans werden dagegen schneller sichtbar werden.

Die Unterschiede zwischen den Persönlichkeiten Sanna Marins und Antti Lindtmans werden dagegen schneller sichtbar werden. Während ihrer relativ kurzen Amtszeit avancierte Marin international zum politischen Superstar. Mit ihrer direkten und ansprechenden Art inspirierte sie die Jugend, und nach einem jahrelangen Abwärtstrend fand die SDP bei jüngeren Menschen und zum Beispiel in der Hauptstadt Helsinki wieder mehr Zuspruch.

Antti Lindtman tritt souverän auf, erntete mit seinen Reden auf dem Parteitag stehende Ovationen und versteht sich darauf, in Fernsehdebatten den Argumenten populistischer Politiker jeden Wind aus den Segeln zu nehmen. Er wählt seine Worte sorgsamer als Sanna Marin und legt den Akzent lieber auf Kooperation und Zusammenarbeit als auf die Differenzen zwischen den politischen Kontrahenten.

Großen Raum nahm in Lindtmans politischer Antrittsrede die Außenpolitik ein. Er betonte die Unterstützung für die Ukraine und traditionell progressive Ziele wie Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und die aktive Zusammenarbeit innerhalb der EU, der Vereinten Nationen – und neuerdings auch innerhalb der NATO. Finnlands Außenpolitik wird traditionell von einem breiten Konsens getragen, an dem sich auch durch einen Regierungswechsel wenig ändert. Diesem Weg folgt allem Anschein nach auch die amtierende Regierung, obwohl die Partei Die Finnen sich in ihrem Programm für den Austritt aus der EU ausspricht und dem Kooperationsgedanken grundsätzlich kritisch gegenübersteht. 

Durch Russlands Angriff auf die Ukraine sind solche Diskussionen jedoch in den Hintergrund gerückt. Hinzu kommt, dass sich für die Feinheiten der finnischen Außenpolitik weder die breite Öffentlichkeit noch die Medien interessieren. Das heißt allerdings auch, dass populistische Parteien sich über die außenpolitische Debatte hinwegsetzen können, ohne dass es jemandem auffällt.

Eine linke Parlamentsmehrheit gibt es in Finnland schon seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht.

Insgesamt sind von Lindtmans Wahl zum Parteichef keine schnellen Veränderungen für die Sozialdemokraten zu erwarten. Dennoch stellt sich die Frage, wie es um das progressive Projekt in Finnland bestellt ist, nachdem die SDP-geführte Mitte-links-Regierung nach den Wahlen im April von einer rechten Regierung abgelöst wurde. Zum einen kommt in dem Wahlergebnis möglicherweise kein sonderlich dramatischer Wandel zum Ausdruck. Eine linke Parlamentsmehrheit gibt es in Finnland schon seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht. Linke Parteien haben immer nur zusammen mit Koalitionspartnern aus dem rechten Spektrum oder der politischen Mitte regiert. In den vergangenen Jahrzehnten wurden progressive Reformen nicht zuletzt dadurch verhindert, dass die Parteien der Mitte wirtschaftspolitisch nach rechts gerückt sind oder sich sogar noch weiter von der Mitte entfernt haben.

Die Politik der SDP-geführten Regierung, die von 2019 bis 2023 im Amt war, kann bis zu einem gewissen Grad als Wendepunkt gelten, weil sie die relativ strikte Kontrolle der Staatsausgaben, die in Finnland seit Jahrzehnten praktiziert wurde, ein Stück weit gelockert hat. In der Sozial- und Gesundheitspolitik und auch im Bildungswesen wurden grundlegende Reformen umgesetzt, unter anderem wurde die Sekundarschule zur Pflicht und ist jetzt für alle kostenlos.

Finnland hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, bis 2035 CO2-neutral zu werden. Andere Veränderungen blieben Stückwerk, weil die mitregierenden Mitte-rechts-Parteien größere Reformen bei der Steuerpolitik, der sozialen Absicherung und den Arbeiterinnen- und Arbeiterrechten verhindert haben. Die Vermögenskonzentration beim reichsten Prozent der Bevölkerung, die in Finnland in den frühen 1990er Jahren begann, geht weiter.

Die neue Regierung geht jetzt auf Gegenkurs. Sie wirkt in vielerlei Hinsicht geschlossener als frühere rechte Regierungen und lässt sich durchaus als Rechtsblockregierung bezeichnen. Einen linken Block, der sie mit vereinten Kräften vor sich hertreiben könnte, gibt es in Finnland allerdings nicht. Andererseits ist die Politik der neuen Regierung anscheinend schon jetzt unpopulär, bevor sie auch nur den ersten Haushaltsplan auf die Beine gestellt hat. Die kommenden vier Jahre werden also vielleicht die Chance bieten, die Fundamente für grundlegendere Veränderungen nach den Wahlen 2027 zu legen. Damit das gelingt, werden Antti Lindtman und die neue Parteiführung alle Hände voll zu tun haben.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld