Es ist gar nicht so einfach, sich gedanklich auf Chantal Mouffe einzulassen. Jedenfalls nicht für einen freiheitlich, fortschrittlich und gesellschaftspolitisch integrativ gesinnten Sozialdemokraten, für einen noch dazu, der Vielfalt nicht allein als empirischen Tatbestand unseres Zeitalters anerkennt, sondern Pluralismus auch per se als vernünftige regulative Idee und normativen Wert des Westens begreift. Denn Chantal Mouffes auf diesen Seiten veröffentlichte Plädoyer „Für einen linken Populismus“ bietet aus dieser Perspektive so gut wie keine Anknüpfungspunkte – weder hinsichtlich der von der Autorin vorausgesetzten Gegenwartsbeschreibung noch mit Blick auf die Ziele und Akteure jetzt mutmaßlich angezeigter politischer Strategien. Und teilt man schon Mouffes Prämissen und Diagnosen nicht, dann möchte man sich noch weniger gemeinsam mit ihr auf den Weg in die völkische Einheit begeben. Im Gegenteil, dann kann einem angesichts der von ihr aufgezeigten Perspektiven eigentlich nur angst und bange werden.

Aber der Reihe nach. Wo stehen wir Chantal Mouffe zufolge? Wo sollten wir ihrer Auffassung nach hinwollen? Und weshalb ist der von ihr gewiesene Weg antifortschrittlich, antifreiheitlich – und darum grundfalsch?

 

Vorherrschaft des Neoliberalismus

Chantal Mouffe unterstellt die tatsächliche Existenz einer „neoliberalen Hegemonie“. Diese sei vom Establishment beziehungsweise den „Machteliten“ – verkörpert in den Parteien der (sozialdemokratischen) linken ebenso wie der rechten Mitte – einvernehmlich „hergestellt“ worden. Obgleich Mouffe diese absolute Vorherrschaft des Neoliberalismus behauptet, hält sie es zugleich für eine ebenso unbestreitbare Tatsache, dass die wahre und eigentliche Konfliktlinie der Gesellschaften des Westens heute zwischen jenen abgehobenen Machteliten und „dem Volk“ in seiner Gänze besteht.

Mouffe übernimmt – oder teilt – demzufolge die aktuell von populistischen Parteien und Bewegungen überall in Europa postulierte Generaldeutung, die westlichen Demokratien würden von einem Konflikt zwischen „denen da oben“ und „uns hier unten“ geprägt. Bei der von Mouffe gerade erst selbst behaupteten „neoliberalen Hegemonie“ handelt es sich demzufolge in Wirklichkeit gar nicht um eine wirkliche Vorherrschaft. Vielmehr deutet sie diese angebliche Hegemonie als ein – angesichts von Krise und Austerität, Not und Arbeitslosigkeit – höchst brüchiges Gebäude, das geradezu darauf wartet, von der mächtigen Abrissbirne des erwachenden Volkes zum Einsturz gebracht zu werden. In diesem Sinn ist Mouffes Begriff der „populistischen Situation“, in welcher sich westliche Gesellschaften derzeit befänden, weniger ein analytischer Begriff als ein performativer und taktischer Winkelzug. 

Anders gesagt: Die von Mouffe als Tatsache behauptete „populistische Situation“ soll eben dadurch tatsächlich eintreten, dass sie möglichst intensiv heraufbeschworen und diskursiv „konstruiert“ wird. Wenn Mouffe reichlich verworren schreibt, „die populistische Dimension der Demokratie, die den Entwurf eines Volkes einfordert“, gälte es „zu würdigen“, dann bedeutet dieser Satz genau dies: Ein „günstiges Klima“ für den völkischen Populismus ist aus ihrer Sicht der beste Rohstoff, um „die politischen und ökonomischen Kräfte des Neoliberalismus“ vom Sockel zu stürzen. Zugespitzt: Alles soll erst einmal schlimmer werden, damit aus den Ruinen des neoliberalen „Systems“ irgendwann etwas nicht-neoliberales Neues entstehen kann (dessen Umrisse Mouffe freilich nicht näher beschreibt).

Der Zynismus dieses komplett taktizistisch und bündnispolitisch gedachten Ansatzes ist bemerkenswert. Ausdrücklich kein Problem sieht Chantal Mouffe darin, dass Populismus – gleich welcher Spielart – seinem ganzen Wesen nach immer darauf hinauslaufen muss, die Pluralität, die Vielfalt und die innere Liberalität moderner Gesellschaften zu gefährden. Das Prinzip one size fits all ist dabei nicht nur eine nolens volens in Kauf genommene Nebenwirkung, sondern geradezu ein Wesenszweck des Populismus. Folgerichtig postuliert Chantal Mouffe in dankenswerter Klarheit, in der gegenwärtigen Lage gehe es darum, „einen progressiven Gemeinwillen herzustellen mit dem Ziel, ‚ein Volk’ zu schaffen“.

„Ein Volk schaffen“ – so also heißt im Ernst das Ziel! Es versteht sich von selbst, dass dieses „Herstellen“, „Schaffen“ und „Konstruieren“ von völkischer Einheit mit den Prinzipien, Werten und Lebensweisen einer fortschrittlichen sozialen Demokratie freiheitlicher Prägung nie und nimmer vereinbar sein kann. Schon das allein macht den „linken Populismus“ Mouffe’scher Spielart aus diesem Blickwinkel betrachtet zum untauglichen Widerspruch in sich.

 

Mouffes progressives Einheitsvolk

Aber selbstverständlich legt Chantal Mouffe großen Wert darauf, ihren vermeintlich höherwertigen „guten“ Linkspopulismus vom „bösen“ Rechtspopulismus abzugrenzen. Dessen gegen „die da oben“ gerichtete Stoßrichtung begrüßt Mouffe durchaus. Diese Orientierung, schreibt sie, sei „nicht unbedingt etwas Schlechtes“. Mouffes einziger Einwand gegen die in Europa real existierenden Rechtspopulisten läuft darauf hinaus, diese würden „heterogene soziale Forderungen mit fremdenfeindlichen Phrasen verbinden, die Einheit ‚des Volks’ mithin durch den Ausschluss von Einwanderern konstruieren“. Was im Klartext wiederum heißt: Gegen ein mit populistischer Rhetorik zusammengeschustertes „progressives“ Einheitsvolk hat Mouffe nichts einzuwenden, solange nur bei dessen Konstruktion auf den Kitt von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verzichtet wird. „Die Einheit dieses progressiven Volkes entsteht nicht, wie im Falle des rechten Populismus, durch den Ausschluss von Migranten, sondern durch die Festlegung eines Gegners: die politischen und ökonomischen Kräfte des Neoliberalismus.“

Wo immer man auf Europas Straßen und Plätzen lauthals gegen „Altparteien“ und „Establishment“, „Lügenpresse“ und „Volksverräter“, „Brüssel“ oder „US-Imperialismus“ agitiert und Wladimir Putin als politischen Helden verehrt, wächst längst von links und rechts zusammen, was in gemeinsamer Feindschaft zur offenen Gesellschaft zusammengehört.

Nach Chantal Mouffes kurios technokratischer Vorstellung entscheidet demnach allein die geeignete „Festlegung“ von Einheitsvolkskörper und politischem Gegner darüber, welcher Populismus das Gütesiegel „progressiv“ verdient und welcher nicht. Doch wo und durch wen könnte solch eine „Festlegung“ wohl autoritativ getroffen werden? „Wo ‚Volk’ draufsteht, ist in den meisten Fällen Manipulation drin“, warnte unlängst der Publizist Marko Martin aus Anlass der Dresdener Pegida-Aufmärsche. Seine Beobachtung gilt ebenso sehr für alle anderen Fälle völkischer Vergemeinschaftung ex cathedra.

Und wie um Himmels willen gelangt Chantal Mouffe schließlich zu der nun wirklich atemberaubend abwegigen These, „die entscheidende Konfrontation“ der kommenden Jahren werde „zwischen dem linken Populismus und dem rechten Populismus stattfinden“? In der politischen Lebenswirklichkeit der europäischen Gesellschaft(en) zeigt sich in Wahrheit längst etwas völlig anderes: Die Grenzen zwischen rechten und linken Spielarten des politischen Populismus und Extremismus verschwimmen, les extrêmes se touchent. Weder in Griechenland noch in Deutschland oder anderswo ist erkennbar, dass „gute Linkspopulisten“ von irgendwelchen moralischen oder politischen Skrupeln daran gehindert würden, in rotbraunen Querfronten gemeinsame Sache mit „bösen Rechtspopulisten“ zu machen. Wo immer man auf Europas Straßen und Plätzen lauthals gegen „Altparteien“ und „Establishment“, „Lügenpresse“ und „Volksverräter“, „Brüssel“ oder „US-Imperialismus“ agitiert und Wladimir Putin als politischen Helden verehrt, wächst längst von links und rechts zusammen, was in gemeinsamer Feindschaft zur offenen Gesellschaft zusammengehört.

Niemand sollte unterschätzen, in welchem Ausmaß die Krise des gegenwärtigen Kapitalismus in Europa unsere freiheitlichen und demokratischen Gesellschaften gefährdet. Doch Chantal Mouffes Vision eines vermeintlich sortenreinen „progressiven Linkspopulismus“ als Mittel gegen die Misere ist eine weltfremde Kopfgeburt. Den von ihr entworfenen linken Populismus als trennscharf von anderen Populismen abgrenzbare politische Größe gibt es in der wirklichen Welt nicht. Existierte Chantal Mouffes linker Wunschpopulismus aber tatsächlich – die Verteidiger von offener Gesellschaft und freiheitlicher Demokratie hätten nicht wirklich weniger Grund zur Sorge. Eingeebnete Gesellschaften sind niemals frei und progressiv.