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Seitdem die Corona-Pandemie das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in ein Stillleben verwandelt hat, ist es auch sehr ruhig in den Parlamenten geworden. In der akuten Krisenreaktion rückten Regierungs- und Oppositionsparteien eng zusammen und trugen weitreichende Notstandsgesetze, die tiefgreifende Einschnitte in Grundrechte erlaubten, gemeinsam. Im Dienste der Gesundheit („flatten the curve“) schienen parteipolitische Unterschiede verschwunden zu sein, Einigkeit war das Gebot der Stunde. Die europaweiten Lockdown-Maßnahmen folgten keinem erkennbaren parteiideologischen Muster. So machte es keinen Unterschied, ob einen der Lockdown in einem sozialdemokratisch- oder konservativ-regierten Land ereilte. Das Virus hat kein Parteibuch.
Doch der parteipolitische Konsens zahlt sich bislang nur auf dem Konto der Regierungsparteien aus. Die Zeiten sind schlecht für Oppositionsparteien, denn die Krise gilt als Stunde der Exekutiven. In Meinungsumfragen haben fast überall in Europa Regierungsparteien zugelegt: In Österreich klettert die regierende ÖVP auf 44 Prozent, während die oppositionelle SPÖ von 25 Prozent auf 18 Prozent fällt; in den Niederlanden freut sich die konservative Regierung über einen 10-Prozent-Zustimmungszuwachs; die regierenden dänischen und schwedischen Sozialdemokraten legen um jeweils circa 7 Prozent zu; selbst in Großbritannien mit seinem anfänglichen epidemiologischen Schlingerkurs klettern die Konservativen auf über 50 Prozent. In Polen, Portugal, Spanien und Ungarn bleiben die Zustimmungsraten für die jeweiligen Regierungen stabil hoch. Selbst der angeschlagene französische Präsident konnte innerhalb eines Monats seine Zustimmungsraten von 35 Prozent auf 40 Prozent steigern. Nur in Italien scheint es, als könnten rechtspopulistische Parteien aus der Krise Kapital schlagen, die Parteien der Regierungskoalition sinken in der Wählergunst.
Umfragen bestätigen, dass in Europa das Vertrauen in Regierungen und öffentliche Institutionen sowie die Zustimmung zu den ergriffenen Maßnahmen weiterhin hoch sind – auch wenn langsam eine „Crisis-Fatigue“ festzustellen ist. Mit Beginn der Diskussion über Exit-Strategien, dem Schnüren von Hilfspaketen und der aufkeimenden Frage nach einer „Post-Corona-Welt“ scheint auch der politische Konsens langsam zu bröckeln und der parteipolitische Streit zurückzukehren. Die Corona-Pandemie darf kein andauernder parteipolitischer Schalldämpfer sein, in dessen Namen Regierende fröhlich im „sanitären TINA-Modus“ Gesetze per Eilverfahren beschließen. Dabei ist der Streit nicht nur wichtig für die politische Kultur hierzulande, sondern auch für die Auseinandersetzung, wie demokratische und autoritäre Staaten durch die Krise kommen. Demokratien haben ihre Handlungsfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Nun müssen sie zeigen, dass sie in der weiteren Krisenbewältigung nicht an Diskursfähigkeit verloren haben, denn „eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine“, wie Helmut Schmidt schon sagte.
Ausgehend von der These, die Corona-Pandemie sei eine Krisenverschärferin bestehender Konfliktlinien und Ungleichheiten, ließe sich über mindestens fünf Aspekte – jenseits der Gestaltung von Lockerungsmaßnahmen – vortrefflich in der parlamentarischen und öffentlichen Debatte streiten. Hier eine Vorschlagsliste für progressive Parteien in Europa:
Hoch mit den Schlagbäumen
EU-Skeptiker sehen sich durch die Corona-Pandemie bestätigt: Die EU sei handlungsunfähig, allein auf die Durchsetzungskraft der Nationalstaaten sei Verlass. Für EU-Befürworter hingegen gibt es nur einen Weg aus der Krise und der liegt in mehr europäischer Integration – z.B. in mehr Kompetenzen auf EU-Ebene oder zur Finanzierung der Krisenbewältigungskosten durch ein eigenes EU-Budget. Momentan zählen rechtspopulistische Parteien eher zu den politischen Krisenverlierern, jedoch gewinnt der nationale Bezugsraum ganz ohne ihr Zutun an Flughöhe. So schlossen die Staats- und Regierungschefs zum 25-jährigen Schengen-Jubiläum ihre Grenzen in nationalen Alleingängen. Gleichzeitig sind die Rufe nach europäischer Solidarität laut, vielstimmig und dramatisch. Zahlreiche prominente Stimmen warnen vor dem Auseinanderfallen der EU angesichts der mangelnden Solidarität. Spätestens zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft bedarf es einer Debatte, wie sich die EU zu einer europäischen Solidargemeinschaft entwickeln kann und welche der politischen und finanziellen Instrumente, die bereits lange auf dem Tisch liegen (vom europäischen Mindestlohn bis hin zur Digitalsteuer) endlich umgesetzt werden. Denn ein an der Grenze heruntergelassener Schlagbaum stoppt nicht nur den Verkehr, er ist auch Ausdruck einer Geisteshaltung.
Gesucht: der Staat
Weltweit hat die Corona-Pandemie schonungslos die Schwachpunkte der nationalen Gesundheitssysteme aufgedeckt. Während Staaten mit robusten öffentlichen Gesundheitswesen wie Deutschland und Dänemark bislang eher glimpflich durch die Krise gekommen sind, trifft die Krise die Länder besonders hart, die über schwache oder privatisierte Systeme verfügen. Die akuten Hilfsprogramme, die nun zur Sicherung der medizinischen Versorgung aufgelegt wurden, reichen allenfalls zur Schadensbegrenzung, jedoch nicht für eine grundlegende, langfristige Absicherung gesundheitlicher Risiken ganzer Gesellschaften. Es ist keine neue Erkenntnis, dass öffentliche Daseinsvorsorge und privatisierte Dienstleistungen entgegengesetzte Interessen verfolgen. Was bereits vor Jahren als „Rekommunalisierung“ im ÖPNV oder der Wasser- und Energieversorgung auf kommunaler Ebene begonnen hat, gilt es nun im großen Stil fortzusetzen. Wenn es also um eine stärkere Rolle des Staates geht, dann wäre die Konsequenz, weitere Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge der Marktlogik zu entziehen und eine neue Debatte über die Zukunft des Wohlfahrtsstaats zu führen.
Wer zahlt die Rechnung?
Es ist klar, die bittere Bilanz der Finanzkrise 2008/2009 „Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert“ darf sich nicht wiederholen, wenn das gerade gewonnene Vertrauenskapital in den Staat nicht wieder verloren gehen soll. Konkret bedeutet dies, Staatshilfen für Unternehmen an Konditionen zu binden. So lehnen eine Reihe sozialdemokratischer Parteien (etwa in Dänemark, Deutschland, Frankreich, Kanada, Niederlande) ab, staatliche Hilfen an Unternehmen auszuzahlen, die ihren Firmensitz in Steueroasen verlegt haben oder die in diesem Jahr Dividenden ausschütten. In Argentinien und Frankreich wird diskutiert, zur Finanzierung der Kosten der Krise den Spitzensteuersatz zu erhöhen bzw. die Vermögenssteuer (wieder) einzuführen. Wenn das Ziel eine gerechtere Kostenverteilung als bei der Finanzkrise ist, dann führt kein Weg daran vorbei, bisherige Geschäfts- und Steuerpraktiken multinationaler Unternehmen und Banken zu hinterfragen und staatliche Eingriffe vorzunehmen. Die Rolle des Staates – auch in der Wirtschaft – wird in einer Post-Corona-Welt eine andere sein.
Das Virus ist nicht geschlechtsneutral
Mehrheitlich schlecht bezahlte, klassische Frauenberufe gelten plötzlich als systemrelevant. Zur Rettung systemrelevanter Banken wurden in der Finanzkrise Milliarden bereitgestellt, für Banker geklatscht hat allerdings niemand. Der Applaus für Pflegekräfte, Kassiererinnen usw. ist nett, ebenso angekündigte Einmalzahlungen, aber eine faire Entlohnung durch höhere Tarifabschlüsse ist das mindeste, was nun folgen muss.
Ganz nebenbei deckt die Krise patriarchale Alltagsmuster auf: Nicht-systemrelevante Frauen scheinen von der Bildfläche verschwunden zu sein. Auch wenn Forbes die gewagte These in den Raum wirft, weibliche Regierungschefs würden ihre Länder besser durch die Krise führen, dominieren männliche Wissenschaftler und Politiker die mediale Öffentlichkeit und avancieren zu Krisenmanagern oder Krisenexperten. Bereits vor der Krise haben Frauen dreimal soviel unbezahlte Care-Arbeit geleistet wie Männer. In Zeiten geschlossener Kindergärten und Schulen schultern sie noch mehr. Nicht nur bringt die Pandemie so eine längst überfällige Debatte über unbezahlte Care-Arbeit auf den Tisch, sie unterstreicht auch, wie „politisch das Private ist“, wenn das Zuhause vorranging zum weiblichen Austragungsort von Erwerbstätigkeit, Schule und Kindergarten und Betreuung von Angehörigen wird: Frauen tauchen in der medialen Öffentlichkeit kaum auf. Damit Frauen keine Re-Traditionalisierung mehrerer Jahrzehnte erfahren, gehört eine geschlechterpolitische Debatte an den Küchentisch ebenso wie in die Parlamente und Medien.
Corona-Krise sticht nicht Klimakrise
Die bislang getroffenen Maßnahmen zur Unterstützung der Wirtschaft sind zeitlich begrenzt, umfassende staatliche Investitionsprogramme hingegen sind noch nicht angelaufen. Unter anderem in Polen, der Ukraine und Mexiko sind staatliche Infrastrukturprogramme zur Ankurbelung der Wirtschaft geplant. Auch die EU hat angekündigt, dass der Green Deal im Mittelpunkt eines europäischen Wiederaufbauplans stehen soll. Konkretes ist noch nicht bekannt – aber die Industrieverbände beginnen sich zu positionieren und eine Auseinandersetzung darüber, wie grün denn nun tatsächlich die allseits geforderte „green economic recovery“ aussehen mag, ist unausweichlich – Stichwort „Abwrackprämie“. Dabei ist die öffentliche Meinung laut einer internationalen Umfrage erfreulich eindeutig: 70 Prozent der Befragten halten den Klimawandel langfristig für genauso gravierend wie die Corona-Pandemie und zwei Drittel fordern, dass wirtschaftliche Aufbauprogramme ökologisch ausgerichtet sein sollen. Dieses doppelte Möglichkeitsfenster, aus gesellschaftlichem Rückhalt einerseits und bislang nur angekündigten, aber noch rohen Maßnahmenskizzen andererseits, ist ein idealer Ausgangspunkt für den nachhaltigen Umbau unserer Wirtschaftssysteme.
Politischer Streit ist keine demokratische Meuterei – auch nicht im gegenwärtigen Krisenzustand
Also, auf in die parlamentarischen und öffentlichen Streitarenen. Einigkeit war wichtig, als der Krisenmotor ansprang, doch sind wir bereits einen Schritt weiter. Einhergehend mit der aktuellen Lockerungsdebatte zieht nun ein verführerisches Normalisierungsnarrativ auf. Dabei ist der Normalzustand ein vergangener, einer, den wir aus vielen Gründen überwinden wollten. Doch wollen wir überhaupt zurück? Nostalgie sollte nicht unser handlungsleitendes Motiv sein, sondern die Frage, wie wir diesem ein progressives, optimistisches Zukunftsbild entgegensetzen können. Wenn es nun in den folgenden Wochen und Monaten darum geht, die Gesellschaften aus der Krise hinauszumanövrieren, muss es eine Auseinandersetzung mit Konservativen, Grünen und Liberalen nicht nur über die richtigen Instrumente, sondern und vor allem um alternative Zukunftsentwürfe und einen neuen Gesellschaftsvertrag im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation geben. Auch wenn das Virus kein Parteibuch hat, der Weg aus der Krise sollte mit einem linken Parteibuch geschrieben werden.