Das US-amerikanische Außenpolitikmagazin Foreign Policy überraschte vergangene Woche mit einer Schlagzeile: „Welcome to the West’s Olaf Scholz Era“. Der deutsche Kanzler „repräsentiert die Zukunft von progressiver Politik“. Dieser habe gewiss, was den ganz persönlichen Stil angehe, „einige Merkmale eines potenziellen Retters“, doch würde seine Koalition in einer Art stillen, unaufgeregten Revolution erstmals wirklich die deutsche Wirtschaft radikal modernisieren. Auch die außenpolitische Orientierung habe einen vollständigen Kurswechsel vollzogen, wie das sonst höchstens einmal alle paar Generationen vorkommt. Und die Erfolge könnten sich sehen lassen.

Der Scholz-Stil bestehe darin, nicht allzu viel darüber zu reden, wenig zu erklären und den Eindruck zu erwecken, dass alles seinen notwendigen Lauf nehme. Und darauf zu vertrauen, dass sich die Vernünftigkeit dieser Politik am Ende schon jedem erschließen werde. Eine „Revolution in Trippelschritten“, so Autor John Kampfner. Symptomatischer Repräsentant des zeitgenössischen Progressismus sei Scholz auch in einer zweiten, weniger tollen Hinsicht: In wackeligen Allianzen zu regieren, die nur kleinste Kompromisse zulassen, den Chef eher zum Dirigenten machen, werde künftig sowieso überall die Realität sein.

Ein wenig großspurig ist der Text natürlich angelegt, denn beim Begriff „Ära“ dürfte man ja schon erwarten, dass so etwas wie ein Paradigma skizziert wird. Andererseits ist die Analyse schon so antizyklisch genug. Die großen Leitartikel, die die Scholz-Regierung als Erfolgsstory feiern, sind in der internationalen Debatte eben eher dünn gesät. Die Ampel-Koalition streitet, selbst die grundvernünftigsten Regierungsvorhaben führen zu Zank innerhalb der Regierung, da die beteiligten Partner seltsamerweise glauben, es wäre eine schlaue Taktik, sich gegeneinander zu profilieren und dabei gleichzeitig den Eindruck einer dysfuntionalen Regierung zu vermitteln.

Die deutsche Wirtschaft stagniert seit drei Quartalen, in zwei davon gab es sogar eine minimale Kontraktion. Etwas hysterisch fragen manche Kommentatoren schon, ob Deutschland bald wieder „der kranke Mann Europas“ sein werde. Die Schuldenbremse erzwingt nun auch eine moderate Budgetkonsolidierung und könnte sogar eine tiefere Rezession verursachen. Mit den Freidemokraten, einer Mitte-rechts-Partei in einer eher Mitte-links-Regierung, ist jede kleine Abkehr von der ideologisierten „Budgetdisziplin“ mühsame Kleinarbeit. In Umfragen ist die Zustimmung zur Regierung tief im Keller. Die SPD selbst rangiert etwa bei 18 Prozent. Mal bisschen mehr, mal bisschen weniger. Selbst wohlwollende Scholz-Unterstützer sind etwas verwundert über die eigentümliche Performance der Regierung: Bisschen mehr Chef könnte Scholz schon spielen, auch sichtbare Führung und einen Kanzler, der die Dinge unter Kontrolle hält, würden sich die Leute wünschen.

Tatsächlich schält sich ein neues Paradigma der zeitgenössischen Progressiven heraus.

Ende August, Berlin. Olaf Scholz hat in den achten Stock des Kanzleramts geladen, zum „KulturSommerAbend“. Die Gäste der lässigen Party: Schauspielerinnen und Schauspieler, die jeder aus dem „Tatort“ kennt, gefeierte Autoren, vielfach preisgekrönte Häupter aus Literatur und Kunst, Leute aus der internationalen Avantgarde. Scholz strahlt Entspanntheit aus, aber auch das Selbstsichere dessen, der fix darauf vertraut, dass sein Kurs am Ende Erfolg haben wird. Zur Eröffnung erinnert er an seine „Respekt“-Botschaft aus dem Wahlkampf, dass das nicht sein dürfe, dass die normalen Leute das Gefühl haben, dass sie keine Stimme haben, ja dass sie nicht einmal wahrgenommen werden. Dass sie keine Rolle spielen. Scholz hat gerade ein modernes Staatsbürgerschaftsgesetz durchgebracht, für ihn ein Kernstück der Modernisierung Deutschlands. Wer hier geboren ist, wer hier einwandert, der soll, wenn er sich bemüht, nicht ewig warten müssen, bis er oder sie als jemand angesehen wird, der hierhergehört.

In den Tischgesprächen, in die der Kanzler verwickelt wird, kommt die Rede immer wieder auf die Bedrohungen der Demokratie, den Aufstieg der radikalen Rechten. Auch in Deutschland liegt die rechtspopulistische AfD in Umfragen bei alarmierenden 22 Prozent. Scholz holt dann gerne mal weit aus und erinnert daran, wie die Sozialdemokratie schon unter Kaisers Zeiten für Demokratie und Grundrechte kämpfte, also eine soziale und demokratische Kampfpartei war. Man hat schnell den Eindruck, dass Scholz von den gelegentlich kursierenden Ideen, dass eine Sozialdemokratie kulturell konservativ und konventioneller werden müsse, und links vor allem in ökonomischer und sozialer Hinsicht, ganz besonders wenig hält.

Er wähnt da bei manchen eine „Verachtung gegenüber armen Leuten“, wenn man glaube, man müsse den arbeitenden Klassen ein wenig mit Ressentimentbewirtschaftung kommen. Denn was für ein Bild von den arbeitenden Klassen stünde da denn dahinter? Dass sie antimodernistisch sind, mit der zeitgenössischen Vielfältigkeit der heutigen Gesellschaften nicht klarkommen, und außerdem so doof, dass man sie mit ein paar reaktionären Sprüchen fangen kann. Es lässt sich nicht leugnen, da haben einige eine Karikatur vom „Proletariat“ vor Augen. Bier auf dem Tisch, Fleischberge auf dem Teller, Schlappen an den Füßen und die Hose hängt über den übergewichtigen Po – so stellt sich diese Art von Arbeiterklassen-Anbetern manchmal das Volk vor und man weiß nicht recht, ob das mehr Vergötzung oder doch schon mehr Verachtung des Volkes ist.

Tatsächlich schält sich langsam ein neues Paradigma der zeitgenössischen Progressiven heraus. In ökonomischer und sozialpolitischer Hinsicht muss es deutlich linker sein als in der Ära des „Dritten Wegs“, statt des romantischen Geredes von „Employability“ und „Equality of Opportunities“ braucht es einen Staat, der in Märkte eingreift, wo sie schlecht funktionieren, der in die Zukunft investiert, massiv die nicht-fossilen Energien ausbaut. Einen Staat, der aber auch Sicherheit gibt. Dazu Mindestlöhne und Unterstützung der Gewerkschaften und einfach einen wachen Sinn für Lebensrealitäten und die Respektlosigkeiten, denen gerade die Schwächsten ausgesetzt sind. Das neue Paradigma kreist um den schützenden Staat.

Das sozialdemokratische Wählerpotenzial ist heute weitgehend progressiv.

Zugleich vermeidet das neue Paradigma, in die Falle des kulturellen Konservativismus und seiner Kulturkampf-Agenda zu gehen. Respekt für jeden, dass man niemanden diskriminieren soll, dieses tolerante „Leben und leben lassen“ – das ist heute durchaus mehrheitlich akzeptiert. Niemand soll diskriminiert werden. Niemandem soll es unnötig schwer gemacht werden. Jedem steht auch Empathie zu. Die Zeiten, da man Frauen wie Freiwild behandeln konnte und da Mädchen in ihren Berufswünschen automatisch hinter Jungs zurückstecken mussten, sind längst vorbei. Sexuelle Übergriffe sind kein „Kavaliersdelikt“ mehr. Und jeder soll seine sexuelle Orientierung so leben, wie er oder sie will. Vor allem: Auf Leuten, die es ohnehin nicht leicht haben, soll man nicht auch noch herumtrampeln. Auch darauf kann man sich letztlich schnell einigen. All das ist heute weitgehend akzeptiert und deshalb gibt es gar keinen Grund, in diesen Fragen vor denen zu kapitulieren, die ein Gegeneinander schüren, die Ethnonationalismus befeuern oder Feindbilder erzeugen, gegen die sie dann hetzen können. Das sozialdemokratische Wählerpotenzial ist heute weitgehend progressiv.

Joe Biden gewann mit einer solchen Agenda, Olaf Scholz ebenso, und auch Pedro Sanchez war in Spanien wider alle Prognosen viel erfolgreicher als die meisten annahmen. Österreichs Sozialdemokraten wählten als Vorsitzenden Andreas Babler, der einerseits als populärer Bürgermeister das „Einer von uns“ verkörpert und sich andererseits in den gehypten Kulturkampf-Thematiken explizit progressiv präsentiert. Von Charakter und Ausstrahlung her ist er dieser „Endlich-einer-dem-wir-vertrauen-können“-Typ. Gerne spricht er davon, dass man die Politik wieder „von unten her denken“ müsse. Kurzum: Sozialdemokratie, das ist die Schutzmacht der Schwächsten, Anwalt der normalen, einfachen Leute und Bollwerk für Demokratie, Liberalität und Modernisierung.

Vielleicht ist das ja die Antwort auf die überraschende Eingangsthese über „die Zukunft von progressiver Politik“? Die aufwallenden Irrsinnigkeiten der Zeit, die scheinbare Herrschaft verbitterter Raserei, darf auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die allermeisten Leute am Ende doch die Vernünftigkeit bevorzugen und Leute, die die Balanceakte des Regierens in einer komplexen Welt beherrschen.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.