Die Sozialdemokratie tut sich sichtbar schwer, zu früherer Größe zurückzufinden. Gegenwind erhält sie heute nicht von Christdemokraten, sondern von rechten, nativistischen Parteien, die von Italien und Polen bis nach Deutschland und Schweden in ganz Europa an Stimmen zulegen. Zur Erklärung dieser misslichen Lage werden meist sozioökonomische Faktoren angeführt: wachsende Ungleichheit und Armut, strukturelle Arbeitslosigkeit und die Verschlechterung öffentlicher Dienstleistungen in Gesundheitswesen, Verkehr und Bildung. Dass viele dieser Entwicklungen in die Regierungszeit sozialdemokratischer und christdemokratischer Parteien fielen, könnte erklären, warum die populistischen Anti-Establishment-Parteien heute so viel Zuspruch haben.

Es wäre naiv anzunehmen, dass ein Führungswechsel und eine aufgepeppte Kommunikation die Menschen massenhaft zurück in die Arme sozialdemokratischer Parteien treiben könnten. Mit ihrem Pragmatismus beweisen führende Sozialdemokraten wie Olaf Scholz in Deutschland, Elly Schlein in Italien oder Keir Starmer in Großbritannien, dass sie sich ohnehin lieber durchwursteln – womit sie zugeben, dass die ehrgeizigen linken Projekte der Vergangenheit tot sind, neue aber riskant oder nichtexistent.

Um wieder auf die Beine zu kommen, muss die Sozialdemokratie den Wählerinnen und Wählern eine Vision der guten Gesellschaft präsentieren, die attraktiver und glaubwürdiger ist als das Ideal der nativistischen Rechten. Deren Rezept ist bekannt und einfach: Sie wollen die drei Säulen Familie, Nation und Staat wiederherstellen. Hat die Sozialdemokratie etwas Besseres zu bieten? Auch müssen Sozialdemokraten zeigen, wie sich positive Veränderungen herbeiführen lassen. Wer kann uns vor Katastrophen schützen – militärisch, finanziell oder ökologisch? Ist es der Staat, der Markt oder die Zivilgesellschaft? Ist es die EU, die UNO, der Internationale Währungsfonds, Greenpeace oder der Vatikan?

Kurioserweise unterscheidet sich das rechte Wirtschaftsnarrativ nicht wesentlich vom sozialdemokratischen. Beide Lager behaupten, nicht Rentiers oder Banker, sondern die einfache arbeitende Bevölkerung zu vertreten. Beide geißeln die neoliberale Ökonomie, weil sie zu Ungleichheit, Armut und sozialer Ausgrenzung führt.

In der Familienpolitik zeichnen sich die Gegensätze deutlicher ab. Auf sozialdemokratischer Seite werden die Homo- und die multikulturelle Ehe gefördert, auf nativistischer abgelehnt. Auch zur Abtreibung und zur sogenannten „Gender-Ideologie“ gehen die Ansichten auseinander. Allerdings schreiben sich einige prominente Rechte wie Marine Le Pen in Frankreich keine Familien-Parolen auf ihre Fahnen. In der Sozialdemokratie wiederum befürchten manche, die Beschäftigung mit kulturellen Fragen könnte die Partei von wirtschaftlichen Problemen ablenken – Erstere berühren Rechte des Individuums, Letztere kollektive Rechte, die in der sozialdemokratischen Tradition tief verankert sind.

Besonders heikel für die Sozialdemokratie ist das Thema Staat und Nation.

Besonders heikel für die Sozialdemokratie ist das Thema Staat und Nation. In der Rhetorik der Rechten, die eine Rückkehr der europäischen Nationalstaaten fordern, verschmelzen beide Begriffe: Der Staat müsse wieder souverän sein, so die Nativisten, damit er sich auf die Legitimität stützen könne, die sich aus der Stimme des Volkes, der nationalen Geschichte und der damit verbundenen kulturellen „Reinheit“ ergebe. Staatsgrenzen sind für die Rechte unerlässlich, um „Migranten“ fernzuhalten, „Recht und Ordnung“ zu bewahren und die Ausbreitung „fremder“ Kulturen zu verhindern, die angeblich die nationale Identität, Religion und Familie aushöhlen.

Sozialdemokraten fällt es schwer, dieser rechten Vision etwas entgegenzusetzen, weil sie sich weitgehend dem Etatismus verschrieben haben, wenn auch einem Staat „mit menschlichem Antlitz“. Auch sie versprechen die Verteidigung von Grenzen durch Eindämmung der Globalisierung und der Migration, nur mit rationaleren und menschlicheren Methoden. Sozialdemokraten werfen der Rechten vor, die Demokratie zu pervertieren, doch die Grundannahme, dass Demokratie in erster Linie den Staat betrifft, stellen sie nicht in Frage – als wäre ein Regierungssystem mit mehreren Ebenen unter Beteiligung von EU, Regionalregierungen und Kommunen grundsätzlich verdächtig.

Wie in der Rechten werden auch in der Sozialdemokratie nationale Symbole gepflegt, allerdings parallel zur europäischen Symbolik und Mythologie. Der Etatismus äußert sich sogar in kulturellen Maßnahmen sozialdemokratischer Parteien, die statt Interkulturalität (einem zweiseitigen Prozess) die Integration von Neuankömmlingen befürworten (sprich nationale Assimilation).

Der linke Etatismus ist eng mit der Geistesgeschichte der Nachkriegszeit verknüpft.

Der linke Etatismus ist eng mit der Geistesgeschichte der Nachkriegszeit verknüpft. Die Sozialdemokraten lehnten das kommunistische Narrativ von der Vereinnahmung des Staates durch die Bourgeoisie ab. Sie stützten sich auf den Staat, um Demokratie, Arbeiter- und Frauenrechte, Sozialfürsorge und eine ethikbasierte Außenpolitik zu stärken. In seinem berühmten Buch The Future of Socialism aus dem Jahr 1956 behauptete Anthony Crosland von der britischen Labour Party kühn, es sei dem Staat gelungen, den Kapitalismus und sogar die Wirtschaftsklasse zu transformieren: Staatliche Eingriffe hätten die Macht des Kapitals und der Finanzhäuser geschwächt.

Diese etatistische Vision lehnte nicht nur den Kommunismus ab, sondern auch einen „Zunftsozialismus“, der die Hoheitsgewalt eher in Gemeinschaften und autonomen Arbeiterverbänden verortete als in einem mutmaßlich allwissenden und omnikompetenten Staat. Europäische oder andere kosmopolitische Formen der Demokratie unterstützte der Etatismus nur halbherzig.

Der Kapitalismus befreite sich von effektiven staatlichen Kontrollen, vor allem in kleinen und schwachen Staaten.

Mit der Zeit traten in der staatlich verankerten Demokratie jedoch immer mehr Mängel zutage. Schuld war unter anderem die Entstehung von „Kartellparteien“ und die sich anschließende Krise der parlamentarischen Repräsentation. Dazu kam, dass eine Demokratie, die nur innerhalb der Nationalstaatsgrenzen agierte, transnationale Herausforderungen wie Klimawandel oder Migration in der globalisierten Welt nicht angemessen bewältigen konnte.

Unterdessen befreite sich der Kapitalismus von effektiven staatlichen Kontrollen, vor allem in kleinen und schwachen Staaten. Da Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräfte Grenzen relativ leicht überschreiten, musste das Konzept des Sozialstaates neu gefasst werden, unterstützt durch ein glaubhaftes Projekt für ein transnationales Recht. Ein solches Projekt kam allerdings nie zustande.

Der linksliberale Menschenrechtsdiskurs gründet auf universellen Normen und Werten, doch die Verteidigung dieser Rechte ist weiter an die nationale Gesetzgebung gebunden. Selbst in der EU fällt das Recht auf Abtreibung oder die Homo-Ehe ausschließlich in die Verantwortung der Nationalstaaten.

Den größten Schock für das staatsgebundene System brachte wohl die Internetrevolution mit sich. Sie sorgte dafür, dass Kommunikation und Transaktionen schneller als je zuvor und weitgehend unbegrenzt vonstattengingen. Zudem stärkte sie informelle und schwach institutionalisierte Netzwerke auf Kosten bürokratischer und hierarchischer Staaten. Sogar die Sicherheit verlagert sich sukzessive in den grenzenlosen Cyberspace.

Die Linke hat schwer damit zu kämpfen, die Vision einer funktionsfähigen transnationalen Demokratie mit einer legitimen Regierung für die „flache“ Welt zu entwerfen, die aus dem technologischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandel entsteht. Die nativistische Rechte hat als Lösung die Rückkehr zum Nationalstaat propagiert – und die Sozialdemokraten zogen etwas planlos nach. Dadurch gerieten einige sozialdemokratische Vorzeigeprojekte ins Hintertreffen: offene Grenzen, kulturelle Vielfalt und ethikbasierte Außenpolitik. Immerhin sind harte Maßnahmen, die darauf abzielen, Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken, in der Regel willkürlich und diskriminierend.

Da die Sozialdemokratie innovative Lösungen für die Bewältigung des digitalen Zeitalters schuldig bleibt, wirkt sie altmodisch und wenig inspirierend.

Da die Sozialdemokratie innovative Lösungen für die Bewältigung des digitalen Zeitalters schuldig bleibt, wirkt sie altmodisch und wenig inspirierend. Glaubt man wirklich, die von John Maynard Keynes für das Industriezeitalter entwickelten Wirtschaftsmaßnahmen könnten auch im Digitalzeitalter zum Erfolg führen?

Die Rechte empfiehlt für den Gang in die Zukunft natürlich, noch weiter in die Vergangenheit zu blicken. Weil sie derzeit versucht, neue Mythen und Helden zu schaffen, flammen überall Geschichtskriege auf. Das ist nicht das Terrain der progressiven Linken, die viel lieber den Weg in eine bessere Welt weisen möchte. Doch es wird schwierig, die Welt mit weitgehend zerrütteten Nationalstaaten zu reparieren.

Wenn Sozialdemokraten die Lösungen der nativistischen Rechten für das digitale Zeitalter als grundfalsch ablehnen, dürfen sie selbst nicht am Etatismus mit menschlichem Antlitz festhalten. Sie sollten gründlich darüber nachdenken, wie sich Demokratie, Sozialpolitik und ökologische Nachhaltigkeit in einer von Netzwerken beherrschten Welt bewahren lassen. Sie müssen Staaten verpflichten, Macht und Ressourcen mit anderen öffentlichen Akteuren – lokalen wie transnationalen – zu teilen. Und sie müssen kollektive Bande knüpfen und eine Solidarität herstellen, die das egozentrische, wenn nicht gar rassistische Konzept der „Nation“ als imaginärer Gemeinschaft hinter sich lässt.

Diese Aufgabe ist in erster Linie eher intellektueller als politischer Natur, aber in Parteien, die sich nicht auf Veränderungen und Experimente einlassen, können neue Ideen nicht weit kommen. Mit pragmatischem Durchwursteln lässt sich die nativistische Rechte nicht besiegen. Die Sozialdemokratie muss eine andere Vision der guten Gesellschaft entwickeln – und dafür die Rolle des Nationalstaats neu definieren.

Dies ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Anne Emmert