Spätestens seit der Parlamentswahl im September 2014 ist in Schweden nicht nur links der Mitte eine Debatte um die restriktive Finanzpolitik der letzten zwei Jahrzehnte entbrannt. Obwohl diese schon früher kritisiert worden war, hört man nun auch Stimmen aus den sozialdemokratisch gesinnten Reihen, die hinsichtlich einer hohen Arbeitslosigkeit, einer über Jahre hinweg geschwächten Sozialdemokratie sowie einem großen Investitionsbedarf im Wohlfahrtssektor und in die Infrastruktur offen für eine Neuausrichtung der Finanz- und Investitionspolitik plädieren – und damit die rot-grüne Regierungskoalition unter Druck setzen wollen.

Besonders deutlich wird dies in einem kurzen Papier zur Lage der Linken in Schweden und Europa, das der Chefökonom des progressiven Think Tank Arena Idé Sandro Scocco verfasst hat. Für Scocco hat die Linke (hier Sozialdemokratie und Parteien links derselben) in den letzten Jahrzehnten den Kampf um die Problemformulierung verloren und somit den bürgerlichen Kräften, die für eine Ausweitung von europaweiter Austeritätspolitik stehen, die diskursive Hegemonie überlassen. In Bezug auf die Wahlen in Schweden 2014 und in Großbritannien 2015 stellt er fest, dass „Ed Miliband und Stefan Löfven beide mit der Fortsetzung einer missglückten wirtschaftlichen Politik zur Wahl gingen“. Die vorherrschende Austeritätspolitik, die sich in Schweden seit Mitte der 1990er Jahre durch ein „Überschussziel“ im Haushalt ausdrückt und die seit der Finanzkrise Ende der 2000er europaweit Norm geworden ist, basiere, so Scocco, zum größten Teil auf technisch falschen Berechnungen der Ökonomen Reinhart und Rogoff, die 2010 glaubten feststellen zu können, dass eine Staatsschuld über 60 Prozent des BIPs das Wachstum negativ beeinflussen würde. Später sollte sich herausstellen, dass ein solcher Zusammenhang statistisch nicht vorliegt.

Dazu komme, dass die neue Norm der Austeritätspolitik davon ausging, dass staatliche Einschnitte in schlechten wirtschaftlichen Zeiten kaum negativen Einfluss auf das Wachstum hätten. Mit Verweis auf neue Studien des IWF stellt Scocco fest, dass diese Annahme ebenfalls nie Resonanz in der Realität fand, sondern auf fehlerhaften Einschätzungen des sogenannten „Multiplikatoreffektes“ staatlicher Investitionspolitik zurückzuführen waren. Dieser soll dazu genutzt werden, die Konsequenzen staatlicher Einschnitte auf das Wachstum des BIPs abzuschätzen und lag nach neueren Berechnungen zufolge zwischen 1,6 und 2,5 (null hätte keinen negativen Effekt), was darauf schließen lässt, dass Einschnitte in schlechten wirtschaftlichen Zeiten sehr wohl negative Konsequenzen auf das Wachstum haben. Daher stellt sich für Scocco die Frage, warum sich die Sozialdemokratie und andere linke Kräfte in Europa trotzdem für die Fortsetzung einer solchen Austeritätspolitik entschieden.  „Verstehen die Strategen der führenden europäischen Mitte-Links-Parteien in Europa denn nicht, was geschehen ist? Oder verstehen sie, was passiert ist, wollen aber eher die Regierungsmacht gewinnen als den Kampf um die Problemformulierung?“ Diese Fragen kann auch Scocco selbst nicht beantworten.

 

Wachsende Staatsschulden als Weg aus der Krise

Doch Scocco ist mit seinen Fragen nicht alleine. Seit 2013 schon hat der Dachverband der Arbeitergewerkschaften LO an einer Studie gearbeitet, die Wege zu einer neuen Politik der Vollbeschäftigung ausloten soll, und die nun Anfang Juni vorgestellt wurde. Zentrale Forderungen der LO sind demnach die Abschaffung des „Überschusszieles“ in der staatlichen Finanzpolitik zugunsten eines temporären „Unterschusszieles“ von 1,5 bis vier Prozent des BIP pro Jahr in den kommenden Jahren, um notwendige Investitionen in Infrastruktur und im Wohlfahrtssektor aktiv voranzutreiben. Damit stellt sich die LO, traditionell eng der Sozialdemokratie verbunden, gegen die rot-grüne Regierungskoalition, deren sozialdemokratische Finanzministerin Magdalena Andersson zwar das Überschussziel aufgeben, den Haushalt aber trotzdem „Krone für Krone“ finanzieren möchte, was den Spielraum für neue Investitionen schmälert.

Ähnlich wie Scocco stuft auch die LO die restriktive Finanzpolitik der letzten Jahrzehnte als Sackgasse ein, wenn es um die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, die Modernisierung maroder Infrastruktur und die Mängel im öffentlichen Wohlfahrtssektor geht. Neben der Argumentation, dass die Politik der letzten zwei Jahrzehnte diese Probleme offensichtlich nicht beheben konnte – diese sogar zum Teil verstärkte, wie es sich in der steigenden Arbeitslosigkeit zwischen 2006 und 2014 widerspiegelt – kommt der gewerkschaftsnahe Think Tank Katalys zum dem Ergebnis, dass die Zurückhaltung gegenüber einer regulierten wachsenden Staatsverschuldung zugunsten von Investitionen auf eine fehlerhafte Analyse der schwedischen Finanzkrise Anfang der 1990er Jahre zurückzuführen sei. So sei die hohe Staatsverschuldung vor allem eine Folge der Krise gewesen, die wiederum aus einer stetig wachsenden Verschuldung im privaten Sektor (Haushalte und Unternehmen) entstanden war. Besonderen Fokus legen die Autoren des Katalys-Berichts daher auch auf die wachsende Privatverschuldung in Schweden in den letzten Jahren, die von einer sehr niedrigen Staatsverschuldung begleitet wird. In Einklang mit Scocco und LO sieht Katalys daher den Bedarf einer moderat steigenden Staatsverschuldung, um sowohl gesellschaftliche Problemstellen aktiv anzugehen als auch das Ungleichgewicht zwischen privater und staatlicher Verschuldung abzubauen.

 

Die diskursive Hegemonie bröckelt

All dies sind Belege dafür, dass der Unmut über den finanzpolitischen Rahmen der letzten zwei Jahrzehnte auch innerhalb der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften wächst. Dieser ist damit auch eine implizite Kritik an der bisherigen Ausrichtung der sozialdemokratisch geführten Regierung, die sich, um es mit Sandro Scoccos Worten auszudrücken, an die Spielregeln früherer Regierungen bindet, die sich am hegemonialen Diskurs der Austeritätspolitik orientieren. In Zeiten einer Zuspitzung der Griechenland-Krise befeuern damit sozialdemokratische und gewerkschaftliche Stimmen in Schweden eine Debatte um die Neuausrichtung schwedischer und damit auch europäischer Finanzpolitik weg vom Ideal der strammen Haushaltsführung. Dass diese Debatte nicht nur in ausgewiesenen linken Kreisen Gehör und Verbreitung findet, belegt die Chefredakteurin der liberalen Tageszeitung Sydsvenskan Heidi Avellan, die während der Politikerwoche auf Gotland Anfang Juli ihre Hoffnungen zur sozialdemokratischen Regierungspolitik ausdrückte. Für sie sei es notwendig, dass Ministerpräsident Stefan Löfven das Überschussziel aufgebe, um Investitionen möglich zu machen, die in den letzten Jahren versäumt worden sind. Der Glauben an die Macht der Austeritätspolitik bröckelt.

Mit einer rot-grünen Regierung an der Macht wird sich nun zeigen, inwiefern die Herausforderung des hegemonialen Diskurses der restriktiven Finanzpolitik gehört wird – oder nicht gehört werden will. Die Frage ist, um es mit den berühmten Worten des Mitbegründers der schwedischen Sozialdemokratie August Palm zu sagen, „was wollen die Sozialdemokraten“?