Die US-Wahlen 2020 waren die traumatischsten und gefährlichsten in der modernen US-amerikanischen Geschichte. Republikanische Eliten und ihre Wählerschaft stellten ungerechtfertigterweise die Legitimität der Wahlen infrage und lieferten damit den Anlass für die Krawalle, mit denen versucht wurde, das Wahlergebnis ungültig zu machen.

Wie erklären sich die diametral entgegengesetzten Narrative von Republikanern und Demokraten zum Wahlausgang 2020, wie die grundlegenden Probleme der Demokratie, die sich in dieser Uneinigkeit manifestieren? Häufig werden als Gründe „massive Parteienkämpfe“ und Polarisierung angeführt.

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg waren in den Vereinigten Staaten Parteibindung und Wählertreue relativ schwach ausgeprägt. Die Wählerschaft und die Eliten der Demokraten und Republikaner waren ideologisch relativ heterogen, und relativ häufig wechselten die Wahlberechtigten von einer Wahl zur nächsten die Partei oder gaben in den Bundesstaaten und auf nationaler Ebene ihre Stimme Kandidaten verschiedener Parteien.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatte sich die Situation jedoch dramatisch verändert: Heute ist die Parteiidentität emotional tief verwurzelt, demokratische und republikanische Eliten und ihre jeweilige Wählerschaft sind unterschiedlicher und in sich ideologisch homogener, und Wechselwählerinnen oder Wähler, die ihre Stimmen an Kandidaten verschiedener Parteien vergeben, sind relativ selten geworden.

Infolge dieser Entwicklungen betrachten – so hört man in Wissenschaft und Medien – die Anhänger von Demokraten und Republikanern einander nicht mehr als Bürgerinnen und Bürger, die unterschiedliche politische Ansichten und Vorlieben haben, sondern als Gefahr oder Bedrohung. Diskurs und Interaktionen in der Politik, heißt es, seien vor allem von Wut und Ressentiments geprägt. Die Politik habe sich zu einem Nullsummenspiel entwickelt, in dem Kompromisse allen Beteiligten ein Gräuel sind. In einem dermaßen nach Parteien polarisierten Umfeld kann Extremismus gedeihen; antidemokratische Aktionen gegen politische Gegner gelten als akzeptabel oder gar notwendig.

Die Politik in den USA habe sich zu einem Nullsummenspiel entwickelt, in dem Kompromisse allen Beteiligten ein Gräuel sind.

Zwar steht völlig außer Zweifel, dass mit der wachsenden Dysfunktionalität der US-Demokratie auch Parteienstreit und Polarisierung zugenommen haben, doch muss diese Korrelation keine Kausalität beinhalten. Wie Hans Kundnani und ich in einem kürzlich erschienenen Artikel darstellen, zeigt ein Vergleich mit Westeuropa, dass Parteienstreit und Polarisierung allein keine Gefahr für die Demokratie darstellen. Um die Störung des demokratischen Systems in den USA und anderswo nachzuvollziehen, darf man sich nicht auf diese Entwicklungen beschränken.

In den Nachkriegsjahrzehnten wurden die Parteiensysteme in Westeuropa von sozialdemokratischen, sozialistischen oder Arbeiterparteien im linken und christlich-demokratischen oder konservativen Parteien im rechten Spektrum beherrscht. Diese Parteien boten den Wählern ein jeweils relativ klares beständiges und ausgeprägtes politisches Profil. Die etablierten Parteien der Linken und Rechten verfügten zudem über eine stabile Organisation und starke Bindungen zu zivilgesellschaftlichen Vereinigungen und Interessengruppen (insbesondere Gewerkschaften auf der linken und Wirtschaftsverbände auf der rechten Seite). Dank dieser Bindungen konnten sie die eigene Anhängerschaft in Wahlen leichter mobilisieren und sich zwischen den Wahlen ihrer Treue gewiss sein.

Entsprechend stark setzten sich in der Nachkriegszeit die westeuropäischen Parteien voneinander ab. Die Wählerschaft legte eine ausgeprägte Parteitreue an den Tag, und so war es auch nicht ungewöhnlich, wenn besonders im linken Spektrum die Parteimitgliedschaft eine identitätsstiftende Komponente hatte. Genau das beklagen viele Beobachter heute in den USA.

Wie im heutigen Amerika war im Westeuropa der Nachkriegszeit dank dieser Kombination aus einem jeweils relativ klaren Parteiprofil, einer soliden Parteiorganisation und einer starken Abgrenzung zwischen den Parteien auch das Wahlverhalten recht stabil: Die etablierten Parteien konnten stets die Stimmenmehrheit für sich gewinnen, und es gab vergleichsweise wenige Wechselwähler.

Einer repräsentativen Studie aus dem Jahr 1970 zufolge hatten sich „die Wahlergebnisse der meisten Parteien [...] nach dem Krieg von Wahl zu Wahl kaum verändert“. Die Parteiensysteme in Westeuropa und das Wahlverhalten verschiedener Bevölkerungsgruppen waren so stabil, dass Stein Rokkan und Seymour Martin Lipset sie in ihrem klassischen Werk „Party Systems and Voter Alignments“(1967) gar als „eingefroren“ bezeichneten.

Im Westeuropa der Nachkriegszeit war der politische Wettbewerb zwischen den linken und rechten Parteien auf die Wirtschaft ausgerichtet.

Paradoxerweise war vieles, was Beobachter im Falle der USA heute für gefährlich halten – starke, klar differenzierte Parteien, die sich massiv voneinander absetzen (und damit aufseiten der Anhängerschaft statt bloßer Zugehörigkeit Identität stiften), sowie wenig Wechselwähler –, für die Demokratie in Westeuropa durchaus nicht gefährlich. Vielmehr werden in der Wissenschaft diese Merkmale der westeuropäischen Parteiensysteme als entscheidenderBeitrag zum Wiederaufbau und zur Stabilisierung der Demokratie nach 1945 gewertet. Als sie Ende des 20. Jahrhunderts jedoch nach und nachschwanden – die Differenzierung zwischen den Parteien abnahm, etablierte Parteien links und rechts sich einander annäherten und die Zahl der Wechselwähler zunahm –, entstanden in vielen dieser Demokratien handfeste Probleme.

Die USA und Westeuropa haben sich demnach in den vergangenen Jahrzehnten politisch sehr unterschiedlich entwickelt: In den USA nahmen Parteienstreit und Polarisierung zu, in Europa nahmen sie ab. Doch die politischen Ergebnisse – zunehmender Populismus und wachsende Unzufriedenheit mit der Demokratie – sind ähnlich. Wenn das Ausmaß von Parteienstreit und Polarisierungallein die Probleme der Demokratie nicht erklären kann, was dann? Ein nahe liegender Kandidat sind die Themen im politischen Wettbewerb.

Im Westeuropa der Nachkriegszeit war der politische Wettbewerb zwischen den linken und rechten Parteien auf die Wirtschaft ausgerichtet. Die etablierten Parteien akzeptierten die kapitalistischen Spielregeln, entwickelten aber innerhalb dieser Parameter relativ klare und unterschiedliche politische Profile: Linke Parteien sprachen sich für einen stärkeren, aktiveren Staat aus, für höhere Sozialausgaben und die öffentliche Bereitstellung wichtiger Aufgaben wie Bildung und Gesundheitswesen; rechte Parteien forderten freiere Märkte, einen schwächeren Staat und die stärkere Beteiligung von Familien, religiösen Institutionen und privaten Wohltätigkeitsorganisationen an der Sozialfürsorge.

Im Bereich solcher Themen waren Parteienstreit und Polarisierung kein Problem für die Demokratie. Es ging um „mehr oder weniger“, „früher oder später“, Fragen also, die in Verhandlungen und mittels Kompromissen gelöst werden konnten. In einigen Ländern wirkte der Dialog zwischen den Sozialpartnern, Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen als zusätzlicher Stabilisator.

Es ging um „mehr oder weniger“, „früher oder später“, Fragen also, die in Verhandlungen und mittels Kompromissen gelöst werden konnten.

Ein politischer Diskurs, der sich auf kulturelle Fragen konzentriert, dürfte dagegen für die Demokratie problematischer sein. Solche Themen berühren unmittelbar Fragen der Moral und Identität und wirken „binär“ als „Nullsummenspiel“, was Kompromisse und Verhandlungen erschwert. Aus einer Vielzahl von Gründen, darunter die Annäherung der wirtschaftspolitischen Profile etablierter linker und rechter Parteien, veränderte sich in Europa Ende des 20. Jahrhunderts der politische Wettbewerb: Statt wirtschaftlicher Belange wurden kulturelle Fragen wie nationale Identität und Zuwanderung verhandelt.

In den USA liegt der Schwerpunkt noch deutlicher auf kulturellen Themen. Demokraten und Republikaner präsentieren ihrer jeweiligen Wählerschaft eine grundsätzlich unterschiedliche Ansicht darüber, was als amerikanisch (und „unamerikanisch“) zu gelten hat, wofür die Geschichte ihrer Nation steht und welche Grundwerte sie vertritt. Eine Parteiendifferenzierung, die sich auf solche Fragen stützt, und die damit einhergehende Polarisierung machen es den Menschen leicht, politische Gegner zu dämonisieren und illiberale oder gar antidemokratische Aktionen gegen sie zu rechtfertigen.

Es ist zwar nachvollziehbar, warum so viele Beobachter Parteienstreit und Polarisierung in der US-Politik beklagen, doch wer sich allein damit beschäftigt, wird in die Irre geführt. Ein Vergleich mit den Erfahrungen in Westeuropa zeigt, dass wir uns nicht so sehr um das Ausmaß oder die Quantität von Parteienstreit und Polarisierung kümmern sollten, sondern vielmehr um ihre Qualität.

Solange der politische Wettbewerb in erster Linie um Themen kreist, die Verhandlungen und Kompromisse ermöglichen, sind Parteitreue und klar differenzierte Parteien mit der Demokratie vereinbar, ja, sie stärken sie sogar, weil sie die Wahlberechtigten zur Stimmabgabe motivieren und es ihnen erleichtern, Politiker und Parteien zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn aber in der Politik die Moral den Ton angibt und des einen Gewinn des anderen Verlust ist, werden politische Gegner schnell als Bedrohung, der Verlust von Wahlen als Gefahr wahrgenommen. In einem solchen Umfeld können tief verwurzelte politische Loyalitäten und stark differenzierte Parteien eine Störung oder gar den Zusammenbruch der Demokratie herbeiführen.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Anne Emmert