Migrations- und Flüchtlingsbewegungen nach Europa reißen nicht ab. Das Thema wird auch auf dem kommenden EU-Afrika Gipfel im April eine wichtige Rolle spielen. Was muss sich an der europäischen Migrationspolitik ändern?

Kein Mensch flüchtet freiwillig. Flucht ist immer eine Reaktion auf Not und Verzweiflung, deren Motive ganz unterschiedlicher Natur sind. Die zu Recht kritisierte Abschottung Europas führt dazu, dass die Flüchtlinge nun wesentlich gefährlichere und weitere Routen nutzen und so ihr Leben noch größeren Gefahren aussetzen. Dies dürfen wir nicht zulassen.

Gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn müssen wir uns der Herausforderung stellen und solidarisch entscheiden, wie wir den Menschen helfen können und wollen: hier in Europa, aber auch in ihren Herkunftsländern. Die Einrichtung einer aus den EU-Mitgliedstaaten besetzten Task Force ist ein kurzfristig greifendes Instrument. Zugleich müsste aber insbesondere eine Überprüfung der Dublin-Verordnung als Instrument einer menschlicheren und gerechteren Flüchtlingspolitik angedacht werden. Die aus der geltenden Verordnung resultierende Praxis führt zu einer ungleichen Verteilung der mit Migration verbundenen Herausforderungen. Oftmals sehen sich die Mittelmeerstaaten gezwungen, eine Politik der Abschottung und Abschreckung zur Bewältigung des Flüchtlingsandrangs zu wählen.

Eine Überprüfung der Dublin-Verordnung als Instrument einer menschlicheren und gerechteren Flüchtlingspolitik muss angedacht werden.

Zudem braucht es eine abgestimmte entwicklungspolitische Strategie, um den Gründen unfreiwilliger Migration und Flucht in den Drittstaaten selbst entgegenzutreten. Ein besseres Ineinandergreifen von Migrations-, Außen- und Entwicklungspolitik ist unabdingbar. Wir brauchen vielfältige Maßnahmen zur Förderung von regulärer Migration, zum Ausbau von Flüchtlingsschutz sowie eine engere Verzahnung von Migration und Entwicklung, um den Menschen in ihren Heimatländern Perspektiven aufzuzeigen und ihnen in Notsituationen legale Migrationswege aufzuzeigen. Es kann nicht Ziel sein, die Menschen mit erschreckenden Abwehrmaßnahmen daran zu hindern, nach Europa zu kommen und sich dann angesichts der dramatischen Bilder der in Seenot geratenen Menschen in rhetorischer Betroffenheit zu überbieten.

Welcher Beitrag kommt dabei der Bundesregierung zu?

Die Bundesregierung engagiert sich auf verschiedenen Wegen für Flüchtlinge und deren Schutz. So unterstützt sie den internationalen Flüchtlingsschutz durch finanzielle Mittel. In den letzten Jahren wurden etwa die Zuwendungen an den UNHCR oder das Internationale Komitee vom Roten Kreuz deutlich gesteigert. Dies sollte weiter fortgeführt werden. Auch die Arbeit des THW für eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in den Flüchtlingslagern ist ein wichtiger Beitrag.

Es kann nicht Ziel sein, Menschen mit erschreckenden Abwehrmaßnahmen daran zu hindern, nach Europa zu kommen und sich dann angesichts der dramatischen Bilder in rhetorischer Betroffenheit zu überbieten.

Eine deutliche Steigerung muss die Umsetzung des Resettlement-Programms erfahren. Im Jahr 2012 nahm die Bundesregierung lediglich 307 Personen im Direktverfahren auf. Hier erwarte ich, im Besonderen mit Blick auf die dramatische Lage der syrischen Flüchtlinge, eine schnelle Lösung für die Betroffenen. Positiv zu bewerten ist, dass Deutschland – gemessen am Verhältnis zwischen Bevölkerungszahl und Asylverfahren – mit 23 Prozent aller bearbeiten Asylanträge in der EU einen großen Beitrag leistet. Gemeinsam mit Frankreich, Schweden, Großbritannien und Belgien ist Deutschland einer der EU-Hauptaufnahmestaaten.

Darüber hinaus ist das Engagement der Bundesregierung in der auf EU-Ebene eingerichteten Task Force für eine engere Zusammenarbeit zwischen Herkunfts- und Transitstaaten, zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität und einer Stärkung des Flüchtlingsschutzes ein wichtiges Element. Hier müssen und werden hoffentlich schnell und nachhaltig grundsätzlichere Entscheidungen getroffen werden, um dauerhaft Antworten auf die Herausforderungen von Flucht und Migration zu finden.

Wirtschaftsverbände und Politik betonen immer wieder, dass Europa qualifizierte Einwanderung brauche. Zugleich existieren augenscheinlich erhebliche Widerstände in den europäischen Bevölkerungen. Wie ist dieser Spagat zu meistern?

Keine Gesellschaft, keine wirtschaftliche Entwicklung kommt ohne innovative und frische Ideen aus. Ich wehre mich gegen den oft verbreiteten Eindruck, Migration sei eine reine Last. Migration bereichert das Leben einer Gesellschaft in vielen Bereichen, und nicht zuletzt in Deutschland ist sie aufgrund des demografischen Wandels eine unabdingbare Komponente unseres Wachstums. Die offene, aber noch viel häufiger versteckte Ablehnung von Zuwanderung resultiert häufig aus Motiven der Angst und Unkenntnis, auch aus den falschen politischen Signalen.

Eine deutliche Steigerung muss die Umsetzung des Resettlement-Programms erfahren. Im Jahr 2012 nahm die Bundesregierung lediglich 307 Personen im Direktverfahren auf.

Die reine Proklamation der Notwendigkeit von Zuwanderung gestaltet weder die gesellschaftlichen noch rechtlichen Voraussetzungen, um Migrantinnen und Migranten willkommen zu heißen. Auch die öffentlichen Debatten der vergangenen Wochen, in denen Einwanderung häufig allein mit Zuzug in die Sozialsysteme assoziiert wurde, halte ich für ein falsches Zeichen. Wenn die Gesellschaft sich als Ganzes für Migration öffnen soll, müssen wir sowohl den Menschen hier in Deutschland als auch den am Zuzug Interessierten in der ganzen Welt glaubhaft darlegen, wie wir dies gestalten wollen und mit Allen in einen Dialog darüber treten.

Die Probleme mit Wohnraum in einigen deutschen Großstädten, die Angst vor steigender Kriminalität oder vermeintliche Ausnutzung der deutschen Sozialleistungen sind willkommene Argumente politischer Stimmungsmacher – allerdings dürfen tatsächlich vorhandene Probleme weder verharmlost noch negiert werden. Ein wichtiges Signal wäre es, mit den Ländern, Städten und Gemeinden, aber auch mit unseren europäischen Partnern, zu erörtern, wie wir real existierende Probleme vor Ort aktiv lösen können, um für alle Beteiligten das Willkommen zu einer Tatsache zu machen und nicht zu einem Lippenbekenntnis verkommen zu lassen.

Führt eine offenere europäische Migrationspolitik in den Entsendeländern nicht zugleich zu einem brain drain, der eine positive wirtschaftliche Entwicklung erschwert?

Diese Frage ist insbesondere für die Staaten und Gesellschaften der Herkunftsländer  wichtig. Die Abwanderung ganzer Generation junger Menschen ist eine Gefahr für die nachhaltige Entwicklung dieser Staaten. Ein Beispiel aus Südafrika verdeutlicht die Dimensionen: 37 Prozent der in Südafrika ausgebildete Ärzte arbeitet in OECD-Ländern.

Die deutsche Politik hat diesbezüglich eine große Verantwortung: Sie muss gewährleisten, dass den einwandernden Menschen hier vor Ort eine langfristige Perspektive geboten wird. Sie muss sich aber auch bewusst sein über die direkten Auswirkungen in den Herkunftsstaaten und diesen adäquat begegnen.

Eine enge Kooperation der Aufnahme- und Herkunftsstaaten in den Bereichen Bildung und Entwicklung muss angestrebt werden, um die Effekte der Emigration vor Ort abzumildern. Nötig wäre ein nachhaltiges Konzept, dass das Engagement der hier Lebenden für ihre Heimatländer zielgerichtet für die Verbesserung der Lebensbedingungen und der eigenständigen Entwicklung koordiniert. Von Seiten der Migrantinnen und Migranten gibt es bereits häufig eine intensive finanzielle Unterstützung der Familien in den Herkunftsländern. Wir müssen sie auch darin unterstützen, Fachwissen, Fertigkeiten und Kontakte mit ihren Heimatländern auszutauschen, um die Effekte der Abwanderung dort zu mildern. Dies sollten wir weiter fördern. Denkbar wäre auch eine Neugestaltung der Aufenthaltsbestimmungen in den Zuwanderungsländern, so dass Migrantinnen und Migranten, wenn sie für einige Zeit in ihren Herkunftsländern das hier erworbene Wissen weitergeben, ihren Aufenthaltsstatus hier nicht verlieren.