Ein wesentliches Merkmal der „Occupy Wall Street“-Bewegung war die Ablehnung einer gewählten oder ernannten Führung. Dies zeigte sich bei den Vollversammlungen und den Sprecherrats-Modellen, die in den wichtigsten Protestcamps entstanden: Man achtete streng auf die Einhaltung des Rotationsprinzips und des Horizontalismus. Letzteres ist eine Form der Organisation, die Hierarchie durch „Selbstverwaltung, Autonomie und direkte Demokratie“ ersetzt. Im Wesentlichen versuchte die Bewegung also, sich hierarchiefrei zu organisieren.

Ich behaupte, dass die Bewegung letztlich an diesem Anspruch gescheitert ist. Und ich sage dies nicht als ein Beobachter von außen, sondern als einer ihrer standhaftesten Anhänger und Förderer, seit sich im Sommer 2011 die ersten Gruppen formierten.

Und noch etwas möchte ich klarstellen: Ich bin überzeugt, dass die Occupy-Bewegung ein extrem erfolgreiches kulturelles und politisches Phänomen ist, dessen Saat nun überall im Land und auf der Welt auf vielfältigste Weise Früchte trägt. Neue Organisationen und Allianzen wurden geschmiedet, alte Institutionen wiederbelebt, neue Politikerinnen und Politiker gewählt und korrupte aus den Ämtern geworfen, natur- und menschengemachte Katastrophen nachhaltig abgewendet.

Viele dieser positiven Nebenwirkungen von „Occupy Wall Street“ entstanden und bestehen bis heute, nicht wegen, sondern trotz der formalen Entscheidungsstrukturen der Bewegung. Das Beharren von „Occupy Wall Street“ auf „Führungslosigkeit“ hat innerhalb der Bewegung eine Führungsgruppe geschaffen, die sich niemandem verantworten musste und die den noblen Versuch, echte direkte Demokratie zu praktizieren, im Keim erstickte.

Das Vermeiden formaler Führungsstrukturen hat Raum geschaffen für mutige, autonome Aktionen.

Dies bedeutet nicht, dass Führungspersonen nicht versucht hätten, einen Führungsanspruch anzumelden, oder dass Besetzer nicht einigen aus ihrer Gruppe die Führung übertragen hätten. Das Vermeiden formaler Führungsstrukturen hat Raum geschaffen für mutige, autonome Aktionen: etwa den Aufruf zu einem Marsch auf die Wall Street, eine Kundgebung, um auf eine drohende Räumung durch die Polizei aufmerksam zu machen oder die Förderung einer neuen Technologie für ein basisdemokratisches Entscheidungsverfahren. Viele ambitionierte und motivierte Menschen kamen in die Camps und stellten der Gruppe ihre Ideen und Projekte vor. Doch viele zogen frustriert von dannen, als sie feststellten, dass es keine formalen Mechanismen gab, um Unterstützung für ihre Pläne zu bekommen.

Die Medien bestimmen die Sprecher

Die „Mainstream-Medien“ – also jene Medienunternehmen, die nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung von Großkonzernen geführt werden – haben nicht darauf gewartet, dass „Occupy Wall Street“ bestimmt, wer vor die Kamera treten soll. Sie nahmen sich die Freiheit, die Sprecher der Bewegung selbst auszusuchen. Häufig entsprach diese Auswahl den bestehenden Machtverhältnissen: Die Reporter sprachen mit Menschen, die ihnen ähnlich waren (überwiegend Weiße), die aussahen, als würden sie sich Geltung verschaffen (vor allem gut ausgebildete Männer) oder die schon einen gewissen Bekanntheitsgrad hatten, wie Prominente oder gewählte Amtsträger. Dies führte dazu, dass die an sich schon vagen Ziele der Bewegung nicht richtig repräsentiert wurden, auch weil viele der an den Camps beteiligten marginalisierten Gruppen ein tiefes (und wie ich finde gerechtfertigtes) Misstrauen gegenüber den Medien hegten und ihnen deshalb im Zuccotti-Park in New York City, wohin sich die Proteste verlagerten, aus dem Weg gingen oder sich ihnen sogar entgegenstellten.

Die Medien zu beschuldigen, die Occupy-Plattform falsch dargestellt zu haben, würde aber bedeuten, die Rolle der Mainstream-Medien misszuverstehen: Im besten Fall besteht die Rolle der Medien darin, einen Dialog zwischen der interessierten Öffentlichkeit und den Gruppen, die einen Einfluss auf diese ausüben möchten (Regierung, soziale Bewegungen, Unternehmen), zu fördern. Im schlimmsten Fall versuchen die Medien, diesen Dialog subtil zu beeinflussen, indem sie die Berichterstattung so gestalten, dass sie jenen Interessen dient, die davon profitieren: Anzeigenkunden, Investoren und Menschen, die mithilfe ihres Geldes und Einflusses in positivem Licht dargestellt werden wollen. 

Die hierarchielose Struktur von „Occupy“ erschwerte den Kontakt mit den Medien enorm. Weil es keine gewählten Sprecher gab, mischten sich die Reporter unter die Aktivisten, um einen unverstellten Blick zu erhalten. Das führte häufig zu einer wenig glanzvollen Berichterstattung.

Die PR-Arbeitsgruppe hatte ihre eigenen Probleme, sich als Stimme nach außen zu legitimieren. Viele Leute in den Camps stellten ihre Motive in Frage, und da es keine formale Führungsstruktur gab, ermächtigte sie eigentlich nichts, im Namen der Bewegung zu sprechen. Wie so oft nutzten dies die Hardliner, um ihren Handlungsspielraum zu erweitern: Ohne jegliche Rücksprache wurden Websites erstellt und Pressemitteilungen herausgegeben. So entschied eine kleine Gruppe auf der Grundlage von bestehenden Freundschaften und Vertrauen, wer von den Medien interviewt werden sollte. Die Führungslosigkeit zeigte ihr hässliches Gesicht: Wenn wir uns nicht darauf einigen können, wem wir die Macht übertragen wollen, für uns zu sprechen und in unserem Namen zu handeln, übernehmen oft jene die Macht, die diese wollen, automatisch und ohne Erlaubnis.

Konsens als Mittel, um Macht ohne Rechenschaftspflicht auszuüben

In kleinen Gruppen ist Konsens ein wirkungsvolles Instrument der Entscheidungsfindung: Er schafft Zusammenhalt in Teams und führt dazu, dass man sich gemeinsam verantwortlich für ein Projekt fühlt und daran arbeitet. Konsens kann auch bestehende Machthierarchien abbauen, die wenige, privilegierte Menschen gegenüber anderen, marginalisierten Menschen begünstigen. Konsens wirkt kooperativ und ist konstruktiv, vor allem bei Kreativen und Künstlergruppen. Aber er hat seine Schwächen in der Politik, die an sich unübersichtlich und konkurrenzgeprägt ist. Demokratie fordert, dass die Menschen mit ihrer eigenen Regierung einverstanden sind, aber sie verspricht nicht, dass allen jede Entscheidung gefällt. Wenn Demokratie funktioniert, stellt sie sicher, dass weder eine Tyrannei der Mehrheit noch die einer Minderheit herrscht. Die konkurrierenden Interessen der Parteien werden ausgeglichen und der Ausgleich sozialer Konflikte wird erleichtert.

In Bezug auf alle diese Aspekte ist Konsens ein mangelhaftes Instrument. In den Vollversammlungen von „Occupy Wall Street“ stellte er sich jedenfalls als fatal heraus. Ohne klare, stabile Führung konnten Hetzer und Verrückte leicht Treffen kapern und Tagesordnungen zu Fall bringen. Der gut gemeinte Wunsch, alle Stimmen zu hören, endete häufig in lautem Geschrei, wenn eine schwache Versammlungsleitung zu einem Machtvakuum führte. Während Prinzipienreiter wiederholten „direkte Demokratie ist eben chaotisch“ und achselzuckend darüber hinweggingen, verließen viele Neulinge still und leise die Bewegung – frustriert oder gelangweilt.

Im zweiten und dritten Monat der Besetzung wurde der Konsens zum Feind der direkten Demokratie.

Im zweiten und dritten Monat der Besetzung wurde der Konsens zum Feind der direkten Demokratie. Die zunehmende Komplexität des Camps und seiner unzähligen Arbeitsgruppen ebenso wie die nun offensichtliche Unfähigkeit der Vollversammlung, Finanzen, Politik und die restlichen Alltagsaufgaben vernünftig zu regeln, führte zur Bildung eines „Occupy Wall Street“-Sprecherrats. Repräsentanten der vielen Arbeitsgruppen trafen sich nun einmal in der Woche zu einer Sitzung. Durch die Modifizierung der Konsensfindung sollte etwas Kohärenz in das autonome Handeln der Gruppen gebracht werden. Zu jener Zeit war schon eine Kultur einer „Führung wider Willen“ in die Bewegung eingezogen.

Diese Art meritokratischer Ansatz von Führung sieht vielleicht auf den ersten Blick wie eine faire und unparteiliche formelle Führungsstruktur aus, er war jedoch alles andere als fair. Die Anführer wider Willen waren typischerweise weiße, gut ausgebildete Angehörige der oberen Mittelklasse, die es sich leisten konnten, endlose Stunden im Park zu verbringen und Netzwerke zu bilden. Damit nicht genug, waren sie schnell erschöpft. Eine Rotation der Führungspositionen half, dieser Workoholic-Kultur entgegenzuwirken, führte aber zu Instabilität und dem Verlust eines institutionellen Gedächtnisses: Ein Vorteil von formalen, rechenschaftspflichtigen Führungsstrukturen ist die Möglichkeit, längerfristige Pläne und eine gemeinsame Vision zu entwickeln. In dieser problematischen Führungsklasse waren viele marginalisierte Stimmen nicht vertreten, einfach weil sie nicht die Zeit hatten, an endlosen Sitzungen und am Networking teilzunehmen. Ihr eher stilles Charisma und ihr profundes Wissen hatten keine Chance gegen die Ausdauer und Autonomie der „Macher“ der entstehenden De-facto-Führung von „Occupy Wall Street“.

Die Führung verlässt den Zucotti-Park

Das Scheitern der Basisdemokratie ohne Führung wurde in den letzten Wochen des Protestcamps deutlich. Die nachvollziehbare Enttäuschung der Leute über die endlosen Vollversammlungen und Sprecherratstreffen führte nach und nach dazu, dass sich die ehrgeizigsten und engagiertesten Besetzer, die tatsächlichen Anführer von „Occupy Wall Street“, immer mehr aus dem Park zurückzogen und das Machtzentrum an sicherere Orte verlagerten: in Büroräume von Partnern der Bewegung, in Apartments in der Lower East Side und in Bars oder Cafés der Umgebung. Auf diese Weise wurde direkte Demokratie privatisiert und die Rechenschaftsmechanismen der Entscheidungsprozesse wurden weiter untergraben, was sowohl die tägliche Arbeit als auch die langfristige Vision der Bewegung beeinflusste. In diesem Machtvakuum begann sich Misstrauen auszubreiten: Was passierte mit dem Geld von „Occupy Wall Street“? Wer sprach mit den Medien? Wer verhandelte mit dem Büro des Bürgermeisters? Fragen, die eine gewählte Versammlung hätte beantworten können, hatten nun keinen legitimen Adressaten.

Es entstand eine Abwärtsspirale, in der jeder, der Macht über „Occupy Wall Street“ auszuüben schien, verdächtig war, Teil der De-facto-Führungsgruppe zu sein. Da allerdings keine formale Führungsstruktur bestand, gab es keine Anführer, gegen die man sich hätte auflehnen können. Wir waren wie unsere Feinde geworden: destruktiv zueinander und gegenüber niemandem verantwortlich.

Die Unfähigkeit von „Occupy Wall Street“, sich in eine eigenständige starke politische Kraft zu verwandeln, eröffnete der Demokratischen Partei und ihren Ablegern die Möglichkeit, unsere Botschaft zu vereinnahmen. (Notabene: Dies ist nicht ausschließlich negativ; auf diese Weise entsteht häufig Fortschritt in Gesellschaften.) Heute ist „Occupy Wall Street“ nur noch eine leere Hülle seiner ehemaligen Stärke und eher ein diffuses Netzwerk Übriggebliebener statt eine einheitliche Organisation oder Institution.

Führungslosigkeit führt zur Tyrannei, weil Führung ein inhärenter Bestandteil aller menschlichen Interaktionen ist.

Um zu einer eigenständigen politischen und ökonomischen Kraft zu werden, hätte „Occupy Wall Street“ echte, direkte Demokratie umsetzen müssen, indem der partizipatorische Ansatz auf die bestehenden sozialen Strukturen ausgeweitet worden wäre. Viele Ableger von „Occupy“ haben sich tatsächlich bei politischen und ökonomischen Gruppen, Parteien, Gewerkschaften, kommunalen Genossenschaftsbanken, Landwirtschaftskooperativen oder ähnlichem engagiert. So gesehen kann die Bewegung als teilweise erfolgreich betrachtet werden. Als Massenbewegung aber hat sie keine Einheit gebildet – jedenfalls noch nicht.

Führungslosigkeit führt zur Tyrannei, weil Führung ein inhärenter Bestandteil aller menschlichen Interaktionen ist: Wir alle wünschen uns Anführer, die auf uns reagieren. Zu verneinen, dass Führung in einer Gruppe besteht, heißt schlicht abzulehnen, dass es sie überhaupt gibt. Aber diese Ablehnung kommt immer jenen zugute, die ohnehin Macht in der Gesellschaft haben und nicht um Erlaubnis fragen müssen, sie auszuüben.