Deutsche Außenpolitik glänzt durch Abwesenheit. Warum sich das ändern muss und was das mit J. W. Goethe zu tun hat, erklärt Hanns W. Maull.

Mit einem – gefühlt – endlos langen und fast ebenso langweiligen Wahlkampf gönnte sich Deutschland ausführliche Sommerferien von der Weltpolitik. Die Außenpolitik, ja selbst die Europapolitik spielten trotz weiter schwelender Euro-Krise kaum eine Rolle in den politischen Debatten der letzten Monate. Nur gelegentlich drangen, wie im Osterspaziergang in Goethes Faust, fern aus der Türkei (und vor allem aus Syrien) schreckliche Nachrichten zu uns, die uns freilich nicht wirklich aus unserem Wohlbehagen zu rütteln vermochten.

Es wird Zeit, dass Deutschlands Politik sich klarmacht, wie bedrohlich diese vier Herausforderungen für uns selbst und unser eigenes zukünftiges Wohlergehen sind.

Lange dürfte das allerdings nicht mehr gut gehen: Von den vier großen außenpolitischen Herausforderungen, die in den letzten Jahren wie Sturmwolken aus unterschiedlichen Richtungen über den Horizont heraufgezogen sind, ist bestenfalls eine inzwischen einigermaßen ausgestanden: die Euro-Krise, die zugleich auch eine Krise Europas ist. (Schlimmstenfalls allerdings ist auch diese Krise keineswegs überwunden: Vielleicht befindet sich die Eurozone derzeit ja nur im Auge des Hurrikans…). Die anderen drei Gewitterfronten wurden in den letzten Monaten immer größer und bedrohlicher: Der Bürgerkrieg in Syrien und der Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen eine wehrlose Zivilbevölkerung; das Nuklearprogramm Teherans, dessen Risiken auch durch das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in Iran noch keineswegs ausgeräumt sind; und schließlich der zunehmend an Tempo gewinnende Umbruch der Weltpolitik und damit auch der Zerfall der gegenwärtigen internationalen Ordnung.

Es wird Zeit, dass Deutschlands Politik sich klarmacht, wie bedrohlich diese vier Herausforderungen für uns selbst und unser eigenes zukünftiges Wohlergehen sind - und dass sie damit beginnt, sich ihnen ernsthaft zuzuwenden. Beginnen wir mit dem unmittelbarsten und drängendsten Thema, der Eskalation des Bürgerkriegs in Syrien. Bislang hat er uns – trotz aller eskalierender Grausamkeiten und immer größerer Opfer unter den Syrern selbst – nicht ernsthaft in Gefahr oder Bedrängnis gebracht. Ob das so bleiben wird, ist freilich völlig ungewiss: Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass dies längst nicht mehr nur ein Bürgerkrieg zwischen einem brutalen Militärregime und seinen innenpolitischen Gegnern oder auch zwischen unterschiedlichen Konfessionsgruppen und Regionen Syriens ist, sondern auch und vermehrt ein Stellvertreterkrieg, bei dem es um die Zukunft der ganzen Mittelostregion von der Türkei bis zum Jemen, vom Iran bis Nordafrika geht. Gelingt es nicht, die Eskalation der Gewalt in diesem multidimensionalen Kriegsgeschehen in der Levante zurückzudrängen und die Konflikte politisch zu befrieden und zu ordnen, dann würde die sich ausbreitende Gewalt unweigerlich auch auf Europa durchschlagen.

Diese Perspektive auf den Syrien-Konflikt zeigt im Übrigen auch, dass das Problem des iranischen Nuklearprogrammes mit diesem eng verknüpft ist. Auch die Tatsache, dass die Hemmschwelle beim Einsatz von Massenvernichtungswaffen nunmehr im syrischen Bürgerkrieg überschritten wurde, wird Auswirkungen auf die Ambitionen Teherans haben. Wie diese Auswirkungen aussehen werden, ist dabei noch völlig unübersehbar. Die Forderungen nach einer politischen Lösung des syrischen Bürgerkrieges sind deshalb ebenso richtig wie wohlfeil und letztlich vermutlich auch unrealistisch, wenn man sich eingesteht, dass es bei diesem Bürgerkrieg um die Neuordnung der ganzen Region geht. Die deutsche Außenpolitik muss deshalb nun Antworten auf die Frage finden, wie sie zu agieren gedenkt, wenn die politische Beilegung des Bürgerkrieges nicht vorankommt, und sie muss diese Antworten einbetten in einen deutschen, besser noch: in einen europäischen Gesamtansatz der Schadensbegrenzung und Schadenseindämmung.

Führt man die Analyse einen Schritt weiter, so zeigt sich, dass die miteinander verwobenen Herausforderungen des syrischen Bürgerkrieges und der außenpolitischen Ambitionen des Iran ihrerseits verknüpft sind mit dem Umbruch der Weltpolitik insgesamt. Dieser Umbruch ist gekennzeichnet durch einen -- inzwischen dramatischen -- Macht- und Einflussverlust der Vereinigten Staaten, durch den Aufstieg neuer Mächte, insbesondere Chinas, sowie durch eine zunehmende Erosion der gegenwärtigen internationalen Ordnung, weil die alte Führungsmacht Amerika nicht mehr in der Lage und auch nicht mehr willens ist, die Bürden des Ordnungshüters zu tragen, während die sogenannten „neuen Mächte“ (zu denen sich gerne auch Russland zählt) nicht bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Dass die Staatengemeinschaft einen „Zivilisationsbruch“ wie den mehrfachen Einsatz von Chemiewaffen, zuletzt im großen Stil, zu verhindern nicht in der Lage und zu ahnden nur sehr zögerlich bereit ist, weil sie das Risiko scheut, zeigt, dass die Auflösung regionaler Ordnungen in Schlüsselregionen der Weltpolitik, zu denen der Mittlere Osten zweifellos zählt, unweigerlich auch negative Auswirkungen auf die globale Ordnung hat.

In den letzten Jahren schien sich die deutsche Außenpolitik deshalb darauf zurückzuziehen, politische Lösungen anzumahnen und sich ansonsten vornehm zurückzuhalten.

Der Umschlag von politischen hin zu gewaltförmigen Methoden der Konfliktaustragung im Mittleren Osten und die Auflösungserscheinungen der internationalen Ordnung sollten gerade Deutschland alarmieren – denn Deutschland ist unter den größeren Staaten der Welt derjenige, der aus vielen Gründen in besonderem Maße auf eine funktionierende internationale Ordnung angewiesen ist. Deutschlands Möglichkeiten, dem Verfall der gegenwärtigen internationalen Ordnung allein entgegenzuwirken und die Konfliktherde im Mittleren Osten zu entschärfen, sind freilich außerordentlich begrenzt. (Dass Waffenlieferungen, milde gesagt, wenig geeignet sein dürften, dazu beizutragen, sollte offensichtlich sein!) In den letzten Jahren schien sich die deutsche Außenpolitik deshalb darauf zurückzuziehen, politische Lösungen anzumahnen und sich ansonsten vornehm zurückzuhalten. Energisch wurde sie außenpolitisch vor allem dort, wo es um die Interessen der deutschen Exporteure und damit der deutschen Wirtschaft insgesamt ging: in ihrem „strategischen Partnerschaften“ mit den neuen Gestaltungsmächten, zu denen sich Berlin insgeheim natürlich auch selber zählte.

Damit aber sind wir bei der vierten großen Herausforderung: der Krise Europas. Die Antwort Berlins auf diese Krise unter Angela Merkel hieß in der Vergangenheit: Bei uns kann alles beim Alten bleiben.

Vielleicht täte Deutschland ganz gut daran, sich klarzumachen, dass diese neuen Gestaltungsmächte leicht überschätzt werden können. So ist mindestens mit Blick auf die wirtschaftliche Dynamik Indiens, Brasiliens, Russlands, Südafrikas und selbst Chinas inzwischen eine deutliche Ernüchterung eingetreten. Und auch Deutschlands wirtschaftliche Stärke steht auf Dauer auf tönernen Fundamenten, wenn es nicht gelingt, durch erfolgreiche Reformen wichtige strukturelle Voraussetzungen für ihre langfristige Absicherung zu schaffen. Damit aber sind wir bei der vierten großen Herausforderung: der Krise Europas. Die Antwort Berlins auf diese Krise unter Angela Merkel hieß in der Vergangenheit: Bei uns kann alles beim Alten bleiben, wir sind ja schließlich erfolgreich; die weniger erfolgreichen Europäer müssen sich eben anstrengen, so zu werden wie wir: sparsam und wettbewerbsfähig. Das ist als Antwort auf die Krise Europas und selbst auf die Krise der Eurozone allein aber eindeutig zu wenig und auch zu einseitig. Ja, Europa muss zukunftsfähig gemacht werden, aber das sollte als eine Gemeinschaftsaufgabe begriffen werden, nicht nur als eine Aufgabe der anderen.

Aber auch dies ist nicht die eigentliche Herausforderung in der Europapolitik, sondern nur die notwendige Voraussetzung dafür, sie anzupacken. Die eigentliche Herausforderung heißt: Europa als außenpolitischen Akteur handlungs- und weltpolitisch gestaltungsfähig zu machen. Dazu braucht die Europäische Union eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die tatsächlich gemeinsam ist und gemeinsam auftritt – nicht nur gemeinsame Erklärungen abgibt. Gerade in dem Zusammenhang aber hat sich Berlin in den letzten Jahren auffällig zurückgehalten, anstatt entschlossen konstruktive Führungsimpulse zu geben. Wenn wir alle in Europa die heraufziehenden Stürme der Weltpolitik einigermaßen unbeschadet überstehen wollen, dann sollte sich das schleunigst ändern.