Währungskrise, Massenarbeitslosigkeit, Scheinlösungen und Institutionalisierung neuer technokratischer Entscheidungsverfahren... Fundamentalkritik an der EU hat Hochkonjunktur. Haben Sie dafür Verständnis?

Ja und Nein. Die EU ist zu kompliziert, und sie mischt sich immer noch zu oft in Dinge ein, aus denen sie sich besser raushalten sollte. Über die unsinnige Idee einer Olivenkännchen-Verordnung, die die Kommission vorgeschlagen hatte, habe ich mich genauso geärgert wie viele Bürgerinnen und Bürger. Gleichzeitig bekommt die EU aber viel zu oft Prügel für etwas, was die Regierungen entschieden haben. Zu viele Regierungschefs kommunizieren immer noch nach der Methode:  Alles Gute kommt aus den Hauptstädten und für alles Unpopuläre ist die EU verantwortlich. Mit so einer Rhetorik macht man eine grandiose Idee kaputt.

Umfragen belegen: Je länger die Krise dauert, desto mehr Menschen wenden von der europäischen Idee ab. Was ist falsch gelaufen, oder ist dies nur ein Vermittlungsproblem?

Den Ausbruch der Krise haben nicht die EU-Institutionen zu verantworten: Es waren die Mitgliedstaaten, die Schuldenberge aufgetürmt haben. Sie haben die Mahnung der EU zur Haushaltsdisziplin und Reformnotwendigkeit beiseite gewischt, wenn es ihnen gefiel.

Viele Menschen haben momentan den Eindruck: Für die Rettung der Banken ist genug Geld da, aber es gibt kein Geld, um die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen.

Aber mittels einer verstärkten Kontrolle der Banken und der Einführung der Finanztransaktionssteuer wird die EU einen Anteil bei der Krisenbewältigung leisten. Wichtig ist zudem, dass wir die Politik der Haushaltskonsolidierung ergänzen, indem wir Wachstums- und Beschäftigungsimpulse setzen, weil nur so die Schuldenspirale durchbrochen werden kann. Wenn das geschieht, kehrt auch wieder Hoffnung zurück. Viele Menschen haben momentan den Eindruck: Für die Rettung der Banken ist genug Geld da, aber es gibt kein Geld, um die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Das ist für den reichsten Kontinent der Welt eine fatale Politik.

In Ihrem in diesem Frühjahr erschienenen Buch "Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance" entwerfen Sie vier Szenarien für das Scheitern Europas. Steht es so schlimm um den Integrationsprozess?

Wim Wenders hat mir einmal gesagt, dass die meisten Menschen die EU nicht mehr mit der Idee der grenzüberschreitenden friedlichen Zusammenarbeit verbinden, sondern dass sie mittlerweile eine bürokratische EU-Verwaltung für die europäische Idee halten. Deshalb gewinnen in vielen Mitgliedstaaten radikale Parteien an Einfluss, die die Rückkehr ins Nationale propagieren und die die EU als Schuldige für Fehlentwicklungen brandmarken. Das nehme ich sehr ernst. Denn wenn die Menschen sich von einer Idee abwenden, dann ist sie zum Scheitern verurteilt. Deshalb mache ich mir in der Tat Sorgen.

In Ihrem Buch plädieren Sie nicht zuletzt für die Verteidigung und Stärkung eines "europäischen Gesellschaftsmodells". Wie sieht dieses Modell aus? Und wie überzeugen Sie die Bürgerinnen und Bürger mitten in der Krise von mehr Europa?

Das europäische Gesellschaftsmodell ist ein werte-fundiertes. Gerade wegen unseren historischen Erfahrungen wollen die meisten Europäer ein tolerantes Miteinander und sie empfinden kulturelle Unterschiede als Bereicherung.

Schaffen wir eine funktionierende transnationale Demokratie mit einem wirkungsvollen europäischen Parlamentarismus? Schaffen wir es, einen entfesselten Raubtierkapitalismus wieder zu zähmen?

In der EU ist die Todesstrafe verboten. Es gibt das Verbot der Folter. Es gibt Pressefreiheit. Wir haben eine soziale Absicherung, die global ihresgleichen sucht. Die Grundrechte, auch die sozialen, sind einklagbar. Dieses Modell unterscheidet sich sehr von den Modellen in anderen Weltregionen, auch wenn wir selbst leider dazu neigen, die Unterschiede mehr zu betonen als die Gemeinsamkeiten. Der amerikanische Vordenker Jeremy Rifkin hat das alles einmal einen „europäischen Traum“ genannt. Daran sollten wir uns manchmal erinnern.

Die wirtschaftlichen und sozialen Differenzen in Europa haben auch innerhalb der sozialdemokratischen Parteifamilie unterschiedliche Antworten auf gemeinsame Herausforderungen zur Folge. Welche gemeinsamen Antworten sind mit Blick auf die Europawahlen 2014 zu erwarten?

Es wird um die Frage gehen, ob wir das eben beschriebene Gesellschaftsmodell verteidigen, auch im Globalisierungsdruck. Schaffen wir eine funktionierende transnationale Demokratie mit einem wirkungsvollen europäischen Parlamentarismus? Schaffen wir es, einen entfesselten Raubtierkapitalismus wieder zu zähmen? Können wir gute Jobs in Europa schaffen und dadurch der kommenden Generation eine Perspektive geben? Können wir Steuerdumping bekämpfen? Nimmt die EU ihre Rolle als Vorreiterin bei der Klimapolitik wieder ernst? Reformieren wir die EU so, dass die Menschen sie wieder schätzen lernen? Das sind einige Fragen, die wir im Wahlkampf diskutieren werden und auf die die Sozialdemokraten in Europa die besseren Antworten haben.

 

Die Fragen stellten Michael Bröning und Björn Hacker.