Die Stimmen sind ausgezählt, und es zeigt sich, dass die Entscheidung für den Brexit als ein Erfolg der britischen Boulevardpresse zu verbuchen ist. In der Woche vor dem Referendum schien für den Außenstehenden ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Befürwortern und Gegnern eines Brexits zu herrschen: Die „Daily Mail“ war für den Verbleib in der EU, die „Mail on Sunday“ für den Austritt, die „Sunday Times“ wollte austreten, die „Times“ nicht, die „Sun“ war für raus, der „Mirror“ für drinbleiben.
Diese eindeutigen Positionen spiegelten aber keineswegs den wahren Einfluss der einzelnen Zeitungen wider, in denen im Vorfeld des Referendums tausende von Artikeln über das Für und Wider eines Austritts erschienen. Eine Untersuchung der Loughborough University ergab, dass in 41 Prozent aller Artikel der Verbleib in der EU und in 59 Prozent der Austritt propagiert wurde. Hinzu kam, dass die für den Brexit eintretenden Zeitungen eine wesentlich größere Leserschaft haben als die für den Verbleib argumentierenden: Geht man nach der Auflage der Zeitungen, sank der Medienanteil der Brexit-Gegner auf 18 Prozent gegenüber einem 82-prozentigen Medienanteil der Austrittsbefürworter.
Die Reichweite der den Brexit befürwortenden Zeitungen lag bei 82 Prozent.
Nur wenige Stunden nach dem offiziellen Endergebnis distanzierten sich führende Vertreter der „Leave“-Kampagne von ihren utopischeren Forderungen: Nigel Farage nahm seine Behauptung zurück, Großbritannien würde jede Woche 350 Millionen Pfund an die EU überweisen, die besser in den staatlichen Gesundheitsdienst NHS investiert würden. Daniel Hannan räumte ein, dass der Austritt aus der EU nicht dazu führen würde, dass Großbritannien die Kontrolle über seine Grenzen zurückerhalten würde. Diese Behauptungen sind von einer Boulevardpresse, die ihre Verantwortung, ihre Leserinnen und Leser zu informieren, komplett abgegeben hat, nie im ausreichenden Maße hinterfragt worden, sondern umgehend akzeptiert und in den Umlauf gebracht worden. Aber das war noch nicht das Schlimmste.
Am 16. Juni 2016 wurde die 41-jährige Parlamentsabgeordnete Jo Cox vor ihrem Wahlkreisbüro in Yorkshire von einem Mann namens Tommy Mair ermordet. Der Mörder benutzte eine selbstgebaute Waffe und schrie während der Tat Parolen wie „Britain first“ (Großbritannien zuerst). Die Anleitung für den Bau der Waffe hatte er von der National Alliance, einer rechtsextremen Gruppierung in den USA. Er war seit zehn Jahren Abonnent des neo-nazistischen Webmagazins „Springbok“ und des „SA Patriot“, einer südafrikanischen Zeitschrift, die sich für die Apartheid ausspricht. Als Eiferer für die Vorherrschaft der weißen Rasse war er eher ein Aktivposten als ein bloßer Mitläufer – mit paradoxen internationalistischen Interessen, die von der Auslöschung der Juden bis hin zur Unterjochung der Farbigen in aller Welt reichen.
Am Morgen nach dem Mord drängte der Leitartikel des politisch rechts einzuordnenden Boulevardblatts „Sun“, das sich Anfang der Woche entschieden für den Brexit stark gemacht hatte, seine Leserinnen und Leser und die Nation, die Tragödie aus Respekt vor der Toten nicht politisch zu instrumentalisieren. Sowohl die „Daily Mail“ als auch der „Telegraph“ bezeichneten Mair als „einen Einzelgänger“, der schon früher unter psychischen Störungen gelitten habe. Die „Daily Mail“ ist im Übrigen die rechtsgerichtete Publikation für den Normalverbraucher. In ihrer Ausgabe vom 16. Juni waren auf der Titelseite Migranten abgebildet, die mit den Worten „Wir sind Europäer, lasst uns rein“ nach Großbritannien einreisen wollten. Ein Tag später folgte in wesentlich kleinerer Schrift die Erklärung, dass die abgebildeten Migranten in Wahrheit Iraker seien. Diese Zeitung ist unerbittlich in ihrer ausländerfeindlichen Rhetorik; zehn bis zwölf unterschiedliche Artikel in einer Ausgabe sind keine Seltenheit: Berichte über betrügerische Migranten, Migranten, die von Sozialhilfe leben, kriminell gewordene Migranten, Migranten, die die Schwächen des Systems ausnutzen, oder auch immer wieder der Hinweis auf die unheilvolle Schwemme zu vieler Migranten.
„Die neue Flut an Migranten ist nicht aufzuhalten“, titelte der „Express“.
Eine weitere Boulevardzeitung ist der „Express“, der aber häufig unbeachtet bleibt, weil er aufgrund seiner schlechten Berichterstattung von ohnehin nur Schundthemen kaum Leser hat. Auf dieser Zeitung prangen immer wieder Schlagzeilen wie „Migrantenmütter kosten das Gesundheitssystem 1,3 Mrd. Pfund“, „Illegale Einwanderer überfluten die EU“, „Migranten strömen weiterhin in die EU“, „Raus mit den ausländischen Betrügern“, „Die neue Flut an Migranten ist nicht aufzuhalten“, „2 Mio. Migranten nehmen uns die Jobs weg“, „Die Zahl der Einwanderer aus der EU steigt wieder“, „Migrantenkrise am Kanal“, „Kostenexplosion bei der Beschulung von Migrantenkindern“. Dies ist nur eine kleine Auswahl, um einen Eindruck zu vermitteln; die Aufzählung könnte ewig so weitergehen.
Vor zwei Jahren berichtete die „Daily Mail“, ein bekannter britischer Sandwich-Hersteller würde Arbeitskräfte aus EU-Ländern beschäftigen. Die Schlagzeile lautete: „Können die Briten keine Sandwiches mehr machen?“. Die weltoffenere Leserschaft griff diese Frage in den sozialen Medien auf, wo eine ganze Reihe Bilder lustiger Sandwiches zu sehen war: ein Exemplar von „Krieg und Frieden“ zwischen zwei Bissen Sauerteig, eine Zitrone und ein Tafelmesser in einem Baguette. Ich selbst verbrachte einige amüsante Minuten damit, den Kopf meines Hundes zwischen zwei Toastscheiben zu klemmen. Damals schien das alles urkomisch. Jetzt ist es überhaupt nicht mehr lustig. Auf einen terroristischen Anschlag folgte ein Akt des Vandalismus gegen den britischen Staat.
Ein Großteil der britischen Medien wollte nicht wahrhaben, dass Jo Cox' Mord ein rassistisch motiviertes Verbrechen war.
Ein Großteil der britischen Medien wollte nicht wahrhaben, dass Jo Cox' Mord ein rassistisch motiviertes Verbrechen war, nachdem die Medien selbst immer wieder den Rassenhass gepredigt hatten. Aber genau das passierte: Eine Frau, die sich für Flüchtlinge einsetzte, die sich deutlich zu Europa bekannte und ihr Leben lang für eine humanitäre Politik kämpfte, wurde von einem Mann ermordet, der ihre politischen Ansichten hasste. Diesen Zusammenhang zu ignorieren, weil der Mann ein Einzelgänger mit psychischen Störungen war, ist schlicht wirklichkeitsfremd. Wurde je ein Terrorakt von einer geistig gesunden Person verübt? Dennoch klammern die Medien sich an diese Fantasterei, weil die Alternative darin bestünde, zuzugeben, dass die britische Gesellschaft durch ihre eigenen Medien brutalisiert wurde und wird. Abgesehen von den Anschlägen der IRA ist Jo Cox seit 1812 die erste Politikerin, die in Großbritannien einem Mord zum Opfer fiel.
Die Boulevardpresse war bekanntermaßen nie sonderlich zurückhaltend oder gemäßigt, aber die Verrohung war in den Wochen vor dem Referendum an einem neuen Tiefpunkt gelangt und spiegelt das Scheitern auf der politischen Ebene wider. Die Argumentation für einen Austritt der Briten aus der EU stand auf tönernen Füßen und war rein hypothetisch. Sie dreht sich um die Idee, die Souveränität von Institutionen zurückzugewinnen, von denen nie eine echte Bedrohung für die britische Selbstbestimmung ausging. Wirtschaftliche Argumente für einen Austritt verpufften völlig: Die häufig ohnehin übertriebenen Zahlen, was die EU-Mitgliedschaft die Briten koste, wurden sofort schlüssig widerlegt. Die für den Verbleib eintretenden Politiker taten sich zwar schwer, positive emotionale Argumente für eine internationale Zusammenarbeit zu finden, hatten aber keinerlei Probleme, wirtschaftliche Argumente für den Binnenmarkt vorzutragen. Es erwies sich, dass die Souveränität in der Gesetzgebung, die angeblich durch die europäischen Gerichte so bedroht war, weitgehend nicht angetastet wurde – abgesehen von einigen wenigen Fällen, die kompliziert zu erklären, aber letztlich völlig belanglos waren.
Einwanderung war die vorgeschobene Erklärung für alle Ängste und Sorgen der Bevölkerung.
Grenzen sind dagegen eine klare Angelegenheit – sie sind entweder offen oder geschlossen. Und die Einwanderung war die vorgeschobene Erklärung für eine ganze Reihe anderer Probleme, genauer gesagt für alle Ängste und Sorgen der Bevölkerung: von der Wohnungsknappheit über die stagnierenden Löhne, die mangelhaften öffentlichen Dienste bis hin zur Flüchtlingskrise und der Bedrohung durch den „Islamischen Staat“. Die Beantwortung der anstehenden Fragen darf nicht der Skandalpresse überlassen werden. Diese Zeitungen vereinfachen immer zu stark, dämonisieren das Fremde und beharren darauf, dass es direkte Verursacher der Bedingungen gäbe, die in Wahrheit auf eine Vielzahl systemischer und sich überschneidender Trends zurückzuführen sind. Und sie nutzen jede Gelegenheit, um Wut und Feindseligkeit zu schüren.
Die Fragen sollten vielmehr in den seriösen Qualitätszeitungen rechts und links der Mitte behandelt werden, die ihre Argumentation in der Regel um das kreisen lassen, was vernünftig, plausibel, angemessen und menschlich ist. Aber auch hier gehen die Meinungen auseinander: Unter den linken Kommentatoren rückten viele aus anderen Gründen von der EU ab: Sie sei zu technokratisch, nicht transparent genug, habe ihre hehren Ziele und Vorsätze aus den Augen verloren und ließe sich in ihrer Verwirrung von Unternehmensinteressen dominieren.
Auch die überzeugtesten Pro-Europäer der politischen Linken kamen nicht umhin, in dieser Argumentation ein Körnchen Wahrheit zu finden. Sie selbst konnten nie genug Leidenschaft für das europäische Projekt entwickeln, bis es unmittelbar bedroht war. Der Kampfgeist der sich für einen Verbleib in der EU stark machenden Medien der Mitte wurde durch eine eher pragmatische Haltung gedämpft und kam durch die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Konservativen Partei weiter ins Stocken, die sicherlich für die Loyalisten, die EU-Gegner, faszinierend sind, aber langfristig erschreckend irrelevant erscheinen werden.
Es wurde umfassend erforscht, ob Zeitungen überhaupt das Wahlverhalten von Menschen beeinflussen können: Die Antwort lautete jedes Mal „nein“. Bei einer nationalen Wahl können sie lediglich die Meinungsverschiedenheiten innerhalb einer Partei kleinreden oder aufblähen, was natürlich die öffentliche Wahrnehmung von der Regierungsfähigkeit der Partei beeinflusst. All das half allerdings bei diesem Referendum nicht weiter. Allein die Tatsache, dass es überhaupt stattfand, spiegelt so grundlegende Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Konservativen Partei wider, dass diese gar nicht heruntergespielt oder übertrieben dargestellt werden konnten.
Der Erfolg der Brexit-Kampagne zeigt, dass bei ungewöhnlichen Umständen, wie es ein Referendum ist, der Einfluss der Presse doch entscheidend sein kann.
5 Leserbriefe
"Patriotismus ist nicht gleich Nationalismus. Es wird Zeit, dass die Linke das begreift."
Man hat das seitens der Linken und Intellektuellen im Vereinigten Königreich nicht begriffen. Und nicht nur dort nicht.
Das Vereinigte Königreich trat schon aus wirtschafts- und währungspolitischer Vernunft nicht dem €-Währungsraum bei, ebensowenig aus anderen Gründen dem Schengen-Abkommen.
Die Bürger der EU-Länder haben ihre Regierungen und Parlamente nie beauftragt, eine EU der kommunizierenden Röhren zu schaffen. In einem solchen System schlagen alle nicht mit anderen Staaten abgesprochenen nationalen Entscheidungen auf die anderen Länder durch und diese können es kaum oder nicht verhindern.
Merkels und Renzis Politik der offenen Grenzen war und ist das Problem.
"Merkels Politik der offenen Grenzen war und ist das Problem".
Schön einfach, aber völlig daneben.
Wenn UK über Einwanderer spricht, dann geht es nicht um die "Merkelschen" Syrer/Afrikaner in 2015 - die kamen nie über den Kanal. UK hat viele Asiaten viel früher (Ende des Commonwealth) aufgenommen und dann hat das UK weit vor 2015 - als die Osteuropäer in die EU kamen - einen Strom von Osteuropäern aus der EU aufgenommen. Damals hat Deutschland relativ strikte Übergangsregeln gehabt und war dank dieser deutschen Übergangsregeln von diesem Zustrom weitgehend verschont.
Und das gilt leider auch weit über unseren gemeindlichen Horizont hinaus! - Th. Sarrazins Buch hätte man besser doch lesen sollen! Unsere vermeintlich seriöse überregionale Zeitung verriß es und da ersparten wir es uns. Dann stand dort aber doch die Rezension des Buches einer deutschen Polizeikommissarin griechischer Abstammung (Tania Kambouri: Deutschland im Blaulicht). Gekauft und gelesen! Schlimm! Hatte man gedacht, daß sich so etwas nur in der Banlieue abspiele – fern im Ausland – weiß man nun, daß in unserem Land dort, wo Multikulti-Politiker lange das Sagen hatten, ähnlich schlimme Zustände herrschen, ohne daß die heute politisch Verantwortlichen dem mit Ernsthaftigkeit abzuhelfen versuchen. Die Kölner Domplatte und das Bestreben, die dortigen Ereignisse zu vertuschen machen das deutlich. Wen wundert’s dann, daß AfD und Pegida immer mehr Zulauf haben und die etablierten Parteien nicht mehr genug Wähler finden, um handlungsfähige Regierungen zu generieren!