Die Europäische Union muss sich neu finden. Das Ergebnis des Referendums macht klar: Ohne Großbritannien kann das Projekt der Einigung Europas auf mittlere Sicht neue Stärke gewinnen. Wenn das Vereinigte Königreich nach seinem Verlassen in eine andere, demnächst stärker vereinigte EU wieder zurückkommen will, wird die Tür geöffnet werden, die am 23. Juni 2016 jenseits des Ärmelkanals zugeschlagen wurde. Denn es bleibt dabei: Mit Großbritannien ist die EU ein Schwergewicht, das seine Fähigkeiten besser in die Waagschale werfen kann, damit überzeugender an den Ursachen gearbeitet werden kann, die einen erheblichen Teil der Brexit-Befürworter an die Urnen getrieben hat.

Mit einem dreifachen Aufschrei hat die Wählerschaft auf ihre Sorgen und Ängste aufmerksam gemacht:

Soziale Verlierer wehren sich gegen den Abstieg. Klassische Wählergruppen von Labour haben sich dem links- wie rechtspopulistischen „Nein“ angeschlossen und die EU mit Neoliberalismus verwechselt.

Kulturelle Traditionalisten verschließen sich gegen die Chancen einer wachsenden kulturellen Verschiedenheit und treten zunehmend fremdenfeindlich auf.

Ländliche Regionalisten protestieren gegen die Trends einer Urbanisierung, die häufig auch ärmer werdenden Bevölkerungsschichten kaum noch Entfaltungsmöglichkeiten bietet.

Von sozialer Angst erfasste Bürgerinnen und Bürger haben ein Ventil genutzt, das ihnen von Ideologen aufgedrängt worden war: Der Feind ist die Europäische Union. Und das Ablenkungsmanöver hat funktioniert. Donald Trump dröhnte denn auch bei seinem Kurzbesuch in seinen schottischen Ländereien, das „Nein“ zur EU bedeute, dass die Neinsager „sich das Land wiederholen“. Der republikanische Bewerber um die US-Präsidentschaft sieht eine Parallele zwischen seiner Abscheu gegen mexikanische Zuwanderer und der von der UK Independence Party (UKIP) geschürten Fremdenangst.

Wohin wird das „Nein“ Großbritannien führen? Die Ankündigung von Nicola Sturgeon, Erste Ministerin Schottlands, lässt aufhorchen. Für sie ist es eine Frage der schottischen Souveränität, sich gegen die Entscheidung der Mehrheit aufzulehnen und für den Verbleib Schottlands in der EU zu streiten. Die Klüfte, die sich in den Monaten vor dem Referendum aufgetan haben, werden sich eher vertiefen. Wie vereinigt das Vereinigte Königreich bleiben kann, ist zu einer existentiellen Frage geworden. Die auseinandertreibende politische Dynamik hat einen sich selbst beschleunigenden Impuls erfahren.

Die EU und Großbritannien werden in einen offenen Verhandlungsprozess eintreten, an dessen Ende der Austritt steht.

Wie soll die Europäische Union darauf reagieren? Die Regeln des Vertrags von Lissabon sind klar. Auch Boris Johnson muss sich daran halten. Wer den Brexit durchgesetzt hat, wird die Folgen seines Handelns anzunehmen haben. Beide Seiten, die EU wie Großbritannien, werden in einen offenen Verhandlungsprozess eintreten, an dessen Ende der Austritt steht. Es wäre klug, wenn Großbritannien dabei keine Sonderkonditionen erhält. Ansonsten werden Populisten im Rest Europas ermuntert, ihren Hass gegen die EU zu verstärken.

Die wichtigste Antwort der Europäischen Union jedoch sollte sein, die Weckrufe des Referendums ernst zu nehmen. Es gilt, die negative Integration in positive Integration umzuwandeln. Die Möglichkeiten, die der Vertrag von Lissabon bietet, sollten zielstrebig genutzt werden, damit aus der Europäischen Union endlich eine politische Union wird und dabei zugleich ihre demokratische Legitimationsbasis vertieft und erweitert wird.

Eine aktive transnationale Bürgerschaft wird sich als Kern einer in der EU verankerten „European Citizenship“ herausbilden.

Durch Reformschritte werden aktive Gruppen der europäischen Öffentlichkeit ermutigt, sich an der Realisierung einer in offenen politischen Debatten zu entwickelnden Reformagenda zu beteiligen. Eine aktive transnationale Bürgerschaft wird sich als Kern einer in der EU verankerten „European Citizenship“ herausbilden. Sie wird europaweit die EU als mehrstufiges Friedensprojekt von innen und von unten tragen. Zwischen ihren Mitgliedern hat die EU zunächst den äußeren Frieden gestiftet. Damit hat sie die endlos scheinende Kette von Gewalt, die sich mörderisch durch die Geschichte unseres Kontinents zieht, auf Dauer unterbrochen. Allein dies rechtfertigt die Existenz der EU als historisch überzeugende Antwort auf kriegerische Gefahren. Gelingt es der EU darüber hinaus, die gleichfalls existenzbedrohenden Gefahren eines den sozialen Zusammenhalt zerstörenden Globalismus mit der Praxis einer humanen Globalisierung umzugestalten, dann kann aus der Europäischen Union werden, was ihre Bestimmung ist: eine Region des inneren Friedens, in der Freiheit und Gerechtigkeit in Solidarität eine feste Heimat haben.