Der Aufstieg Chinas wird auch in Indien kritisch verfolgt. China genießt heute in der internationalen Politik die Anerkennung als Großmacht, die indische Politiker seit der Unabhängigkeit 1947 auch für ihr Land beansprucht haben. Damals galten Indien und China noch als Entwicklungsmodelle für die neuen Staaten in Asien und Afrika. Der erste indische Premierminister Jawaharlal Nehru setzte sich in den 1950er Jahren für eine engere Zusammenarbeit mit China ein, um das Land aus seiner internationalen Isolation zu befreien. 1954 verständigten sich beide Staaten auf die fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz (Panchsheel). Doch spätestens mit der Niederlage im Grenzkrieg gegen China 1962 zerplatzten die hochfahrenden Träume indischer Außenpolitik von einer engeren Zusammenarbeit mit China. Das bilaterale Verhältnis ist seitdem von Konflikt, Konkurrenz aber auch von Kooperation geprägt.
Grenzwertig: Der Konflikt mit China
Das größte bilaterale Problem stellt bis heute die ungelöste Grenzfrage dar. Im Zuge der Wiederaufnahme ihrer politischen Beziehungen Ende der 1980er Jahre richteten beide Seiten eine gemeinsame Arbeitsgruppe (Joint Working Group) zur Klärung der Grenzfrage ein. Während Indien die „koloniale“ McMahon-Linie als Grenze betrachtet, erstrecken sich die territorialen Ansprüche Chinas bis an den Südhang des Himalayas. Dies führt vor allem im Nordosten Indiens zu Problemen. So legte China 2011 bei der Asia Development Bank Einspruch gegen ein Staudammprojekt im indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh ein, der als chinesisches Territorium beansprucht wird.
Neu-Delhi hat bislang eine klare Positionierung in den Territorialkonflikten zwischen China und seinen Nachbarn in Ost- und Südostasien vermieden.
Durch Abkommen 1993 und 1996 wurden die vertrauensbildenden Maßnahmen verbessert, doch kommt es entlang der Line of Actual Control (LAC) immer wieder zu (gewaltlosen) Zwischenfällen wie zuletzt in Ladakh 2013. Mit dem im Oktober 2013 unterzeichneten Border Defence Cooperation Agreement (BDCA) unternehmen beide Seiten neue Anstrengungen, um Grenzzwischenfälle zu verringern und das bilaterale Verhältnis zu entspannen.
Gleichwertig: Das Kopf-an-Kopf Rennen in der Region
Im Zuge ihrer wirtschaftlichen Modernisierung begegnen sich Indien und China auch zunehmend als Konkurrenten auf der internationalen Bühne. Im Wettbewerb um den Zugang zu Rohstoffen haben die staatlichen chinesischen Energieunternehmen oft mehr finanzielle Möglichkeiten als ihre indischen Konkurrenten, die in diesem Wettlauf deshalb oft nur zweiter Sieger sind.
China hat in den letzten Jahren sein Engagement zu den Nachbarstaaten Indiens in Südasien deutlich ausgebaut. Die Regierungen in Islamabad, Colombo und Dhaka haben immer wieder die „chinesische Karte“ in ihren Konflikten mit Indien gespielt.
Auch beim Ringen um politischen Einfluss tut sich Indien aufgrund knapper Ressourcen und einer fehlenden Politik oft schwer. China hat in den letzten Jahren sein Engagement zu den Nachbarstaaten Indiens in Südasien deutlich ausgebaut. Die Regierungen in Islamabad, Colombo und Dhaka haben immer wieder die „chinesische Karte“ in ihren Konflikten mit Indien gespielt. Die „Perlenkette“ (String of Pearls) von Hafenanlagen, die mit chinesischer Unterstützung in Myanmar, Bangladesch, Sri Lanka und Pakistan ausgebaut wurden, muten aus Sicht indischer Sicherheitsexperten als potentielle Einkreisung Indiens an. Die Regierung in Peking stellt hingegen wirtschaftliche Interessen in den Vordergrund, da diese neuen Zugangswege nach China langfristig die traditionelle Abhängigkeit von der Malakka-Straße verringern.
Im Gegenzug hat Indien seine Beziehungen zu den Staaten Ost- und Südostasiens seit der wirtschaftspolitischen Liberalisierung 1991 im Rahmen seiner „Look East Politik“ ausgeweitet. Neben den wirtschaftlichen Erwägungen haben die Staaten in Südostasien auch ein politisches Interesse an einer engeren Kooperation mit Indien, das sie als Gegengewicht zu China sehen. Allerdings hat Neu-Delhi bislang eine klare Positionierung in den Territorialkonflikten zwischen China und seinen Nachbarn in Ost- und Südostasien vermieden.
Von Seiten der USA und Japans gab es verschiedene Initiativen, um die Zusammenarbeit der demokratischen Staaten in Asien auszubauen, was sich indirekt gegen China richtet. Indien hat zwar seine politischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen zu den USA und Japan deutlich intensiviert, doch findet eine solche ideologische Positionierung der Außenpolitik in Neu-Delhi wenig Rückhalt.
Hochwertig: Schnittmengen und Zusammenarbeit mit China
Indien und China haben seit den 1990er Jahren auch ihre bilaterale Zusammenarbeit verstärkt. Am deutlichsten ist die Kooperation in Wirtschaftsfragen. Beide Staaten streben für 2015 ein Handelsvolumen von 100 Milliarden US-Dollar an, was eine Vervierfachung der Werte seit 2006 bedeutet. Indien exportiert vor allem Rohstoffe nach China und weist seit Jahren ein Handelsbilanzdefizit mit China auf. Trotz der ungelösten Grenzfrage haben beide Staaten auch sicherheitspolitische Gemeinsamkeiten entwickelt, z.B. der Kampf gegen militante islamistische Gruppen und die Durchführung gemeinsamer militärischer Übungen. Bei der sensiblen Frage der Wassernutzung des Brahmaputra/Yarlung Zangbo Flusses, der in Tibet entspringt, bahnt sich ebenfalls eine Annäherung an. Im Januar 2013 kündigte China den Bau von drei neuen Wasserkraftwerken im mittleren Abschnitt des Flusses an und erklärte sich bereit, die flussabwärts liegenden Anrainerstaaten zu konsultieren. Mittlerweile haben Indien und China eine Arbeitsgruppe eingerichtet, in der sie Informationen über die Wassernutzung von gemeinsamen Flüssen austauschen.
Die Regierungen in Peking und Neu-Delhi teilen auch die Einschätzung einer multipolaren Welt, die sich indirekt gegen die Vormachtstellung der USA richtet. Beide Staaten suchen im Rahmen von Gruppierungen wie BRICS nach neuen Möglichkeiten einer von den westlichen Industriestaaten unabhängigen, gemeinsamen Politik.
Auf beiden Seiten dominieren die nationalen Entwicklungsimperative, die das bilaterale Verhältnis bestimmen werden.
Indien und China betonen in internationalen Institutionen stets ihre nationale Souveränität und stehen deshalb westlichen Debatten über humanitäre Interventionen oder Responsibility to Protect (R2P) wie sie im Hinblick auf die Krisenherde Libyen und Syrien geführt werden, kritisch gegenüber. Im Kontext internationaler Umweltverhandlungen arbeiten beide Staaten immer wieder zusammen, denn die nationalen Entwicklungsinteressen haben für Neu-Delhi und Peking eine klare Priorität gegenüber globalen Klimaschutzerwägungen.
China Fear oder China Fever?
Es spricht wenig für furchteinflößende Szenarien eines unausweichlichen Konflikts zwischen den beiden asiatischen Giganten oder für romantisierende Vorstellungen einer wachsenden Zusammenarbeit wie sie im Konzept von „Chindia“ Ausdruck finden. Auf beiden Seiten dominieren die nationalen Entwicklungsimperative, die das bilaterale Verhältnis bestimmen werden. Das China Fever, das in Indien im Potential der wirtschaftlichen Beziehungen zur Volksrepublik gesehen wird, steht im Wettstreit mit der China Fear, die sich aus dem Misstrauen sicherheitspolitischer Kreise gegenüber den langfristigen Ambitionen des übermächtigen Nachbarn speist. Konflikt und Konkurrenz werden deshalb auch weiterhin ebenso zum außenpolitischen Handlungsrepertoire auf beiden Seiten gehören wie Kooperation und Kompromiss.
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