Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.
Die Corona-Demos werden oft als rechtsradikal und von Querdenkern dominiert dargestellt. In einer neuen Studie hat das Wissenschaftszentrum Berlin die Proteste empirisch untersucht. Wie groß ist die Unterstützung für den Corona-Protest in der Bevölkerung?
Der Blick auf das Protestgeschehen und die Medienberichterstattung im letzten Jahr in Deutschland legt nahe, dass eine kritische Masse von Bürgerinnen und Bürger gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gegangen ist. In unserer Studie zeigt sich, dass jeder zehnte Befragte bereit wäre, sich an den Protesten zu beteiligen und jeder fünfte viel oder sehr viel Verständnis für die Proteste hat. Darüber hinaus gibt es weitere 20 Prozent, die zumindest etwas Verständnis für die Proteste mitbringen. Das heißt, auch wenn der Großteil der Bevölkerung die Maßnahmen der Regierung unterstützt, gibt es doch eine Minderheit, die nicht zu unterschätzen ist und die zum Protest gegen die Maßnahmen bereit wäre.
Sie kommen zu dem Ergebnis, dass der Corona-Protest ein „erhebliches Mobilisierungspotenzial“ besitzt. Was heißt das konkret?
Uns interessiert hier das Potenzial für Mobilisierung in der Bevölkerung. Es gibt andere Studien von Forscherinnen und Forschern, die auf Demonstrationen gegangen sind und dort die Teilnehmer direkt befragt haben, was ein wichtiges wissenschaftliches Unterfangen ist, um herauszufinden, welche Leute auf die Straße gehen. Das Mobilisierungspotenzial geht über die tatsächlichen Teilnehmer hinaus, wir fragen daher: Wer sind die Menschen, die prinzipiell zur Teilnahme bereit wären? Und wer hat Verständnis für die Proteste? Das gibt uns eine bessere wissenschaftliche Einschätzung, wie sich diese Proteste weiter entwickeln könnten. Wer jetzt Verständnis für die Proteste zeigt, könnte zukünftig auch aktiv auf die Straße gehen.
Wie sieht das Unterstützerfeld des Corona-Protests aus? Was vereint die Leute, die skeptisch gegenüber den Corona-Maßnahmen sind?
Unsere Analysen zeigen, dass das Feld relativ heterogen ist und sich im Fluss befindet. Wir können keine bestimmte sozio-demografische Gruppe ausmachen, die dort wirklich auf der Straße dominiert. Wir können jedoch bestimmte demografische Faktoren feststellen. Es sind potenziell mehr Männer und potenziell jüngere Leute, die Verständnis für die Proteste haben. Die ökonomische Betroffenheit durch die Corona-Maßnahmen spielt natürlich auch eine Rolle.
Wenn man sich die parteipolitische Aufteilung der Protestversteher anschaut, dann sind die Anhänger der AfD überrepräsentiert.
Eindeutiger wird es aber, wenn man die politischen Einstellungen der Befürworter in den Blick nimmt. Die extremen Ränder sind definitiv überrepräsentiert. Wenn man sich die parteipolitische Aufteilung der Protestversteher anschaut, dann sind die Anhänger der AfD überrepräsentiert und machen gute 25 Prozent der Protestversteher aus. Auch Menschen, die der FDP und der Linken nahestehen, zeigen ein größeres Verständnis für die Proteste. Nominell besteht aber die größte Gruppe, die Verständnis für die Corona-Proteste hat, aus denjenigen, die sich selbst zur politischen Mitte zählen, jedoch keiner etablierten Partei zugehörig fühlen. Diese sogenannte „vernachlässigte Mitte“ macht einen erheblichen Teil der Protestversteher aus. Weitere vereinigende Merkmale sind ein starkes Misstrauen gegenüber der Bundesregierung sowie die Sorge um die Freiheitseinschränkungen durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie.
Inwieweit hat sich die Zusammensetzung der Proteste vom Beginn der Pandemie bis heute verändert?
Interessant ist, dass zum Beginn der Pandemie, die Tatsache, ob Leute Kinder hatten oder nicht, ein Erklärungsfaktor war. Damals hatten Leute mit kleinen Kindern zu Hause mehr Verständnis für die Proteste, aber das hat im Laufe der Zeit mit der Entwicklung der Protestbewegung abgenommen. Wir sehen auch, dass der Anteil der Protestversteher, der sich der radikalen Linken zuordnet, über die Zeit abnimmt, wohingegen der Anteil, der sich der radikalen Rechten zugehörig fühlt, zunimmt. Die Drift nach rechts, über die man in der medialen Berichterstattung immer wieder lesen kann, findet also tatsächlich statt. Auch in anderen europäischen Ländern zeigt sich, dass die extreme Rechte in den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen stark vertreten ist.
Wie sehr polarisieren die Corona-Maßnahmen die Gesellschaft? Droht die Abspaltung eines signifikanten Teils der Bevölkerung?
Die Gefahr ist auf jeden Fall da. Das sieht man dadurch, dass auf der einen Seite das Verständnis für die Proteste relativ konstant ist, während die Pandemiemüdigkeit und die Unzufriedenheit mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung zugenommen hat. Auf der anderen Seite ist der Teil der Bevölkerung, der überhaupt kein Verständnis für die Proteste hat, deutlich größer geworden. Wo man ebenfalls eine Gefahr sehen kann, ist in dieser selbst definierten „nicht-repräsentierten Mitte“, weil es sich dabei um Menschen handelt, die von unserem Parteiensystem offensichtlich nicht mehr aufgefangen werden können. Hier besteht eine reelle Gefahr der Radikalisierung.
Die Drift nach rechts, über die man in der medialen Berichterstattung immer wieder lesen kann, findet also tatsächlich statt.
Es zeigt sich auch, dass die gewalttätigen Proteste übers Jahr zugenommen haben, nicht nur, aber auch durch Gewalt am Rand von Demonstrationen: Angriffe auf Journalistenteams oder auf Polizistinnen und Polizisten. Und es zeigt sich auch, dass die medial sichtbaren Forderungen der Proteste stark von einer Generalopposition gegenüber den staatlichen Maßnahmen geprägt sind. Dabei schwingt oft die Infragestellung unserer normativen Ordnung mit, und teilweise wird auch komplett geleugnet, dass die Pandemie überhaupt existiert.
Was tatsächlich in den Protesten wenig vertreten ist, sind spezifische Forderungen, also zum Beispiel in Bezug auf die Gastronomie oder Bildung. Die gab es zwar am Anfang letzten Jahres, also im Frühling, als die ersten Proteste aufkamen. Das wurde aber dann abgelöst durch diese Generalopposition, diese komplette Infragestellung der Sinnhaftigkeit der Pandemie-Bekämpfung. Ein Grund dafür ist, dass der Protest am Anfang zersplittert und fluide war und im Verlauf immer mehr von der Querdenker-Bewegung und damit verbundenen Organisationen wie Widerstand 2020 oder Eltern stehen auf gekapert wurde.
Welchen Einfluss haben Verschwörungstheorien auf die Protestversteher und warum ist das so gefährlich?
Verschwörungstheorien gelten als sogenannte Radikalisierungsbeschleuniger. Sie wirken als Katalysatoren, die dazu führen, dass Leute noch schneller abgehängt werden. Nicht nur politisch, sondern oft auch durch eine Abkapselung von ihrem sozialen Umfeld. Während der Großteil der Deutschen gar kein oder wenig Verständnis für Verschwörungstheorien hat, ist der Anteil unter Unterstützern des Protestes viel, viel höher. Jeder siebte Befragte, der Verständnis für die Corona-Proteste hat, glaubt auch an zentrale Verschwörungstheorien, die oft aus der „neuen Rechten“ kommen. Ein konkretes Beispiel wäre hier die Legende vom großen Austausch der Bevölkerung. Selbst die, die nicht an Verschwörungstheorien glauben, geben zumindest an, dass sie ein gewisses Verständnis dafür haben, was sich in der Gesamtbevölkerung wiederum überhaupt nicht zeigt.