Tausende Studien wurden zu Corona seit März 2020 veröffentlicht. Unzählige Zeitungsartikel befassten sich bis heute mit der Pandemie. Die Anzahl von Sondersendungen und Talkshows zum Thema ist beispiellos. Die sozialen Medien sind mit dem Thema überfüllt. Kurz, es sollte mittlerweile kaum ein Thema geben, das besser verstanden wird als die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen.

Der letzte Winkel der Corona-Karten sollte Millimeter genau vermessen sein. Tatsächlich ist es aber anders. Die Corona-Karte hat weiße Flecken. Doch die Medien und die öffentliche Debatte nehmen sie weitgehend hin. Warum?

Viele Studien befassen sich mit der Effektivität der Corona-Maßnahmen. Welche Maßnahmen senken Infektionen? Welche bringen viel und welche wenig? In der öffentlichen Debatte sind diese zentralen Fragen aber nicht geklärt. Für einen großen Teil der Öffentlichkeit und Politik ist die Sache klar: Verfrühte Lockerungen trotz hoher Infektionszahlen sind der Grund für die dritte Welle. Um diese zu brechen, müssen Lockerungen zurückgenommen und neue Verbote erlassen werden. Die Notbremse muss gezogen werden. Der neue Paragraf 28b des Infektionsschutzgesetzes ist die logische Konsequenz.

Aber es gibt Zweifel, ob die Gleichung „viele Verbote gleich niedrige Infektionszahlen“ stimmt. Normbefolgung ist ein komplexes Problem. Akzeptanz, Anreize, Sanktionen und Vollziehbarkeit einer Regel müssen in Balance gebracht werden. Sind Regeln nicht ausreichend akzeptiert, stehen sie schnell wie der Kaiser ohne Kleider da. Die Frage nach dem voraussichtlichen Erfolg einer Regel stellt sich besonders, wenn vergleichbare Vorschriften auch nach Monaten nicht den erwünschten Erfolg gebracht haben. Ist more of the same wirklich die Lösung? Ist die Bekämpfung von Corona ein regulatorisches Problem oder vor allem eines der individuellen Verantwortung und der sozialen Akzeptanz? Trotz dieser Fragen begnügt sich die Debatte in großen Teilen mit der schlichten Gleichung „viel hilft viel“. Soziologinnen und Soziologen kommen in der Öffentlichkeit kaum zu Wort.

Aber es gibt Zweifel, ob die Gleichung „viele Verbote gleich niedrige Infektionszahlen“ stimmt.

Außerdem: Ein Blick in die Bundesländer und zu den europäischen Nachbarn lässt zusätzlich an der „Viel hilft viel“-Gleichung zweifeln. Wie kommt es, dass Sachsen bezogen auf die Bevölkerung ungefähr viermal mehr Corona-Tote zu beklagen hat als Schleswig-Holstein, obwohl sich die ergriffenen Maßnahmen in beiden Bundesländern nicht wesentlich unterscheiden? Wie erklärt es sich, dass Finnland Schulen und Geschäfte nur für relativ wenige Tage geschlossen hat, aber sehr niedrige Infektionszahlen aufweist? Warum hatte Griechenland nach fünf Monaten Lockdown Anfang April einen Höchststand bei den Neuinfektionen und warum ist Tschechien bei sehr harten Beschränkungen das Land unter den EU-Staaten mit den höchsten Infektionszahlen? Was ist die Erklärung dafür, dass in Portugal die Infektionszahlen nach strengen Beschränkungen in kurzer Zeit sehr stark gefallen sind?

Es ist bis dato schlicht unklar, welche Stellschrauben gedreht werden müssen, um Infektionen zu senken, aber die öffentliche Debatte nimmt sich diesen Fragen kaum an. Stattdessen scheinen viele Menschen nur nach der Bestätigung ihrer vor längerer Zeit gefassten Meinung zu suchen.

Modelle zur künftigen Ausbreitung von Infektionen sind eine wichtige Entscheidungsgrundlage für Regierungshandeln. Sie sind auch ein wichtiger Bezugspunkt für die öffentliche Debatte. Trotzdem sind die Ergebnisse von Modellen ein weiterer weißer Fleck auf der Corona-Karte. Gewiss, Modelle können nicht mit Sicherheit die Zukunft vorhersagen. Sie müssen vereinfachen und dürfen nicht als bare Münze genommen werden. Aber es ist ein Problem, wenn Modelle mit sehr großer praktischer Bedeutung weder in den Medien noch in der Öffentlichkeit vertieft diskutiert werden. Der Öffentlichkeit muss bewusst sein, dass die Ergebnisse von Modellen stark von den zugrunde liegenden Annahmen abhängen; sie muss auch die Annahme selbst verstehen. Ohne diese Vorkenntnisse sind Modelle für die Öffentlichkeit eine Blackbox.

Die Auslastung mit Intensivbetten ist eine der wichtigsten Fragen in der dritten Corona-Welle. Das Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) erfasst täglich die Behandlungskapazitäten in der Intensivmedizin. Insofern sollte dieser Winkel der Corona-Karte genau vermessen sein. Dennoch gibt es offene Fragen. Während die DIVI annimmt, dass bei anhaltendem Infektionsgeschehen absehbar keine freien Intensivbetten mehr zur Verfügung stehen könnten, sehen Betreiber großer Klinikketten dies anders.

Nach ihrer Einschätzung kann voraussichtlich durch die Verlegung von Patienten mit der Situation umgegangen werden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Expertinnen und Experten die gleichen Zahlen unterschiedlich interpretieren, aber eine so wichtige Frage wie die Gefahr eines drohenden Zusammenbruchs des Gesundheitssystems bedarf einer kritischen journalistischen Recherche und einer breiteren öffentlichen Diskussion.

Deutschland hat vielfältige Medien – eine klare Stärke der deutschen Demokratie. Medien bringen unterschiedliche Meinungen und kritisieren Regierungen, manchmal sehr hart. Das gilt gerade in der Pandemie. Die abgestürzten Umfragewerte für die CDU sind ein Zeugnis davon. Es gibt also offensichtlich keine gleichgeschalteten Medien. Es ist aber ein Problem, wenn Medien große unbekannte Gebiete auf der Corona-Karte zulassen.

Statt kritischer Recherche zu schwierigen technischen Fragen stellen Medien oft Nebensächlichkeiten in den Mittelpunkt. #allesdichtmachen, überfüllte Skigebiete oder Reisen nach Mallorca sind Beispiele für solche Nebenschauplätze. Statt Fachleuten Paroli zu bieten und Regierungsvertreterinnen und -vertretern mit bohrenden Nachfragen zu interviewen, werden häufig schablonenhafte und vorhersehbare Fragen gestellt – jeweils mit der Folge, dass wichtige Punkte offenbleiben. Anstatt Fakten zu berichten, scheinen viele Journalistinnen und Journalisten eher das Anliegen zu haben, Meinung zu bilden und der eigenen Überzeugung Gehör zu verschaffen.

Auch fehlt der öffentlichen Debatte der starke Wille, den Dingen auf den Grund zu gehen. Die Debatte ist oft ritualisiert und von Schlagworten geprägt. Anstatt etwa die Kosten und Nutzen von Maßnahmen konkret zu diskutieren, wird die Debatte mit nichtssagenden Schlagworten wie „harter Lockdown“, „Lockerungen“ oder „öffentliches Leben herunterfahren“ geführt.

Das Ergebnis sind weiße Flecken auf der Corona-Karte. Dies ist ein Problem für die Demokratie und ihre Widerstandsfähigkeit. Denn angesichts der beispiellosen Beschränkungen von Grundrechten müsste das Bedürfnis nach informierter Debatte größer sein. Grundrechtsbeschränkungen dieses Ausmaßes müssen als das diskutiert werden, was sie sind: die Ultima Ratio.