Immer wieder betonen Politiker wie der amerikanische Präsident Barack Obama und sein Außenminister John Kerry, dass der „Islamische Staat“ (IS) eine Sekte sei. Aber sie sagen nicht, warum und was dies bedeutet – für den Verfassungsschutz, die betroffenen Familien und natürlich auch für jene, die sich ihm anschließen. Denn was Sekten so gefährlich macht, ist nicht unbedingt ihre Weltanschauung, sondern die Art und Weise wie sie ihre Mitglieder rekrutieren, behandeln und einsetzen.

Religionen und Sekten unterscheiden sich nicht in der Theologie (nicht umsonst ähneln sich die Rhetorik des IS und der saudischen Kleriker), sondern in der Gestaltung der Beziehung zu ihren Mitgliedern. Während Religionen ein Mindestmaß an Diskussion und Interpretation zulassen, legt in Sekten einzig die Führungsriege die allgemeingültige spirituelle Wahrheit fest. Während Religionen einen Verstoß gegen die Grundsätze nicht oder nur milde bestrafen, werden in Sekten brutale Strafen verhängt und vollzogen. Der Austritt aus einer Religionsgemeinschaft wird zwar nicht gern gesehen, ist jedoch möglich. Bei Sekten kann der Austrittswunsch zu Verfolgung und Tod führen. (Wenngleich der Islam die Todesstrafe für Apostasie vorschreibt, wird dies in den wenigsten muslimischen Staaten auch umgesetzt; in den letzten 20 Jahren sind nur zwei Muslime hierfür hingerichtet worden, 1994 im Iran und 2014 im Sudan). Der Grund für all diese Maßnahmen ist simpel: Während Religionen das Wohlergehen der Gläubigen zum Ziel haben, streben Sekten autoritäre Systeme an, in denen sie die totale Kontrolle über die Mitglieder haben. Zu diesem Zweck versuchen sie, ihre Mitglieder so weit wie möglich von deren ursprünglichem sozialen Umfeld zu isolieren und diese Bindungen durch Kontakte mit der Sekte zu ersetzen. Die Sekte gibt dem Leben Struktur und Sicherheit, macht es durch klare Regeln vorhersehbar. Die Sekte vermittelt dem Mitglied ein Wir-Gefühl und gibt seinem Leben einen Sinn.

Mit seinen Sektenmethoden hat der IS vor allem bei Europäern Erfolg.

Damit hat der IS vor allem bei Europäern Erfolg, denn insbesondere bei dieser Klientel wendet er seine Sektenmethoden an. Iraker und Syrer innerhalb seines Territoriums hingegen werden mit eher finanziellen Vorzügen gelockt. Wie andere Sekten auch sucht der IS neue Mitglieder anhand eines Opferprofils: Ein typischer Kandidat für eine Sekte ist dabei weder „verrückt“, noch lebt er in absoluter Armut. Zwei Drittel sind emotional gefestigt, nur ein Drittel leidet an depressiven Verstimmungen. Allerdings findet man sowohl bei typischen Sektenmitgliedern als auch bei IS-Anhängern ein psychologisches Verlustprofil, das verschiedene Formen annehmen kann: Scheidung, Jobverlust, Umzug, Veränderungen im Freundeskreis und ein allgemeines Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens. Genau deshalb sind die Profile der europäischen IS-Anhänger auch so heterogen: Manche kommen aus strenggläubigen Haushalten, andere aus säkularen Familien; knapp ein Viertel sind Konvertiten; sie kommen aus wohlhabenden und armen Familien, sind verheiratet oder Single. Der IS ist gut darin, diese Lebenslücke zu erkennen und zu füllen. Ein guter Anwerber erkennt, welche der Methoden er anwenden muss, um dem Kandidaten das Gefühl zu geben, dass der IS diese Lücke füllen kann. Je nach Profil sprechen potenzielle Mitglieder eher auf emotionale, intellektuelle, aktionsorientierte oder ideologische Rhetorik an.

Sind die IS-Anhänger erst einmal in Syrien, schnappt die Falle zu.

Sind die IS-Anhänger erst einmal in Syrien, schnappt die Falle zu. Fern von Familie und Freunden, in einem Kriegsgebiet und umgeben von fremder Kultur ist das Mitglied von jetzt an vollständig dem IS ausgeliefert. Der IS bedient alle sozialen Bedürfnisse und treibt einen Keil zwischen das Individuum und seinen Herkunftsort: zum einen durch Gewalt, zum anderen durch die apokalyptische Rhetorik. Die extreme Gewalt, wie etwa das Abschlagen von Köpfen, hat unter anderem die Funktion, dem Mitglied die Rückkehr in seine Ursprungsgesellschaft zu erschweren – denn dort werden diese Form von Gewalt und jene, die sie verüben, abgelehnt. Das Mitglied wird damit Teil einer exklusiven Gemeinschaft. Die gleiche Funktion hat die apokalyptische Rhetorik. Nicht umsonst nutzen Sekten wie der IS, aber auch die Heaven’s-Gate-Gruppe oder die Sonnentempler die Vorstellung des nahenden Weltuntergangs, um ein starkes Gruppengefühl hervorzurufen. Schließlich gehört das Mitglied damit zu einer auserwählten Gruppe, die allein Informationen über das bevorstehende Ende hat. Auch Selbstmord passt in diese Logik hinein: So wichtig wird die Gruppe für die Identität des Individuums, dass es sich auch lohnt, dafür zu sterben.

Insgesamt wird die Mitgliedschaft, sei es im IS oder in einer Sekte, dem Mitglied zunächst positive Gefühle vermitteln. Die Sinnsuche ist beendet, ein starkes Wir-Gefühl deckt die emotionalen und sozialen Bedürfnisse ab. Genau darauf zielen die Anwerbungsvideos des IS ab: Junge, gesunde und attraktive Männer werden nicht nur beim Kampf gezeigt, sondern auch in fröhlicher Kameradschaft. Die zum Teil extremen Lebensumstände in Syrien und im Irak ändern daran nichts. Nur wenn sich die Hoffnungen, die das Mitglied in den IS gesetzt hat, nicht erfüllen, wird der Austritt in Erwägung gezogen. Doch je länger man im Bann der Organisation steht, desto schwieriger wird dies: Wer mehr als ein Jahr Mitglied ist, hat geringe Chancen, austreten zu wollen oder zu können, weil die Rückkehr in die Ursprungsgesellschaft schwierig ist. Genau deshalb sind erzwungene Austritte (etwa durch Entführungen) meist nicht effektiv.

Wer die Anziehungskraft des IS auf Europäer schwächen will, muss verhindern, dass die Menschen nach Syrien gelangen.

Wer die Anziehungskraft des IS auf Europäer schwächen will, muss in erster Linie verhindern, dass die Menschen überhaupt erst nach Syrien gelangen, denn einmal dort, ist der Prozess kaum mehr umzukehren. Ausreiseverbote aus Europa und Einreiseverbote in die Türkei sind dabei erste Schritte. Eine Radikalisierung kann aber auch im Frühstadium abgewendet werden, vor allem von den Familien. Deshalb haben Deutschland, Frankreich und die Niederlande eine Hotline eingerichtet, an die sich betroffene Familien wenden können. Doch da der Anwerber dem zukünftigen Mitglied oft aufträgt, seine neuen Ideen vor der Familie zu verheimlichen, wird die Anwerbung oft nicht bemerkt. Verstärkte Überwachung von typischen Rekrutierungsforen wie Facebook oder Twitter, aber auch von Moscheen, kann dabei effektiver sein.

Doch die Anziehungskraft des IS besteht nicht nur aus intrinsischen psychologischen Elementen. Es ist auch sein Narrativ des Erfolgs, des Widerstands, der Revolution, welches gerade ihn – im Gegensatz zu etwa al-Qaida – derzeit besonders attraktiv macht. Denn Individuen schließen sich bevorzugt Gruppen an, die bereits viele Mitglieder haben, um dadurch die eigene Wahl aufzuwerten. Deshalb besteht die Strategie des IS auch darin, ständig neue Erfolge vorzuweisen – in Irak, Syrien oder Europa. Ihn militärisch zu besiegen, dürfte seine Anziehungskraft – zumindest in gewissem Maße – mindern. Doch dies löst nicht das Problem der Rückkehrer: Mehrere tausend IS-Mitglieder sind mittlerweile nach Europa zurückgekehrt, aller Wahrscheinlichkeit nicht, weil sie mit seinen Ideen gebrochen haben. Sie zu überwachen oder, wo der Austrittswille da ist, psychologisch zu betreuen, bedeutet wesentlich mehr Arbeit für europäische Dienste als bisher angenommen.