Nach über einem Jahrzehnt progressiver Vorherrschaft in Südamerika und Teilen Zentralamerikas ist Lateinamerikas politische Rechte zurück. In Argentinien hat sie im November 2015 die Präsidentschaftswahlen gegen die 12 Jahre lang regierenden peronistischen Kirchners gewonnen. Im Dezember konnte die Opposition in Venezuela, die mehrheitlich liberal bis konservativ ist, eine Zwei-Drittel-Mehrheit erreichen. In Peru haben die Stichwahl im Juni zwei konservative Präsidentschaftskandidaten unter sich ausgemacht. Auch die brasilianische Regierungschefin Dilma Rousseff schaffte Ende 2014 ihre Wiederwahl nur mit einem sehr knappen Wahlergebnis vor dem von der Wirtschaft favorisierten Aécio Neves. Mit der Einleitung des Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsidentin Rousseff verfolgt die brasilianische Rechte ihr Streben nach der Macht im größten Land Lateinamerikas noch vor den nächsten Wahlen.

Gründe für das schlechte Abschneiden der Linken an den Wahlurnen sind vielfältig. Es gibt einen allgemeinen Unmut („descontento“), der sich mit einer „Entzauberung“ („desencanto“) auf Seiten der Anhänger linker und progressiver Parteien paart und zu vehementen Protesten und Mobilisierungen auf der Straße wie in Brasilien und Chile oder zu Wahlverlusten wie in Argentinien führt. Der Wirtschaft geht es schlecht, die Arbeitslosigkeit steigt wieder, das alte Übel der Rohstoffabhängigkeit in Zeiten fallender Preise ist zurück – bzw. war nie fort. Die in sich sehr unterschiedlichen Ausprägungen der Linken haben wirtschaftspolitisch keine neuen Ideen entwickelt, um die von Ressourcen extrem abhängigen Wirtschaften im 21. Jahrhundert neu aufzustellen. 98 Prozent der venezolanischen Exporte bestehen aus Rohstoffen. In Ecuador sind es 86 Prozent, in Bolivien 72 Prozent und in Argentinien 70 Prozent. Nur die Ressourcen ändern sich. In einem Fall ist es Öl, im anderen Bananen, im dritten Gas und Mineralien und im vierten Soja. Ausbildung, Technologie, Innovation und Wissenschaft – diese für das 21. Jahrhundert so wichtigen Themen wurden vernachlässigt.

Die politische Rechte wiederum kritisiert die staatliche Gängelung, den aufgeblähten Staat und den illiberalen Populismus der Linken und spricht damit viele Personen aus den Mittel- und Oberschichten der Region an. Schaut man auf die Bilanz rechter Politik wie in Mexiko, wo sich die Linke nicht durchsetzen konnte, mag der Handel für ausländische Investoren besser florieren, aber gleichzeitig bestimmen Menschenrechtsverletzungen, staatliche wie auch nicht-staatliche Gewalt und ein Minimum an Arbeitnehmerrechten das Bild leider auch. Populismus ist der Rechten in Lateinamerika nicht fremd, und der moralische Kreuzzug, den die Rechte beispielsweise in Brasilien gegen die linke Arbeiterpartei und ihre Regierung führt, entbehrt einer wichtigen Grundlage, richten sich die Untersuchungen der aktuellen Korruptionsskandale doch gegen Vertreter aller Parteien. Der Glaube konservativer Meinungsmacher, dass die politische Rechte eine Positivbilanz in Sachen demokratischer und konstitutioneller Werte habe, entbehrt jeglicher Substanz.

Die in sich sehr unterschiedlichen Ausprägungen der Linken haben wirtschaftspolitisch keine neuen Ideen entwickelt, um die von Ressourcen extrem abhängigen Wirtschaften im 21. Jahrhundert neu aufzustellen.

Auch profunde Reformen der politischen Systeme wurden nicht angegangen. Sich leerende Staatskassen, ein selbstgefälliger Regierungsstil oder auch der moralische Verschleiß waren daher Grund genug, anderen politischen Kräften die Möglichkeit zu geben, bessere Antworten zu finden. Der Unmut vieler Bürger gegenüber den Vertretern der progressiven Eliten ist aber nicht gleichzusetzen mit einer Ablehnung progressiver Politik und ihrer Ziele.

Die Art der Politik wird abgelehnt, nicht der eingeschlagene Weg. Die bereits in den achtziger und neunziger Jahren systemimmanente Korruption in vielen Ländern hat die Linke nicht reduzieren können. In Einzelfällen bedient sich links und rechts aus dem gleichen Korruptionstopf. In Zeiten von Wachstum und Wohlstandsverteilung schien dies nebensächlich, bei leeren Kassen und unsicherer Zukunft wird dadurch das angepriesene inklusive Entwicklungs-Modell diskreditiert. Die vielen Protestierenden in den Straßen Brasiliens symbolisieren auch den Frust der breiten Mittelschicht über die epidemische Korruption, über klientelistische Strukturen und inneffiziente Verwaltungsstrukturen. 

Es ist aber zu früh, die lateinamerikanische Linke und vor allem ihre politische Zukunft abzuschreiben. Denn die Linken in Lateinamerika, die national-populistischen wie auch ihre moderaten Regierungsvertreter, haben in den vergangenen Jahren vieles richtig gemacht. Sie haben den Diskurs politisiert, sie haben marginalisierte Gruppen ins Zentrum der Debatte gebracht, sie haben den Staat als Akteur reanimiert und sie haben neue Rechte installiert. Es waren neue, bis dahin ausgegrenzte und ausgebremste Bevölkerungsgruppen sowie durch liberale Anpassungsprogramme in Mitleidenschaft gezogene Mittelschichten, die den Linken zwischen 2002 und 2014 zum Wahlsieg verhalfen. Lateinamerikanische Regierungs- und Präsidentschaftswechsel waren selten so friedlich und demokratisch regulär wie zwischen 2002 und 2014. Proteste, Mobilisierungen und Kritik gehören zur Norm und deuten den Bestand demokratischer Gesellschaften an. Allerdings heißt dies nicht, dass die Gesellschaften friedlich, offen, gerecht und inklusiv sind. Aber sie sind es heute mehr als zu anderen Zeitpunkten der Geschichte.  Die Linke an der Regierung hat dazu beigetragen.

Die Linken in Lateinamerika, die national-populistischen wie auch ihre moderaten Regierungsvertreter, haben in den vergangenen Jahren vieles richtig gemacht.

Vor vielen Jahren schlug der mexikanische Politikwissenschaftler und ehemalige Außenminister Jorge Castañeda vor, dass die Linken Lateinamerikas sich das Modell der europäischen Sozialdemokratie zunutze machen sollten. Aus heutiger und postkolonialer Sicht gilt dies wohl kaum, betrachtet man die sinkenden Wahlergebnisse in Europa heute. Aber die lateinamerikanische Linke braucht nicht den Atlantik zu überqueren. Es gibt einen möglichen dritten Weg, der aus Lateinamerika selbst kommt: das kleine Uruguay, ein Land mit 3,4 Millionen Einwohnern, das seit jeher als Ausnahme auf dem Kontinent gilt und seit 2004 von einem sehr breiten Mitte-links-Bündnis regiert wird. Seine Regierungsführung kann der Region und linken Kräften als Vorbild dienen.

Der dort eingeschlagene Weg, Verteilung zu verbessern und Ungerechtigkeiten abzumildern, ist der richtige. Staatliche Sozialpolitik statt Deregulierungsdogma, neue Arbeitsgesetze, Tarifverträge statt informelle Arbeitsbeziehungen ohne Sozialversicherung und Rechte, neue Rechte für marginalisierte Bevölkerungsgruppen wie Indigene und Homosexuelle oder kleine Ansätze von Bildungsreformen. Die Arbeitsmarkt-, Sozial- und Steuerpolitik Uruguays gilt als Erfolgsbeispiel. Statt krisenanfällig und prekär ist das Land ein attraktiver Ort für Arbeitnehmer und Unternehmer. Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) gruppierte den kleinen südamerikanischen Staat  2014  gemeinsam  mit  Dänemark in seinem Global Rights Index in die Kategorie der »Länder mit den besten Arbeitsstandards« weltweit. Eine sehr aktive Arbeitsmarktpolitik brachte Gehaltssteigerungen für viele Berufsgruppen und Tarifeinigungen  für 89  Prozent  der  lohnabhängig  Beschäftigten. Geschlechtergleichstellung, Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, Mindestlohn, maximale Wochenarbeitszeiten  sowie berufliche  Aus-  und  Fortbildung gehören ebenfalls zu dieser Positivbilanz. Gerade in den sehr informellen Ökonomien Lateinamerikas fehlen häufig die Hebel, diese Rechte umzusetzen. Der Kampf gegen die Schattenwirtschaft wurde daher in Uruguay sehr ernst genommen. Waren vor 2004 noch 40 Prozent der Beschäftigten ohne Sozialversicherung, sehen diese Zahlen heute anders aus. Rechte für Hausangestellte – von jeher in Lateinamerika eine viel gebrauchte, aber sehr marginalisierte Beschäftigungsgruppe – wurden per Gesetz festgeschrieben und überprüft. Auch in der Energiepolitik liegt Uruguay mit erneuerbaren Energiemaßnahmen weit vorne. In der Drogenpolitik geht das Land ungewöhnliche Wege, um den Markt zu regulieren und Verbraucher zu entkriminalisieren.

Aber nicht nur die Policy, sondern auch politics und polity stimmen.

Aber nicht nur die Policy, sondern auch politics und polity stimmen. Die beiden Präsidenten der Frente Amplio-Regierung, Tabaré Vazquez und José Mujica, sowie viele Regierungsvertreter gelten als integer. Fragt man sich, wie heute „progressiv“ definiert werden soll, gibt Uruguay klare Antworten. In seiner Region ist es das Land mit der höchsten Lebensqualität und Zustimmung zur Demokratie. Die Zukunft ist auch hier ungewiss, denn der wirtschaftliche und damit auch der politische Spielraum des Landes ist durch die Abhängigkeit von den beiden großen Nachbarn Argentinien und Brasilien begrenzt. Aber der Ausgangspunkt ist stabil.

Die linken Kräfte Uruguays haben kein taktisches Verhältnis zur Demokratie. Sozialen Bewegungen und Basisorganisationen drohen nicht die Vereinnahmung und der Verlust ihrer Unabhängigkeit, wenn sie sich den Vorgaben der Führung nicht unterordnen. Die Idee der nationalen Souveränität, die in Lateinamerika aus historischen Gründen gerne und von linken Kräften besonders beansprucht wird, oder anti-kapitalistische Rhetorik, der am Ende Mangelwirtschaft, ein epidemischer Schwarzmarkt, Inflation und Zukunftslosigkeit folgen, sowie ein taktisches Verhalten zu demokratischen Strukturen bremsen woanders notwendige Ansätze für Produktion, Handel und gemeinsame Projekte aus. In Venezuela beispielsweise wird es sicher einige Jahre dauern, bis die Gesellschaft wieder überzeugt werden kann, dass ein wie auch immer geartetes linkes Modell das bessere ist, um Menschen aus der Armut und sozialen Ausgegrenztheit zu holen.

Im Falle der PT Brasiliens, der Frente Amplio Uruguays, aber auch des MAS in Bolivien war es die Nähe zur Basis und zu einer Vielzahl von Strömungen und Bevölkerungsgruppen, die diese Parteien(bündnisse) pluralistisch und konsensfähig werden ließ. Die Frente Amplio scheint den Transmissionsriemen zwischen Gesellschaft und Partei in ihren langen Regierungsjahren am wenigsten vernachlässigt zu haben. Sie sollte die Entwicklungen in den Nachbarländern genau analysieren. Die Linke nährt sich aus Protest, Kritik und internationaler Solidarität. Letztere mag an Wirkungskraft verloren haben, da sie allzu häufig in Sonntagsreden beschworen wird. Uruguays Ex-Präsident José Mujica – bei jung und alt und in youtube ein Star wegen seiner lebensphilosophischen Weisheiten, seines einfachen Lebensstils und des Gegenentwurfs zum lateinamerikanischen Caudillo – hat sie bei seinem Besuch Ende Juni 2016 in Berlin daher anders formuliert: „…der Mensch muss anfangen als Spezies zu denken und nicht als Land.“