Ein Rückbau der Europäischen Integration, also das Scheitern der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion in ihrer gegenwärtigen Funktionslogik und/oder Mitgliederstruktur ist (noch immer) nicht auszuschließen. Denkbar ist sie als Folge politisch nicht beherrschbarer Turbulenzen, die von künftigen Entwicklungen im internationalen Finanzmarkt- und Bankensystem oder von politischen Verwerfungen in einzelnen Ländern der Euro-Zone ausgehen können.

Der de facto Ausbau

Im Zuge des Krisenmanagements hat mit den neuen Instrumenten (Fiskalpakt, ESM, EZB-Interventionen, „Six-pack“ etc.) gemessen am EWWU-Regelwerk des Maastricht-Vertrages de facto bereits ein „Ausbau“ stattgefunden. Allerdings ein ökonomisch-ordnungspolitisch asymmetrischer und integrations- und demokratiepolitisch prekärer: Die ökonomisch-ordnungspolitische Asymmetrie resultiert daraus, dass den Instrumenten, die auf Haushaltsdisziplin und die „Angebotsseite“ der Wirtschaft zielen, (bislang) keine adäquaten Instrumente zur Seite gestellt sind, die auf die „Nachfrageseite“ der Wirtschaft zielen und eine effiziente makroökonomische Steuerung sowie eine substantielle Marktregulierung ermöglichen würden. Das integrations- und demokratiepolitische Problem besteht darin, dass das Euro-Krisenmanagement innerhalb der Machtarchitektur der EU technokratische, hegemoniale und intergouvernementale Politikmuster zu Lasten demokratisch-parlamentarischer Prinzipien und zu Lasten der Gemeinschaftsmethode verstärkt hat.

Das Problem ist, dass das Krisenmanagement innerhalb der Machtarchitektur der EU technokratische, hegemoniale und intergouvernementale Politikmuster zu Lasten demokratisch-parlamentarischer Prinzipien und zu Lasten der Gemeinschaftsmethode verstärkt hat.

Unter beiden Vorzeichen sind Argumente von Kritikern des bisherigen Integrationsprozesses hin zur Einheitswährung und zu den Konsequenzen des bisherigen Pfades der Krisenbewältigung sehr ernst zu nehmen; stellvertretend dafür die Position Wolfgang Streecks, der argumentiert, dass die EU mit ihrer gegenwärtigen Strategie der Krisenbewältigung in einem „neoliberalen Konsolidierungsstaat“ oder einem „demokratiefreien Einheitsmarktstaat“ enden werde.

Das vor diesem Hintergrund vorgeschlagene Konzept eines Rückbaus des bestehenden Integrationssystems – die Rückkehr zu nationalen Währungen und die Schaffung eines „Europäischen Bretton-Woods-Systems“ – ist gleichwohl aus vielen Gründen keine tragfähige Alternative.

Diese Rückbauposition „verklärt“ die europäischen und internationalen währungspolitischen Erfahrungen der 1980er und frühen 1990er Jahre, darunter die Instabilitäten des EWS, die Spekulationswellen, die politischen Spannungen durch die Dominanz der DM als Leitwährung. Sie überschätzt angesichts der heutigen transnationalen Mobilität des Kapitals und der im Binnenmarkt weit fortgeschrittenen transnationalen Verflechtung der Produkt-, Dienstleitungs- und Kapitalmärkte und der Produktionslogistiken die Möglichkeiten von Regierungen bzw. Zentralbanken, über Auf- und Abwertungen „frei“ entscheiden zu können.

Sie übersieht, dass Abwertungen nur bedingt zum Abbau staatlicher Schulden taugen und die Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Wirtschaft nur nominal, nicht real verbessern würden. „Um sie real zu verbessern, würde ausländisches Kapital benötigt. Aber wer wird einem Land, dessen Währung sich im Sinkflug befindet, Kredit gewähren? Kurzum: eine Abwertung stellt eine wirtschaftliche Rosskur für das betroffene Land dar, die sich in ihren materiellen Auswirkungen nur wenig von den heutigen, von der ‚Troika‘ getroffenen Maßnahmen in den Krisenländern unterscheidet.“

Vertiefen und Korrigieren

Angezeigt ist eine Vertiefung der Integration durch eine Reform und Weiterentwicklung der EWWU, eine  Stärkung der sozialen Dimension und eine weitere Demokratisierung des EU-Entscheidungssystems, die zugleich zu einer Korrektur des bisherigen Problemlösungspfades führt. Denn dieser ist nicht „alternativlos“.

Freilich gibt es auch keine risikolosen oder kostenlosen Alternativen. Jegliches Vertiefungsprojekt  ist mit Barrieren konfrontiert, da die gegenwärtige EU-28 nach den jüngsten Erweiterungsrunden ein nie gekanntes Maß an Wohlstandsunterschieden zwischen den Mitgliedstaaten und eine deutlich gewachsene Pluralität und Heterogenität nationaler Produktions- und Verteilungsregime aufweist. In einer dergestalt sozial-ökonomisch heterogenen EU sind die Barrieren für einen Interessenausgleich und vertiefende Reformschritte beträchtlich.

Die Gründe dafür werden analytisch ersichtlich und erklärbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass von Beginn des Integrationsprozesses an drei interdependente Konfliktachsen eine konstitutive Rolle spielen: Eine ordnungspolitische Konfliktachse Markt versus Staat; Kompetenzen und Instrumente zur Deregulierung versus Kompetenzen und Instrumente zur Reregulierung. Eine integrationspolitische Konfliktachse: Nationalstaat versus supranationale Union. Subsidiarität versus transnationale Solidarität und sozialökonomische Kohäsion. Und eine verteilungspolitischen Konfliktachse: unterschiedliche (Anpassungs-)Kosten der Vergemeinschaftung von Politiken in Abhängigkeit zu den  „varieties of capitalism“ (kompensiert durch Elemente distributiver Politik - bislang in Gestalt der Strukturfonds).

Eine EU-Politik, die auf eine stärker integrierte Wirtschafts- und Sozialpolitik zielt, ist somit strukturell blockadeanfällig, weil (Kompromiss-)Lösungen nicht nur entlang des traditionellen Rechts-Links-Schemas des Parteienwettbewerbs und der ordnungspolitischen Konfliktachse (Markt-Staat), sondern auch in den beiden anderen Konfliktdimensionen gefunden werden müssen.

Nicht mehr nur im Elfenbeinturm...

Dennoch ist eine Vertiefung der Integration kein unmögliches oder unrealistisches Vorhaben. Entsprechende reformpolitische Konzepte haben inzwischen den akademischen Elfenbeinturm verlassen und Eingang in die politischen Beratungen und Entscheidungen der EU-Organe gefunden. Neben der Bankenunion, die politisch bereits auf den Weg gebracht ist, ist dies zum einen das Konzept einer „echten Wirtschafts- und Währungsunion“, zum anderen sind dies politische Konzeptentwürfe der EU-Kommission zu einer Stärkung der sozialen Dimension.

Im sogenannten „Quadriga-Berichts“ haben die vier Präsidenten (des Rats, der Kommission, der EZB und der Euro-Gruppe) bereits 2012 Bausteine einer zu reformierenden Architektur der Eurozone entworfen, die in einem auf zehn Jahre angelegten Stufenprozess umgesetzt werden soll: (1) Eine Bankenunion, mit europäischer Aufsicht und einem durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) abgesicherten Restrukturierungs- und Einlagensicherungsmandat. (2) Ein integrierter Haushaltsrahmen, der eine stringente staatliche Budgetpolitik mit einem gemeinsamen Schuldenmanagement verbindet sowie eine fiskalische Kapazität. (3) Ein integrierter wirtschaftspolitischer Rahmen, zur Förderung von nachhaltigem Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit. (4) Die Stärkung der demokratischen Legitimität und Rechenschaftspflicht für neue Mechanismen gemeinsamer Entscheidungsfindung in Finanz- und Wirtschaftsthemen.

Dennoch ist eine Vertiefung der Integration kein unmögliches oder unrealistisches Vorhaben. Entsprechende reformpolitische Konzepte haben inzwischen den akademischen Elfenbeinturm verlassen

Auch das Europäische Parlament formulierte Ende November 2012 in einer mit großer Mehrheit verabschiedeten Entschließung ein strategisches Konzept, das ambitionierte Schritte in Richtung eines föderalen Europas (mittels einer Banken-, einer Fiskal-, einer Wirtschafts- und einer Politischen Union) vorsieht.

Im engeren Bereich der Sozialpolitik hat Sozialkommissar László Andor in einem halb-öffentlichen ersten Papier „The social dimension of a genuine Economic and Monetary Union” weitreichende Vorstellungen entwickelt, die an vielen Stellen mit der vorherrschenden neoliberalen Logik der Kommissionspolitik brechen.

Drei Bausteine des Ausbaus

Der vorgeschlagene Ausbau der sozialen Dimension umfasst drei Bausteine: Erstens, eine verstärkte Koordinierung und Überwachung der Sozialpolitik (ein „scoreboard“ mit Beschäftigungs- und Sozialindikatoren in Anlehnung an die Überwachung der makroökonomischen Entwicklung; Schwellenwerte, die Handlungsbedarf anzeigen und bestimmte präventive oder korrigierende Maßnahmen auslösen). Zweitens, die Schaffung von Mindeststandards auf nationaler Ebene; darunter eine (mittlerweile beschlossene) Garantie für die Jugend, Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, ein Mindesteinkommen für den Lebensunterhalt und ein Mindestzugang zu sozialen Diensten, sowie ein Mindestlohn für alle Beschäftigten. Drittens, vertragliche Vereinbarungen über sozialpolitische Reformmaßnahmen, flankiert durch einen finanziellen Solidaritätsmechanismus. Dabei soll das Finanzinstrument mittelfristig zu einer Euro-Arbeitslosenversicherung ausgebaut werden, die antizyklische fiskalpolitische Funktionen erfüllen kann.

Auch wenn dieser ambitionierte Vorstoß im Sozialministerrat und Europäischen Rat inzwischen  „klein gearbeitet“ wurde, zeigt er zusammen mit dem Quadriga-Bericht und der Positionierung des Europäischen Parlaments, dass es innerhalb und zwischen den EU-Institutionen, nicht mehr um ein „ob“ von Vertiefungsschritten,  sonder um ein „wie“ geht. Das heißt auch, dass im politischen Raum Optionen eines Rückbaus der EWWU offensichtlich nicht erwogen werden.

Damit sind die wissenschaftlich wie politisch gleichermaßen relevanten Fragen nach problemadäquaten und realisierbaren Entwicklungspfaden nicht gelöst. Es geht um drei miteinander verknüpfte Fragen, die ebenso schlicht wie schwer zu beantworten sind:

Europa - wie viel: Grade der Vertiefung nach Politikfeldern und Entscheidungsverfahren?

Europa - wie schnell: anhaltender Problemlösungsdruck bei erkennbarer „öffentlicher Europamüdigkeit“ und Zunahme anti-europäischer Kräfte, Zeitbedarfe europäischer Entscheidungen, Stufenpläne mit längeren Zeitachsen, Problemlösungen im bestehenden Vertragsrahmen oder (zeitnahe) Einberufung eines Konvents?

Europa - wie weit: Reformoptionen bezogen auf die Euro-Zone oder die EU-28, differenzierte oder abgestufte Integration mittels „verstärkter Zusammenarbeit“ (wie im Falle der geplanten Transaktionssteuer), mittels zwischenstaatlicher Vereinbarungen mit variablem Teilnehmerkreis (wie im Falle des Fiskalpakts), etc.?

Es ist davon auszugehen, dass kurz- bis mittelfristig nur mit politischen Weichenstellungen zu rechnen ist, die im bestehenden Vertragsrahmen möglich sind, bzw. nach den Verfahren des Lissabon-Vertrages allenfalls „kleiner Vertragsänderungen“ bedürfen. In diesem Rahmen bewegen sich jedenfalls die meisten der oben beschriebenen Reformvorstellungen, die derzeit die politische Agenda der EU-Organe beherrschen. Dies ist Ausdruck eines integrationspolitischen Realismus und Pragmatismus, der nicht per se kritikwürdig aber ergänzungsbedürftig ist.

Benötigt wird eine Doppelstrategie

Für eine Politik, die auf eine soziale und demokratische Integrationsvertiefung gerichtet ist, erscheint eine reformpolitische Doppelstrategie geboten.

Diese wäre auf zwei Ebenen und unter zwei Zeithorizonten anzulegen und politisch zu vermitteln: dem Aufzeigen  kurz- und mittelfristiger Lösungen, die (prinzipiell) innerhalb des bestehenden Vertragsrahmens und der Grenzziehungen des Bundesverfassungsgerichts möglich sind und dem Entwerfen und Vermitteln eines längerfristigen Zielmodells, das eines erweiterten bzw. neuen EU-Vertragsrahmens bedürfe (und damit je nach Reichweite auch einer Grundgesetzänderung). Der bevorstehende Europawahlkampf 2014 bietet Gelegenheit, diese zweigleisige Reformperspektive offensiv zu vermitteln.

Für die erste Teilstrategie liegen, wie gezeigt, Bausteine bereit, die bereits in die „offizielle“ EU-Agenda Eingang gefunden haben. Sie lassen sich programmatisch bündeln. So etwa die Finanztransaktionssteuer, die Vorschläge des ersten Andor-Papiers (auch wenn sie noch keine mehrheitsfähige Gestalt angenommen haben), die Vorschläge des Quadriga –Berichts, die auf ein innovatives Schuldenmanagement und eine makro-ökonomische, wachstumsfördernde Steuerung zielen. Hinzu kämen Bausteine wie etwa das DGB-Konzept eines „europäischen Marshallplans“: ein durchgerechneter Handlungsansatz, der aus einer  – vertraglich und politisch grundsätzlich  möglichen – europäisch harmonisierten (Unternehmens-)Steuerpolitik finanziert würde.

Mit Blick auf die zweite Teilstrategie sollten im Europawahlkampf zwei Dinge deutlich werden: nämlich, dass es eine wichtige Aufgabe des neu gewählten Europäischen Parlaments sein wird, einen Konventsprozess anzustoßen. Und welche Kernforderungen eine Vertragsreform erfüllen müsste, um dem Ziel einer vertieften, demokratisch legitimierten Wirtschafts- Sozial- und Politischen Union näher zu kommen. Auch hierfür liegen wissenschaftlich fundierte Konzeptionen zur sozialen Architektur wie zur politischen Architektur bereit.