Was kann der epochale Deuter der ersten industriellen Revolution noch liefern für das, was heute, 150 Jahre später, als vierte industrielle Revolution beschrieben wird? Besitzt dieser Marx des 19. Jahrhunderts noch irgendeine Erklärungskraft für den gegenwärtigen digitalen Kapitalismus? Einen Kapitalismus, in dem digitale Technologien die Arbeits- und Produktionsprozesse tiefgreifend umgestalten?

Die Meinungen dazu sind vielfältig. Die Einen fragen, ob das Marxsche Instrumentarium überhaupt noch passt im digitalen Kapitalismus. Ist der Waren-Begriff in der digitalisierten Welt noch schlüssig, wenn gar keine konkrete Ware mehr greifbar ist? Welches Produkt entsteht? Wie wird hier Produktivität gesteigert? Und fehlt es nicht an einer Marxschen Theorie des Wissens, um diesen wissensbasierten, digitalen Kapitalismus zu fassen?

Andere betonen, dass Marx und Engels eine zeitlose Analyse der grundsätzlichen Funktionslogiken und Mechanismen des kapitalistischen Wirtschaftens erfasst haben. Kenner des Marxschen Werks verweisen darüber hinaus auf das „Maschinenfragment“. In diesem Text wird durchgespielt, was passiert, wenn in einem Prozess von zunehmender Automatisierung Maschinen und das in ihnen geronnene Wissen immer wichtiger werden, und in Entsprechung dazu die vom Arbeiter erbrachte Arbeit immer weiter abnimmt. Manche sehen darin die Anwendbarkeit von Marx auf einen digitalisierten Kapitalismus, in dem die Automatisierung durch digitale Technologien immer weiter zunimmt.

Für diejenigen, die den Kapitalismus noch nicht überwunden sehen und davon ausgehen, dass Marx auch für die gegenwärtige Form des Kapitalismus etwas zu sagen hat, ergeben sich mindestens drei produktive Anknüpfungspunkte an sein Denken, auch im Zeitalter eines digitalen Kapitalismus.

Die Arbeit bleibt, die Ausbeutung auch, die Entfremdung erst recht

Wenn es um die Zukunft der Arbeit im digitalen Kapitalismus geht, gibt es zwei Grundannahmen. Die erste Annahme lautet, dass es immer weniger Arbeit gäbe. Die zweite Annahme ist, dass diese Arbeit Ausdruck von Freiheit und Selbstverwirklichung ist. Beide Annahmen sind aus unterschiedlichen Gründen falsch.

Bei Google arbeiten etwa 60.000 Menschen, bei VW hingegen 600.000. Der digitale Gigant schlechthin beschäftigt also nur zehn Prozent der Mitarbeiter, die bei einem der größten traditionellen Autokonzerne angestellt sind. Solche Vergleiche werden gerne gewählt, um aufzuzeigen, dass der digitale Kapitalismus an vielen Stellen mit ziemlich wenig Menschen im Sinne entlohnter Angestellter auskommt. Zwar sind menschliche Tätigkeiten auch für Google zentral, diese Leistungen werden aber in der Regel ohne Lohn durch Nutzer erbracht. Den Rest erledigt der Algorithmus. Zudem – so behauptet nicht nur die digitale Elite im Silicon Valley – wird diese Arbeit hier weniger als Ausbeutung denn als Selbstverwirklichung und Freiheitsausübung verstanden.

Aber, erstens geht die Arbeit nicht aus. Die schlanken Mitarbeiterzahlen der Silicon-Valley-Giganten verschweigen die hohe Anzahl derjenigen, die in ihrer Peripherie arbeiten und nicht unmittelbar zum Unternehmen gerechnet werden. Hinter den Unternehmen verbergen sich häufig Plattformen die eine sehr viel größere Anzahl von Konsumenten und Anbietern zusammenführen, als sie beschäftigen. Bisher haben sich die Prognosen, dass der Arbeitskräftebedarf im digitalen Kapitalismus sinkt, nicht bestätigt.

Zweitens spricht vieles dafür, dass das, was Marx im „Maschinenfragment“ beschrieben hat, zutrifft:. Dadurch, dass Maschinen oder Algorithmen, in denen historisches Wissen geronnen ist, die Steuerung übernehmen, kommt es immer weniger auf das Wissen des Einzelnen oder auf seine Erfahrung an. Mehr noch: Seine Autonomie geht gegen Null. Die Entfremdung nimmt weiter zu. Selbstverwirklichung sieht anders aus.

Drittens ist eine Voraussetzung für das Funktionieren des digitalen Kapitalismus eine realweltliche Infrastruktur und technische Ausstattung, die in der realen Welt mit realen Menschen erbracht wird. Die Arbeitssituationen an jenen Orten an denen die Geräte hergestellt werden mit denen wir am digitalen Kapitalismus teilnehmen verweisen darauf, dass der digitale Kapitalismus an vielen Orten der Welt im 21. Jahrhundert ebenso so düster sein kann wie im Manchester des 19. Jahrhunderts.

Im Anschluss an Marx bedeutet dies, dass die Auseinandersetzung mit Arbeit, die Reduktion auf Arbeit als eine bloße Ware wie jede andere und die problematische Entfremdung des Einzelnen gerade im digitalen Kapitalismus eine neue Aktualität gewinnt.

Am Ende denk ich immer nur an dich – Kapitalismus, global

Ein technologischer Wandel mit neuen Produktionsprozessen und -techniken alleine schafft noch keine neuen Produktionsverhältnisse.. Das Reden über den digitalen Kapitalismus kann mithin irreführend sein, indem es vorgibt, dass etwas qualitativ grundsätzlich anderes entstanden sei als der Kapitalismus, den wir seit etwa 250 Jahren kennen.

Das Streben nach Profit und höherer Produktivität führt im Konkurrenzkampf zu Innovation, wie es schon Marx beschrieben hat. Die grundlegenden kapitalistischen Mechanismen aber, bestehen auch im digitalen Kapitalismus fort, die Analysekategorien – Privateigentum, Markt, Profit, Lohnarbeit – behalten ihre Bedeutung. Nur, wer das im Blick hat, kann den digitalen Kapitalismus verstehen und gestalten.

Im Zuge der Digitalisierung erleben wir nun, dass sich einige „Quasi-Monopole“, wie das von Google oder Amazon, herausgebildet haben, die nahezu weltumspannend sind. Letztlich bestätigt auch dies die Marxsche Analyse, dass sich der Kapitalismus zunehmend transnational vollzieht und daher auch international eingehegt werden muss.

Am Ende geht es also nach wie vor schlicht um den Kapitalismus, allerdings in einem neuen Gewandt. Im Anschluss an Marx bleibt entscheidend, die Konfliktlinien und Triebfedern der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung zu fassen und sie nicht unter falschen Vorzeichen zu deuten. Es ist die kapitalistische Profitorientierung, welche auch in Diskussionen um Algorithmen-Ethik, Datenschutz oder Hatespeech in den Blick genommen werden muss. Das Bewusstsein davon, dass es bei einigen technisch und abstrakt anmutenden Debatten am Ende einfach um den Kapitalismus geht, ist wichtig für die Entwicklung wirksamer Handlungsansätze.

„Alles Ständische und Stehende verdampft“ – Die neue Landnahme des Kapitalismus 

Ein Kennzeichen des digitalen Kapitalismus ist, dass er immer weitere Bereiche unseres Lebens durchdringt und damit auch das Privateste in seine ökonomische Verwertungslogik einbezieht

Diese neue Landnahme des digitalen Kapitalismus überwindet dabei auch physische Grenzen. Einerseits, indem sie weit über nationale Grenzen hinweggeht und mit ganz wenigen Ausnahmen eine wirklich globale Dimension entfaltet. Andererseits, indem sie kurz davorsteht, auch körperliche Grenzen zu überwinden. Alles, was wir denken, fühlen und wissen, wird in Verwertungsprozesse integriert.

Mit Karl Marx lässt sich diese ständige Ausdehnung der Profitmaximierung erfassen- im Grunde keine Überraschung. „Alles Ständische und Stehende verdampft“ (Marx). Für politisches Handeln ist wichtig, dass mit dieser dynamischen Veränderung und Ausdehnung des Kapitalismus auch die altbewährten Schutz- und Einhegungsmechanismen der Arbeiterbewegung über den Haufen geworfen werden. Es kommt also im Lichte von Marx heute darauf an, der neuen Landnahme des Kapitalismus mit neuen Formen der Einhegung zu begegnen.

Bei dem Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung. Die Originalversion finden Sie hier.