Monat für Monat strömt eine Million Jobsuchender auf den indischen Arbeitsmarkt. Doch obwohl Indien seit Jahren kräftig wächst, schafft der Aufschwung keine Arbeitsplätze. Trotz großer Anstrengungen scheint es Delhi nicht zu gelingen, das ostasiatische Wirtschaftswunder zu wiederholen. Viele Probleme sind hausgemacht, doch das Beispiel Indien lässt erahnen, welche Herausforderungen die digitale Automatisierung für die Schwellenländer bringt.      

In einer Reihe asiatischer Länder, vor allem in China, steigen die Löhne. In den alten Industrieländern steigert die digitale Automatisierung die Produktivität. Schon heute nähern sich die Gesamtherstellungskosten einiger Schwellenländer denen der Vereinigten Staaten an. Schwindet der komparative Vorteil billiger Arbeitskosten, werden im Kalkül der Investoren komparative Nachteile wie Qualitätsprobleme, Fachkräftemangel, oder Industriespionage immer wichtiger. Die schrumpfende Kostendifferenz zwischen Industrie- und Schwellenländern schwächt daher die Motivation, die Produktion ins Ausland zu verlagern.  

Der export- und herstellungsgetriebene Entwicklungspfad, den viele asiatische Länder so erfolgreich beschritten hatten, droht ein Auslaufmodell zu werden.

Zugleich müssen viele Hersteller und Händler schneller und flexibler auf die Wünsche der Kunden reagieren. Die Zeit, die ein Produkt aus der Fabrik bis aufs Regal braucht, wird dementsprechend bei der Standortwahl immer wichtiger. Multinationale Großkonzerne wie Walmart, Ford oder Boeing, aber auch kleinere Unternehmen haben bereits damit begonnen, ihre Produktionsstätten näher an ihre Kunden zu verlagern. Die Reshoring Initiative, eine Nichtregierungsorganisation, schätzt, dass durch diese Rückverlagerung bereits etwa 260 000 Jobs in den Vereinigten Staaten entstanden sind.

Ob dieser Trend durch das populistische Versprechen „die Jobs nach Hause zu holen“ beschleunigt wird, oder ob nur menschenleere Roboterfabriken in die alten Industrieländer zurückkehren, wird sich zeigen. Dennoch wirft die protektionistische Stimmung in vielen Ländern die Frage auf, ob asiatische Waren weiterhin ungehindert auf den westlichen Absatzmärkten umgesetzt werden können. Der Rückzug der Vereinigten Staaten aus dem Transpazifischen Partnerschaftsabkommen zeigt, dass dieses Risiko nicht von der Hand zu weisen ist. Verflüchtigen sich zudem die strukturellen Anreize für die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland, ist es durchaus möglich, dass sich die Globalisierung verlangsamt oder gar umkehrt. Und tatsächlich wuchs im Jahr 2016 der Welthandel zum ersten Mal seit Jahrzehnten langsamer als das Bruttoweltprodukt (BWP). Der Anteil der globalen Kapitalströme am BWP schrumpft ebenso. Manche Beobachter sprechen bereits von der Desintegration der globalen Lieferketten. Asien als primärer Nutznießer der offenen Weltmärkte ist durch solche Deglobalisierungstendenzen besonders gefährdet. Asiens Volkswirtschaften werden sich also etwas einfallen lassen müssen, um ihre Exportabhängigkeit zu überwinden.  

Zusammengenommen bedeuten diese Trends, dass der export- und herstellungsgetriebene Entwicklungspfad, den viele asiatische Länder so erfolgreich beschritten hatten, ein Auslaufmodell zu werden droht. Selbstredend wirkt sich die Vierte Industrielle Revolution in den Volkswirtschaften an der Spitze, in der Mitte und am Ende der globalen Wertschöpfungskette unterschiedlich aus. Weiterhin macht es einen Unterschied, ob die Bevölkerungen weiterwachsen oder stagnieren, und wie groß die heimischen Märkte sind.

Für Indien stehen die Sterne eigentlich günstig. Der niedrige Ölpreis lässt genügend Luft für Infrastrukturinvestitionen und Konsum. Der riesige Konsumentenmarkt lockt immer neue multinationale Unternehmen an. Vor allem Japan investiert aus geopolitischer Rivalität mit China ganz gezielt in Indien. Mit seinem Überschuss billiger Arbeitskräfte wäre das Riesenland eigentlich in der Lage, um die arbeitsintensiven Industrien zu konkurrieren, die gerade aus Kostengründen aus China abwandern.

Aber selbst unter diesen rosigen Bedingungen gelingt es Indien nicht, Arbeitsplätze zu schaffen. Die nagelneuen Fabriken an den Küsten sind beinahe menschenleer, Roboter haben das Zepter übernommen. Obwohl heute mehr Investitionen denn je ins Land spülen, verliert Indien pro Tag 550 Arbeitsplätze. 

Die gebildeten, unternehmerischen und hochflexiblen Inder scheinen geradezu prädestiniert dafür, auf den informellen Märkten der digitalen Ökonomie erfolgreich zu sein. Indiens kosmopolitische Mittelschicht wird daher weiter anwachsen.

Wenn also bereits heute trotz kräftigen Wachstums keine zusätzlichen Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen, wie sieht dann eine Zukunft aus, in der Algorithmen und Roboter zunehmend menschliche Arbeit ersetzen? Die Weltbank schätzt, dass 69 Prozent aller Jobs in Indien automatisierbar seien. Außerhalb der hochkompetitiven Exportsektoren bleibt es zwar auf absehbare Zeit unwahrscheinlich, dass billige Arbeit im großen Stil automatisiert wird. Für ein Land mit einer notorischen Schwäche bei der Schaffung von Beschäftigung ist die Kombination aus starkem Bevölkerungswachstum und beschleunigter Automatisierung dennoch besorgniserregend. Bis zum Jahr 2050 werden nach Schätzungen etwa 280 Millionen Menschen auf die Arbeitsmärkte Indiens strömen. Was geschieht, wenn die Hoffnungen und Träume dieses Millionenheeres an Arbeitsmigranten enttäuscht werden und die Frustration steigt? Bereits im Jahr 2016 hat der ehemalige Präsident Indiens, Pranab Mukherjee, die von der digitalen Automatisierung ausgehende Gefahr für den sozialen Zusammenhalt Indiens klar erkannt und forderte einen Paradigmenwechsel ein. Heute ist die Debatte um das beschäftigungslose Wachstum im Zentrum der politischen Auseinandersetzung angekommen.

Indiens Regierung hofft, durch das ambitionierte Programm „Make in India“ den Anteil der fertigenden Industrien am BIP zu erhöhen und mit dem revitalisierten Herstellungssektor Arbeit für 100 Millionen Menschen zu schaffen. Aber selbst Arvind Subramanian, der Wirtschaftsberater der Regierung, ist skeptisch, ob Indien den seit Jahrzehnten sichtbaren Trend zur Deindustrialisierung tatsächlich umkehren kann. Der Ökonom Dani Rodrik hat beobachtet, dass dieser Trend vielen Entwicklungsländern zu schaffen macht. Wo die Löhne ohne Produktivitätszuwächse steigen, ziehen internationale Investoren schnell weiter. Beginnt jedoch der industrielle Motor der zurückgelassen Ökonomien frühzeitig zu stottern, kann dies den gesamten Entwicklungsprozess zum Einsturz bringen. Der internationale Wettbewerb erhöht den Automatisierungsdruck. Die von multinationalen Konzernen betriebenen Automobil- und Smartphone Fabriken werden bereits heute von Robotern bevölkert. Aber auch die indische Industrie beginnt damit, ihre Produktion zu automatisieren. Selbst wenn es also gelänge, den Anteil der herstellenden Industrie am Bruttoinlandsprodukt zu steigern, ist es zweifelhaft, ob dadurch mehr Arbeitsplätze entstehen würden.  

Die herstellenden Industrien werden also in Zukunft nicht mehr die zentrale Rolle bei der Beschäftigungsgenerierung spielen, wie sie das in der Vergangenheit getan haben. Schließt sich jedoch das historische Möglichkeitsfenster für das export- und herstellungsgetriebene Entwicklungsmodell, stellt sich die Frage, welchen Pfad Indien dann beschreiten sollte.

Die Suche nach alternativen Entwicklungsmodellen für Indien hat daher begonnen. Der ehemalige Zentralbanker Raghuram Rajan nahm die erwartete Stagnation des Welthandels zum Anlass, um für eine Konzentration der herstellenden Industrien auf dem riesigen und wachsenden heimischen Absatzmarkt zu werben. Mit dieser Strategie ließen sich auch ausländische Direktinvestitionen anlocken. Um sich trotz aller politischer Unwägbarkeiten den Zugang zu den „Märkten der Zukunft“ zu erhalten, nehmen internationale Konzerne auch steigende Löhne in Kauf. Ob diese Wette auf steigende Konsumnachfrage aufgeht, ist in einem Szenario beschäftigungslosen Wachstums allerdings fraglich.  

Solange die Mehrzahl der indischen Bevölkerung noch immer in den ländlichen Gebieten beschäftigt ist, richten sich viele Hoffnungen auf eine Reform des Landwirtschaftssektors. Allerdings zwingt die Sorge um die Ernährungssicherheit für eine bis Mitte des Jahrhunderts auf geschätzte 1,5 Milliarden Menschen anwachsende Bevölkerung dazu, die Produktivität in der Landwirtschaft zu erhöhen. Höhere Produktivität im Agrarsektor setzt aber weitere Arbeitskräfte frei, und erhöht damit den Migrationsdruck auf die explodierenden urbanen Zentren.

Angesichts seiner großen Zahl gut Ausgebildeter ist Indien in einer starken Position, um auf den globalen Dienstleistungsmärkten zu konkurrieren. Große Hoffnungen richten sich auf die Dienstleistungen rund um das Internet der Dinge und die Cyber-Security als neue Jobmaschinen. Seit langem zieht Indien Nutzen aus der Auslagerung interner Dienstleistungen, von der Telefonhotline bis zum IT-Notdienst. Heute erlauben es Plattformen wie Amazon Mechanical Turk – ein globaler Online-Marktplatz für Gelegenheitsarbeiten – individuellen Anbietern, direkt vom Lohngefälle auf dem globalen Arbeitsmarkt zu profitieren. Was in den alten Industrieländern als Lohndumping gefürchtet wird, erleben viele Inder als ihre einzige Chance, in der internationalen Arbeitsteilung Fuß zu fassen. Wenn Arbeitgeber jedoch ihre Angestellten direkt von Arbeitsmärkten mit extrem niedrigen Löhnen rekrutieren können, dann ist ein globaler Unterbietungswettbewerb die Folge, in dem nur die Anbieter mit den allerniedrigsten Löhnen bestehen können. Dieser Wettbewerb wird sich weiter verschärfen, je weiter die digitale Automatisierung von Dienstleistungen fortschreitet. Ob die globale Vernetzung der Dienstleister also wirklich die Versprechen halten kann, die sich mit der digitalen Revolution verbinden, ist daher fraglich.

Auf welche Zukunft steuert Indien angesichts dieser Tendenzen zu? Die gebildeten, unternehmerischen und hochflexiblen Inder scheinen geradezu prädestiniert dafür, auf den informellen Märkten der digitalen Ökonomie erfolgreich zu sein. Indiens kosmopolitische Mittelschicht wird daher sicherlich weiter anwachsen. Was aber geschieht mit der Milliarde Inder, die diese Fähigkeiten nicht mitbringen? Ostasiens Erfolgsformel des export- und herstellungsgetriebenen Wachstums bietet ihnen nur noch wenig Hoffnung. Welche sozialen und politischen Folgen es hätte, wenn die gegenwärtige Zukunftseuphorie in Frustration umschlägt, ist kaum auszudenken.

Indiens Schicksal wird sich daran entscheiden, ob es gelingt, so schnell wie möglich ein neues Entwicklungsmodell zu implementieren. Ob die bisher diskutierten Vorschläge wirklich funktionieren können, muss angesichts der vielen Fragezeichen offen bleiben. Indien rennt im globalen Entwicklungswettlauf die Zeit davon. Immerhin, die Vordenker und Entscheider haben die Zeichen der Zeit erkannt. Gelingt es dem Bevölkerungsgiganten, den Lebensunterhalt seiner Milliardenbevölkerung im digitalen Zeitalter zu sichern, dann ist Indien die Aufmerksamkeit der Entwicklungs- und Schwellenländer rund um den Globus sicher.