Vor einiger Zeit beschrieb der italienische „Corriere della Sera“ das deutsche Einflussgeflecht in Brüssel: Ein Netz von Beamten, gut koordiniert und in engem Kontakt untereinander, sorge dafür, dass Deutschlands Interessen nie zu kurz kämen. Dabei, so der Artikel, fühlten sich diese Beamten durchaus als gute, wenn nicht sogar als letzte „wahre“ Europäer, aufrichtige Hüter der Flamme der Integration. Was man tut, tut man nicht für Deutschland, sondern zum Wohle Europas.

Mit dieser Beschreibung hat das Mailänder Blatt das „pro-europäische“ Selbstverständnis Deutschlands ziemlich genau getroffen. Das Problem ist, dass viele andere das zunehmend etwas anders sehen. Die aktuelle Krise der europäischen Integration ist auch eine Krise der Rolle Deutschlands in diesem Prozess. Der Süden der Eurozone sieht sich als Opfer eines Berliner Austeritätsdiktats; die Osteuropäer als Opfer eines westeuropäischen Werte- und Kulturimperialismus und der Norden als Kollateralschaden einer Immigrationspolitik, die im Sommer letzten Jahres überraschenderweise das Konzept von Grenzen für überholt erklärte. Und alle leiden unter der Wirtschaftspolitik des Export-Europameisters, der ungeachtet aller Stabilitätsregeln massive Handelsbilanzüberschüsse auf Kosten von Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen im Rest Europas erzielt.

Deutschlands Eliten – und diese Tatsache gereicht ihnen durchaus zur Ehre – haben die EU immer auch als Projekt der Selbstfesselung betrachtet.

Vieles an der zurzeit artikulierten Kritik an Deutschland ist unberechtigt, vor allem wenn man die längere Strecke betrachtet. Deutschlands Eliten – und diese Tatsache gereicht ihnen durchaus zur Ehre – haben die EU immer auch als Projekt der Selbstfesselung betrachtet. Politik ist in anderen Ländern Europas weder sittlicher noch rationaler als in Deutschland, im Gegenteil. In der Euro-Krise und ihrem Management ist die Berliner Politik über viele und lange Schatten gesprungen. Dies gilt für die Rolle der Europäischen Zentralbank ebenso wie für viele andere Vertiefungsschritte der letzten Jahre, die den Weg in die „Transferunion“ in großer Geschwindigkeit abgeschritten sind. Und auch die Austeritätspolitik ist letztlich weit mehr der Ideologie der „Märkte“ geschuldet als der Verstocktheit deutscher Beamter in Brüssel oder Berlin: Die Südschiene der Eurozone weiß genau, was mit den Zinsen für ihre Staatsanleihen passieren würde, wenn sie sich ohne solche Politiken auf den Finanzmärkten bewegen würde. Noch nicht einmal den Euro hat Deutschland durchgesetzt – sondern Frankreich, dessen Industrie heute unter der Last einer für das Land überbewerteten Währung langsam in die Knie zu gehen droht.

Diese grundsätzliche Feststellung gilt allerdings nicht für die Flüchtlingskrise der letzten Monate. Hier ist etwas Größeres passiert: Die Egozentrik, mit der sich Deutschland beim Management der selbst mit losgetretenen „Flüchtlingslawine“ (um im Sprachbild des Bundesfinanzministers zu bleiben) über die Interessen und Probleme vieler Partnerländer hinwegzusetzen versuchte, trug gelegentlich Züge von politischem Autismus. Das Schengen-System ist nur eines der Opfer dieser Entwicklung. Mit Deutschland als „rationalem“ Hegemon konnten viele Länder leben. Mit einem als egozentrisch und irrational wahrgenommenen nicht. Hier wurde in wenigen Monaten ein politisches Vertrauenskapital verbraucht, das über Jahrzehnte angehäuft worden war.

Die europäische Integration wird längere Zeit brauchen, um sich von dieser Entwicklung zu erholen, die nicht nur Deutschlands Ansehen, sondern auch die Autorität der Brüsseler Institutionen beschädigt hat. Am deutschen Wesen, das ist sicher, wird Europa so schnell nicht genesen. Im Gegenteil: Im Eiltempo geht gerade eine Periode deutscher Dominanz zu Ende, die ohnehin nicht dauern konnte. Denn sie war weniger der Stärke Deutschlands als der Schwäche seiner Partner geschuldet: Gefangen in tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krisen spielten in den letzten Jahren weder Frankreich noch die anderen größeren EU-Länder ihre traditionelle Rolle als balancierende Partner der deutschen „Mittelmacht“. Es wäre in niemandes Interesse, wenn das so bliebe. Aber dies bedeutet auch, dass der EU auf längere Zeit eine Art Ordnungsmacht fehlt, die für Richtung und Koordinierung sorgen kann.

Mit Deutschland als „rationalem“ Hegemon konnten viele Länder leben. Mit einem als egozentrisch und irrational wahrgenommenen nicht.

Dennoch könnte die aktuelle Krise tatsächlich eine Chance für die EU sein. Aber dafür wäre es notwendig, ernsthaft darüber nachzudenken, was hier – neben der deutschen Dominanz „by default“ – gerade an seine Grenzen gerät. Das ist nicht die Europäische Union an sich und auch nicht eine spezifisch nationale, gar etwa deutsche Vorstellung davon. Es geht vielmehr um eine paneuropäische, in vielen Ländern geteilte Elitenideologie: ein EU-Zentralismus, der keine Grenzen, keine Identitäten und keine Volkswirtschaften außer der europäischen mehr (an)erkennen möchte und der sich sicher ist, dass man nur den nationalstaatlichen Sand aus dem Getriebe der europäischen Technokratie auskehren müsste, dann würde alles besser und effizienter laufen.

Es ist dieser Zentralismus, der derzeit an sich selbst scheitert. Er kann einem extrem vielfältigen Kontinent, mit höchst unterschiedlichen wirtschaftlichen, sozialen, politischen, kulturellen und demographischen Realitäten nicht gerecht werden – weder politisch noch kulturell noch ökonomisch. Was in einem Land mit sieben Prozent Jugendarbeitslosigkeit wie Deutschland sinnvoll sein kann, muss es in einem Land mit 40 Prozent wie Italien noch lange nicht sein: One size doesn’t fit all.

Nur noch 37 Prozent der Europäerinnen und Europäer, so eine aktuelle Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung, assoziieren die EU mit wachsendem Wohlstand, 57 Prozent aber mit dem Gegenteil davon. Es wird, im Interesse Europas und seiner Bürgerinnen und Bürger, Zeit für einen Plan B. Auch hier liegt – einmal mehr – der Schlüssel in Berlin.