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Die Debatte um Flucht und Migration ist weiterhin aufgeheizt, obwohl die Zahl der ankommenden Geflüchteten innerhalb der EU abnimmt. Dabei geht auch begrifflich einiges durcheinander. Nicht nur werden Asyl- und Schutzsuchende oft pauschal zu ‚illegalen Migranten‘ erklärt, auch die nach internationalem Recht (und moralisch) gebotene Seenotrettung wird zunehmend kriminalisiert und als sogenannter ‚Pull-Effekt‘ bezeichnet. Doch nicht nur die Seenotrettung, sondern jeder Vorschlag, der für beide Seiten – die aufnehmende Gesellschaft und die ankommenden Schutzsuchenden – gut wäre, scheint momentan aus Angst vor diesen vermeintlichen Pull-Effekten nicht umsetzbar. Viele politische Akteure sind offenbar von der impliziten Annahme getrieben, jede gute Regelung schaffe einen weiteren Anreiz für mehr Migration.

Das Paradox der Debatte ist, dass man sich über zu viele und gleichzeitig über zu wenige Migrantinnen und Migranten beklagt. Dabei ist es für viele europäische Städte und Gemeinden wichtig, Wege zu finden, den demographischen Wandel abzuschwächen und Fachkräfte für ihre Wirtschaft zu gewinnen. Insbesondere die Fluchtzuwanderung seit 2016 wurde deshalb von vielen Städten begrüßt. Zum Beispiel konnte die Kleinstadt Altena in NRW durch die zusätzliche Aufnahme von Geflüchteten ihre Einwohnerzahlen stabilisieren und das kleine Dorf Golzow in der Uckermark seine durch einen Langzeitdokumentarfilm bekannte Dorfschule erhalten, die sonst geschlossen worden wäre.

Darüber hinaus zeigt das Angebot zahlreicher Städte und Gemeinden, Geflüchtete freiwillig aufzunehmen, dass viele Kommunen sich durchaus für das Gemeinwesen in Deutschland und Europa zuständig fühlen und Europas humanitären und menschenrechtlichen Verpflichtungen nachkommen wollen. Die deutschen Städte sind hier nicht allein, auch andere europäische Städte wie Barcelona, Danzig, Neapel und Palermo haben deutlich gemacht, dass sie weiterhin bereit sind, Geflüchtete aufzunehmen.

Die Bereitschaft zur freiwilligen Aufnahme der europäischen Städte und Gemeinden hat noch einmal mehr Gewicht bekommen, seit Italien und Malta das Anlegen von Schiffen mit aus Seenot Geretteten davon abhängig machen, ob es eine Zusage für die Verteilung und Aufnahme (die sogenannte ‚Relocation‘) der ankommenden Menschen gibt. Das Schließen der Häfen ist weder mit internationalem noch mit EU-Recht zu vereinbaren, da eine Rückführung nach Libyen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verletzt und den Schutzsuchenden nach EU-Recht der Zugang zu einem Asylverfahren gewährt werden muss. Gleichzeitig stellt die aktuelle europäische Rechtslage (insbesondere die Dublin-Verordnung) die EU-Außengrenzstaaten vor eine große Herausforderung, da sie als Ersteinreisestaaten faktisch für den Großteil aller Asylverfahren zuständig sind.

Die ungleiche Lastenteilung und fehlende Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten ist seit langem bekannt und zentraler Zankapfel in den Verhandlungen über eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Schon 2016 wurde eine Reform des GEAS angestrebt und 2017 noch einmal bekräftigt. Trotz drei Jahren Verhandlung mit Reformvorschlägen des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission konnte der Europäische Rat sich jedoch bisher nicht auf eine Reform verständigen.

Vor dem Hintergrund dieser Reformblockade hat sich die Anlandungs- und Ausschiffungskrise der Seenotrettungsschiffe im zentralen Mittelmeer immer mehr zugespitzt, da für jedes ankommende Schiff die Aufnahme und Verteilung der Schutzsuchenden auf verschiedene Mitgliedstaaten durch die EU-Kommission und die Innenminister der EU-Mitgliedstaaten neu ausgehandelt werden muss. Diese zugespitzten ad-hoc Verhandlungen verstärken noch den Eindruck einer vermeintlichen ‚Flüchtlingskrise‘ und lenken den Blick ab von mittel- und langfristigen Lösungskonzepten.

Deshalb hat die organisierte Zivilgesellschaft in Deutschland schon im April 2019 in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin gefordert, dass sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene für einen verlässlichen Verteil- und Aufnahmeschlüssel für die im Mittelmeer geretteten Schutzsuchenden einsetzen sowie den Kommunen, die Aufnahmebereitschaft signalisiert haben, diese auch ermöglichen sollen. Der offene Brief baut auf einem Vorschlag des Europäischen Rats für Flüchtlinge und Exilierte (ECRE) auf. Dieser schlägt ein mittelfristiges ‚Relocation‘-Verfahren mit einer Koalition von hilfsbereiten EU-Mitgliedstaaten vor, welches vom Asylunterstützungsbüro EASO koordiniert und unter Anwendung der Humanitären Klausel in der Dublin-Verordnung eine Übernahme der Asylverfahren aus dem EU-Außengrenzstaat erlauben würde.

Langfristig gibt es keine Alternative zu einer grundlegenden Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Da jedoch die Positionen der Mitgliedstaaten verhärtet sind, was die Aufnahme und Verteilung der Schutzsuchenden betrifft, lohnt es sich, auch an dieser Stelle die Städte und Gemeinden enger in den Blick zu nehmen. Anstelle einer obligatorischen Verteilungsquote auf der Ebene der Mitgliedstaaten könnten die aufnahmebereiten Mitgliedstaaten ihren Städten und Gemeinden eine Aufnahme erlauben.

Die Städte und Gemeinden könnten ihre Bedarfe (Ausbildungsplätze, Wunsch nach Familien mit Kindern, etc.), aber auch Potentiale (Willkommenslotsen, interkulturelle Projekte, schon bestehende Verbindungen zu Herkunftsländern, etc.) auf einer Plattform einspeisen. Schutzsuchende könnten, nachdem sie registriert wurden und Zugang zum Asylverfahren bekommen haben, eine Abfrage ihrer eigenen Präferenzen ausfüllen. Nach einem Abgleich der Präferenzen von Kommunen und Schutzsuchenden könnten Schutzsuchende aus den Treffern (‚matches‘) eine Kommune auswählen.

Bei solch einem ‚Matching-Verfahren‘ geht es nicht darum, die am besten vermittelbaren Menschen in den Kommunen unterzubringen. Vielmehr könnten die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Kommunen und Menschen genutzt und auch die gegenseitigen Erwartungen sichtbar gemacht werden. Eine kleine, eher ländlich geprägte Kommune, die dringend neue Einwohnerinnen und Einwohner sucht, kann durchaus attraktiv gegenüber einer Großstadt sein, wenn sie Geflüchtete willkommen heißt und aktiv Teilhabe ermöglicht. Genauso wie nicht jeder in Deutschland unbedingt in die Großstadt ziehen möchte, sind auch die Präferenzen der Schutzsuchenden divers. Die Natur, eine gute Schule für die Kinder und eine Gemeinschaft, in der man sich willkommen fühlt, machen auch ländliche Gemeinden attraktiv.

Zudem könnte Europa die freiwillige Aufnahme der Städte und Gemeinden durch eine Investitionsinitiative stärken. Diejenigen Kommunen, die zur Aufnahme bereit sind, sollten die Kosten der Aufnahme und Integration direkt von der EU erstattet bekommen und als zusätzlichen Anreiz noch Mittel in gleicher Höhe für die eigene kommunale Entwicklung. Die EU könnte dafür im nächsten mittelfristigen Finanzrahmen 2021-2027 (MFR) einen Fond auflegen und daraus die europäischen Kommunen direkt finanzieren. Das wäre gerecht und solidarisch, da dann diejenigen Kommunen, die mehr Verantwortung übernehmen, auch die finanziellen Mittel dafür hätten.

Zudem könnte es die Städte und Gemeinden nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell wiederbeleben, da z.B. Mittel für Kulturprojekte zur Verfügung stünden. Außerdem könnte es eine positive Dynamik innerhalb der europäischen Regionen auslösen. Wenn einige Städte mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, dass die gesamte Gemeinde – Ansässige und Neuankommende – profitiert, dann ziehen andere Städte eher nach oder üben Druck auf ihre Regierung aus, ihnen auch eine Aufnahme und damit Zugang zu EU-Mitteln zu ermöglichen.

Die Bewerbung auf die Mittel aus solch einem EU Integrations- und Investmentfond könnte von einer lokalen Partizipationsoffensive flankiert werden. Beratende Multi-Stakeholder-Beiräte auf lokaler Ebene könnten in einem deliberativen Verfahren eine Empfehlung erarbeiten, ob aufgenommen werden soll und wie die Gemeinde die Integration der Neuankommenden am besten ermöglichen kann. Durch die Einbindung der verschiedenen Stakeholdergruppen auf lokaler Ebene hat die Empfehlung zur Aufnahme eine breite Legitimation. Zudem wird die Verantwortung gemeinsam getragen, da sich viele verschiedene Akteure beteiligen. Durch die Entscheidung, was mit den zusätzlichen Mitteln geschehen soll, kommt die Gemeinde zudem in eine Entwicklungsperspektive. Die Aufnahme und Integration von Geflüchteten ist hier zwar wichtiger Bestandteil, das Hauptaugenmerk liegt jedoch darauf, wo man als Gemeinde gemeinsam hinsteuern möchte.

Europa braucht dringend eine solche mittel- und langfristige Strategie, die die Ankunft von Schutzsuchenden nicht als Bedrohung und Krise versteht, sondern als Chance für eine nachhaltige Entwicklung. Diese Strategie sollte Europa von unten durch Investitionen und mehr Partizipation auf lokaler Ebene beleben, anstatt eine Externalisierung der EU-Migrations- und Flüchtlingspolitik anzustreben, die EU-Mittel außerhalb Europas investiert und weder humanitär noch nachhaltig ist. Die einseitige Versteifung auf das Verhindern von Migration vergiftet die Beziehung zu den Ländern Afrikas. Verhandlungen über künftige Handels- und Wirtschaftsbeziehungen sollten auf Augenhöhe geführt werden, anstatt diese an eine Bereitschaft zur Migrationskontrolle zu knüpfen. Europa kann es sich nicht leisten, seine Werte im Mittelmeer ertrinken zu lassen, denn – in den Worten Leoluca Orlandos, Bürgermeister von Palermo – „Menschenleben in Seenot retten heißt: unsere Menschlichkeit retten!“.